„Sehr geehrter Herr Landesbischof,
für das anregende und konstruktive Gespräch von vorhin möchte ich mich bedanken. Es hat mir gut gefallen.“
Zwischenbemerkung für die Leser meines Blogs. Nach einem Vorlauf auf Twitter rief mich ein Landesbischof vor ein paar Tagen an. Den Termin hatte sein Büro mit mir abgesprochen. Terminiert war eine halbe Stunde. Der Zeitrahmen wurde leicht überzogen, obwohl ihn der nächste Termin drängte. Ich will kurz über dieses wirklich angenehme Gespräch berichten und hier mein Mail posten, das ich ihm noch am selben Abend schickte. Dabei habe ich alle Hinweise auf die Identität des Bischofs entfernt, denn ich möchte nicht, dass er sich öffentlich unter Druck gesetzt fühlt.
Der Landesbischof erwies sich als guter Zuhörer, der auch an den passenden Stellen nachfragte.
Ein anderer Landesbischof, so eröffnete ich, habe im Gespräch mit einem Betroffenen gesagt: „Wir hätten mehr auf unsere Leute hören sollen“. Insofern habe ich mich über seinen Anruf gefreut. Ich sprach dann vom Vertrauensverlust der Kirchen, dessen Beginn ich in den Vorgängen am Runden Tisch der Frau Vollmer sehe, der nachweislich von Beginn an Betrug gewesen sei. Ich sei schon lange mit dem Thema befasst. (Ich muss das hier nicht ausführen; die Leser meines Blogs kennen das.) Es habe leider keine glaubwürdigen Versuche seitens der Kirchen gegeben, Vertrauen wiederherzustellen. Ein Betroffener habe das Verhalten der Kirche auf die Formel gebracht: Kinder schänden, Zeit schinden, Kassen schonen. Ich konnte ihm auch Details benennen.
Die Zeit wurde dann aber doch knapp. Zum Schluss sprach ich noch ein paar Punkte für das weitere Prozedere an, die ich, falls sie untergegangen sein sollten, im Mail an den Bischof wiederholt und etwas ausgebaut habe.
Im Mail ist auch von der Unabhängigkeit der berufenen Kommissionen die Rede. Wenn man schon solche Kommissionen hat, deren Unabhängigkeit begründet bezweifelt werden kann, wird man nicht einfach die problematischen Mitglieder entfernen können, aber man muss offen die vorhandenen Abhängigkeiten diskutieren – und mancher wird dann seinen Platz freiwillig räumen und Nachrückern Platz machen.
Nun zum Mail[1] mit den genannten Einschränkungen:
Was tun?
Das Wichtigste wäre eine Kommission, die wirklich und nach außen erkennbar unabhängig ist. [2]Die Mitglieder dürfen keine besondere Verbindung zur Kirche haben, dürfen nicht im Dienst der Kirche stehen/gestanden haben, sollten auch kein kirchliches Ehrenamt bekleiden.[3] Mitglied sollte eine externe Fachperson sein, die sich mit Traumata und Retraumatisierung auskennt und Erfahrungen im Umgang mit traumatisierten Menschen hat. Diese Person sollte bei der Zusammensetzung der Kommission beteiligt sein, insbesondere bei der Auswahl der Betroffenen, die für Beschlüsse ein Veto-Recht bekommen. Die Sitzungen sollten protokolliert werden und die Protokolle der Zustimmung aller bedürfen. Protokolle müssen öffentlich einsehbar sein unter Beachtung des Datenschutzes für die Opfer. Die berufliche Rolle der Täter bedarf keines allgemeinen Datenschutzes. Täternamen zur Kenntnis zu geben, die wiederum muss über ihre daraus folgende Aktivität/Nichtaktivität der Kommission berichten. Diese Berichte müssen der Öffentlichkeit zugänglich sein, mit Schwärzung der Namen, nicht der Funktion der beschuldigten Personen. So viel zur Transparenz.
Ich empfehle, für interne Beratungen eine erfahrende Person aus der Notfallseelsorge auszuwählen oder einen Traumatherapeuten, insbesondere, wenn es darum geht, in Kontakt zu weiteren Betroffenen zu treten und von ihnen Auskünfte über Tatvorgänge einzuholen. Das darf man keinem Juristen überlassen. Die kommen aus einer anderen Denkschule. Ich habe das oft erlebt, wenn ich Juristen mit Sozialarbeitern oder Psychologen zusammenbrachte, so auch in meinem Kriminologiestudium. Da saß ich Ruheständler unter lauter angehenden Juristen, die sich wunderten, dass man einen Sachverhalt (es ging um Stalking) „auch so“ sehen kann; schon meine Sprache war für sie „ungewöhnlich“.
Wir haben in der Kirche zwar die erforderliche Seelsorgeerfahrung, dürfen sie aber nicht anbieten, denn wir sind die Täterseite. Das gilt auch für unsere Beratungsstellen. Solche Hilfsangebote müssen von außen kommen.
Schwierig wird die Bemessung von Entschädigungen, gerade bei sexuellem Missbrauch. Ein Verweis auf Schadensregelungen im staatlichen Bereich hilft nicht, denn dieser Staat ist beim Thema Entschädigung sehr hartleibig. Mit Sachschäden kommt er klar. Aber seelische Schäden – kennt er die überhaupt? – (Ich wollte eigentlich nicht aus meinem Blog zitieren, hier tue ich‘s doch: „Selbstsicher und verantwortungsbewusst sollen unsere Kinder ins Leben gehen – Manchmal geht das schief. [„Eigenstandsschaden“], https://dierkschaefer.wordpress.com/2020/11/20/selbstsicher-und-verantwortungsbewusst-sollen-unsere-kinder-ins-leben-gehen-manchmal-geht-das-schief/) – Dem kann man zwar keine „Gliedertaxe“ wie im Versicherungsrecht entnehmen, doch hier wird der Horizont für Schädigungen und ihre Auswirkungen aufgezeigt. Das könnte helfen, zu angemessenen Einschätzungen zu kommen. Dafür braucht man dann eine separate Kommission: unabhängig, fachkundig, empathisch.
Soweit ich weiß, hat die Landeskirche Berichte derer, die einen Antrag auf Anerkennungsleistungen gestellt haben. Die Auswertung dieser Berichte könnte/sollte man wissenschaftlich aufarbeiten, dokumentieren, und die Ergebnisse anonymisiert zugänglich machen. Sie könnten einen Anhalt für Entschädigungsfragen geben.
Ob man den Staat gewinnen kann, eine richterliche Untersuchungskommission zu installieren, die staatsanwaltliche Befugnisse hat und allen Fällen auf den Grund geht, auch den schon verjährten, bezweifele ich, denn der Staat hat in der Heimkindersache auch „Dreck am Stecken“ und wird sich seiner Mitverantwortung nicht stellen wollen. Die Verjährung wurde geschaffen, damit Streit auch gegen den Willen Betroffener ad acta gelegt werden kann. Wir haben es mit der Behandlung von Heimkindern mit dem größten „flächendeckenden“ Verbrechen seit 1945 zu tun. In einem solchen Fall braucht es andere Maßnahmen, um Rechtsfrieden wieder herzustellen. Das gilt auch für die nun als endemisch anzusehenden sexuellen Verbrechen an Kindern in Familien und Institutionen.
Die Frage nach den Kosten will ich nicht unterschlagen. Am Runden Tisch saßen drei weitgehend unbedarfte Heimkinder einem Gremium von ganz und gar nicht unbedarften Interessenvertretern gegenüber. Die einen hatten keinen Etat und keine Rechtsberatung, die anderen saßen in ihrer Dienstzeit am Runden Tisch und hatten einen Apparat im Hintergrund. (Über Frau Vollmer schweige ich mich jetzt aus.) Wer an der Unabhängigen Kommission teilnimmt, wird – da sie ja unabhängig sein soll – dies nicht in seinen dienstlichen Verpflichtungen unterbringen können. Das heißt: Alle brauchen neben den Spesen ein angemessenes Sitzungsgeld, auch die Betroffenen, selbst wenn sie keinen Verdienstausfall haben. Die Betroffenen sollten sich auf eine angesehene Anwaltskanzlei einigen, die sie berät. All diese Kosten müssen zulasten der Landeskirche gehen.
So viel, sehr geehrter Herr Landesbischof, zum Abschluss unseres Gespräches. Ich hatte gesagt, ich könnte Sie mit meinem Material „totwerfen“. Der Versuchung bin ich wohl nicht erlegen.
Ich wünsche Ihnen „ein gutes Händchen“ im Umgang mit dem höchst komplexen Problem und würde mich freuen, wenn Ihre Landeskirche eine glaubwürdige Vorreiterrolle einnehmen könnte.
Mit herzlichem Gruß
Dierk Schäfer, Freibadweg 35, 73087 Bad Boll, Tel: 0 71 64 / 1 20 55
[1] Von diesem Blog-Eintrag habe ich den Landesbischof informiert. Das Photo ist ein Beispielsphoto.
[2] Nicht im Mail enthalten: Ein Kommentar erwähnt „unabhängige Wahrheits- und Versöhnungskommissionen“. Das sollte man nicht vermengen. Der Weg zur Versöhnung ist noch viel weiter, als der zur Wahrheit – und auch dort sind wir noch lange nicht angelangt. FAZ, Donnerstag, 10. Juni 2021, Print, https://zeitung.faz.net/faz/seite-eins/2021-06-10/805736e074e898e4d15ba4aa00177925/?GEPC=s3
[3] Auch nicht im Mail enthalten: Mertes fragt: „Wie ist es möglich, dass in Betroffenenbeiräten Personen sitzen, die in einem Angestellten-, das heißt wiederum in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Kirche sind, die ihr Arbeitgeber ist?“ https://www.deutschlandfunk.de/missbrauchsaufarbeitung-im-erzbistum-muenchen-gruppenbild.886.de.html?dram:article_id=498260
Die Behörden setzten noch am Montag Seelsorger ein, um Angehörige und Nachbarn zu betreuen[1]. – Wo kommen die bloß her, die Seelsorger?
Notfallseelsorger stellen die Kirchen bereit. Sie arbeiten aus innerer Berufung nebenberuflich und schreiben keine Rechnungen.
Die Kirchen stehen zurzeit massiv unter Druck – und das mit Recht. Zu schwer wiegen die Verbrechen von Misshandlungen und Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen, zu schwer wiegt der mafiöse Zusammenhalt bei der Vertuschung dieser Verbrechen, zu widerlich sind die Abwehrmaßen von berechtigten Entschädigungsleistungen. Das ist die eine Seite, die mich enorm bedrückt und verärgert. Kirche sollte anders sein.
Die andere Seite verärgert mich nur. Für manche ist Religosität als solche ein Ärgernis Die wollen nicht – auch nicht passiv – davon Kenntnis nehmen und halten schon die Erkennbarkeit von religiösen Einstellungen für eine Provokation. Natürlich gehören religiöse Zeichen nicht in Diensträume, es sei denn, es handelt sich um Zeugnisse aus der architektonischen Geschichte dieser Baulichkeiten. Doch ich vermute, so manchen Zeitgenossen steht auch dort der Sinn nach Bildersturm analog zur französischen Revolution.
Apropos: die „laïcité negative“ in Frankreich[2] gilt diesen Leuten als erstrebenswertes Vorbild, wenn sie sich dort auch als spezielles Integrationshindernis für Muslime erwiesen hat.[3] Erst kürzlich hat Prof. Zulehner „Das Kopftuchverbot in Schulen – eine religionspolitische Falle“ genannt[4], und er hat Recht damit.
Nun zu den oben genannten Seelsorgern. Wer von den radikalen Religionskritikern übernimmt denn solche Aufgaben? Ich rede jetzt nicht von den Sozialkonzernen der Kirchen, die finanzieren sich selbst, was ja auch in Ordnung ist. Nein, ich meine die unbezahlten[5] – und wohl auch unbezahlbaren Dienste der Kirchen und ihrer Pfarrer an die Einzelnen in Not: Telefonseelsorge, Notfallseelsorge, dazu gehören auch die Polizeiseelsorge[6]
und ökumenische Gottesdienste zu staatlichen Traueranlässen. All dies erfolgt, von möglichen Ausnahmen abgesehen, ohne missionarische Absichten. In unserem Buch über „Polizisten im Umgang mit Trauer und Tod“[7] haben wir einen Anwendungsfaden[8] zur „Überbringung von Todesnachrichten“ veröffentlicht und in aller Selbstverständlichkeit auch den Umgang mit Angehörigen muslimischen Glaubens berücksichtigt.
Nun meine Frage: Wo bleiben sie denn, die seelsorglichen Dienste unserer Kirchen- und Religionskritiker? Oder ist schon diese Frage eine Provokation, weil von einem Pfarrer gestellt?
Unterstützung bei diesen Aufgaben könnten wir gut gebrauchen. Wir bekommen sie bereits für die Notfallseelsorge von den Einsatzkräften in Feuerwehr und anderen Sozialdiensten mit Blaulicht. Die nehmen unsere Zusammenarbeit und die Ausbildungsangebote der kirchlichen Notfallseelsorger gerne an. Wohl kaum jemand von ihnen träumt allerdings davon die Kirchen auszuradieren.
Fußnoten
[1] Die Frage stellt die FAZ gar nicht erst in ihrem heutigen Artikel über vier Tote „nach mutmaßlicher Beziehungstat in Jena.“ Auch die FAZ geht davon aus, dass die Seelsorger einfach parat stehen. Meldungen dieser Art gibt es fallbezogen mit gewisser Regelmäßigkeit.
[2] Dierk Schäfer, Laizismus als Lösung vieler Probleme? https://dierkschaefer.wordpress.com/2015/01/28/laizismus-als-losung-vieler-probleme/
[3] »Die Ausgangsfrage war jedoch die Einbindung von Religion in Staat und Gesellschaft. Im Unterschied zu Frankreich werden in Deutschland die Ressourcen der Konfessionen vom Staat genutzt. Dass sich dies nicht immer zum Vorteil der Kirchen und ihrer Einrichtungen ausgewirkt hat, habe ich in meiner Rezension zu „Himmelsthür“ dargelegt[10]. Zu dieser „hinkenden Trennung von Staat und Kirche“[11], wie die Fachleute den Zustand bei uns nennen, gibt es viel zu sagen, wie schon vielfach auch in diesem Blog geschehen, kritisches wie positives. … generell läßt sich wohl sagen, dass Christen sich in diesem Staat gut aufgehoben erleben und Mitspracherecht haben. Es wäre ein Fortschritt, wenn das auch die Muslime so sehen könnten, die sich an die staatlichen Gesetze halten – und das ist die überwiegende Mehrzahl. Aber nur so läßt sich der Islam in unsere plurale Gesellschaft einbinden und nur so wird die Umma[12] auch der clamheimlichen Sympathie mit Gewalttätern aus ihrer Mitte den Nährboden entziehen können. Frankreich mit seiner laïzistischen Staatsreligion hat das nicht geschafft. Es ist übrigens lehrreich und geradezu erheitend zu lesen, wie die Trinität von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit in Anlehnung an das religiöse Vorbild sich herausgebildet hat.[13] Man meint aber, die muslimisch erzogenen Kinder der Banlieue mit noch mehr staatsbürgerlichem Patriotismus fesseln zu können. Doch sie sind die Kinder „D’OUTRE MER“[14] und pfeiffen auf die Marseillaise.« — Die hier auftauchenden Links sind nachzulesen in: https://dierkschaefer.wordpress.com/2015/02/01/laizismus-als-losung-vieler-probleme-anscheinend-nicht-hatte-ich-argumentiert/
[4] https://zulehner.wordpress.com/2018/11/19/das-kopftuchverbot-in-schulen-eine-religionspolitische-falle/
[5] Letztlich werden sie über die vielbeklagte Kirchensteuer bezahlt, die auch auf der Abschussliste steht, wobei die meisten nicht wissen, dass der Staat für die Dienstleistung des Kirchensteuereinzugs bezahlt wird, und zwar höher, als es inzwischen, in Zeiten der elektronischen Datenverarbeitung angemessen ist.
[6] Emblem der Kirchlichen Arbeit in der Polizei.
[7] Dierk Schäfer, Werner Knubben, … in meinen Armen sterben?, Polizisten im Umgang mit Trauer und Tod – Zwischen Hilflosigkeit und Routine, Hilden 19962, S. 299f
[8] Dieser Anwendungsfaden wurde als sehr hilfreich empfunden und als Faltblatt „Erste Hilfe – Letzte Hilfe, Sie haben eines Todesnachricht zu überbringen“ in großer, für uns nicht mehr überschaubarer Zahl nachgedruckt. Wir hatten der Landespolizeidirektion Tübingen das © überlassen.
„Was ist das für eine dreckige Welt. Ich habe noch nie so eine schlimme Geschichte gehört.“
Das erzählt der Regisseur Marc Brummund über sein Spielfilmdebüt „Freistatt“ und die Misshandlungen in einer kirchlichen Fürsorgeanstalt.[1]
Extrem schlimme Geschichten – wie wappnet man sich dagegen?
Er sagt im Interview: „Ich habe versucht, mir einen Schutzmantel anzuziehen, damit es mir persönlich nicht zu nahe kommt“.
Schutzmäntel gibt es verschiedene. Ich selber war mit vielen schlimmen Geschichten konfrontiert, als Polizeipfarrer, später mit dem Thema Notfallseelsorge[2], noch später mit den Heimkinderangelegenheiten. Als Pfarrer muss man in der Lage sein, von einem Trauergespräch kommend ein Traugespräch zu führen. Und dies ohne Schauspielerei. Man muss in beiden Fällen dicht bei den Leuten sein, so schlimm die Trauer der einen und so zukunftsfreudig die Stimmung der anderen auch sein mag. Warum ich das konnte, das Einstimmen in die Situation und auch das echte Mitfühlen, das weiß ich nicht. Vielleicht habe ich als Kind zu oft und zu viele schlimme Geschichten gehört. Von schlimmen Geschichten geht ja auch eine gewisse Faszination aus. Wer sie konsumierend goutiert, ist widerlich. Man muss also schon genau hinschauen und sich einfühlen können.
Der Regisseur Marc Brummund zeigt sich fasziniert von der „Diskrepanz zwischen der neuen Bewegung der 68er, Liberalisierung in Politik, Sexualität, Rockmusik – und innen drin in dieser Gesellschaft haben sozusagen die Nazis weitergemacht.“ Es gibt auch einen persönlichen Bezug. „Freistatt“[3], lag im Moor bei Diepholz, „wo ich geboren und bis zum zehnten Jahr aufgewachsen bin, und auch als Schüler Ausflüge in genau dieses Moor gemacht habe. Das hat mich wahnsinnig berührt und bewegt, als ich mir vorgestellt habe: Irgendwo hier haben vor noch nicht langer Zeit Kinder und Jugendliche ganz heftig gelitten.“ Aber: „Ich habe versucht, mir einen Schutzmantel anzuziehen, damit es mir persönlich nicht zu nahe kommt“. Ob ihm der Versuch geglückt ist?
Ich erinnere mich an einen Zeitungsreporter. Er musste für seine Zeitung auch die schlimmen Verkehrsunfälle aufnehmen. „Ich war froh“, erzählte er, „dass ich zwischen dem Geschehen und mir die Kamera hatte“. So ein Foto-Objektiv kann tatsächlich „objektivieren“.
Und wer zufassen muss? Der Leichensachbearbeiter der Mordkommission, der Sanitäter, der Anatom? Ich habe mit vielen gesprochen.[4] Die Kripo zeigt sehr schnell die Bildmappen, Fotos, die nicht an die Öffentlichkeit kommen dokumentieren grauenvolle Details. Die Botschaft: „Schau her, das ist mein Job.“ Einer sagte, seine Hände vorzeigend: „Wenn meine Frau wüsste, was die anfassen, dürfte ich sie nicht mehr anfassen.“ Ein anderer, wir standen am Fenster und sahen einen Bauern am Pflug: „Der hat es gut, der kann was wachsen lassen, aber wir …“. Ein anderer kam von einer Leiche, die rund zwei Wochen im Wasser gelegen hatte, mehrere Stunden Arbeit im Regen. Er war sichtlich froh, dass ich in seiner Gegenwart das Gespräch mit den Eltern übernahm.[5]
Einen Schutzmantel anziehen – Der Regisseur sagt: „Ich glaube, wenn man liest, worum es geht, denken viele: Das tue ich mir nicht an.“ Ich tue meinen Kollegen vielleicht unrecht. Aber ich habe den Eindruck, dass sie einen Bogen um die schlimmen Geschichten der ehemaligen Kinder in kirchlichen Heimen machen. Bei mir jedenfalls fragt niemand nach. Wenn ich das Thema anspreche, ist man eher peinlich berührt oder wehrt ab.Vielleicht muss man die „Stories“ anders aufbereiten und einen Film draus machen wie Marc Brummund: „Die Resonanz von denen, die den Film gesehen haben, war Begeisterung und eine große Gebanntheit. Wahrscheinlich wird man danach mit einem Schlucken rausgehen. Es ist inhaltlich die ganz harte Kost. Aber in einer Art und Weise erzählt, dass man sagen kann: Das kann man sich angucken.“
O.k., das ist sein Film und wir können ihn uns angucken. Aber was dann?
[1] http://www.choices.de/das-war-bis-mitte-der-70er-gang-und-gaebe
[2] https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2015/03/notfallseelsorge2.pdf
[3] Man assoziiert unwillkürlich „Arbeit macht frei“. Wer bei diesem Slogan nicht an Auschwitz denkt, der lese bei Wiki nach: https://de.wikipedia.org/wiki/Arbeit_macht_frei , dort steht auch mehr, als ich bisher wusste. So wird das „Dachaulied“ genannt http://www.literaturepochen.at/exil/multimedia/pdf/soyferdachaulied.pdf , doch im Kontext von Freistatt passen die „Moorsoldaten“ besser. Es lohnt sich, nachzulesen: https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Moorsoldaten , der Text: http://www.volksbund.de/fileadmin/redaktion/BereichInfo/BereichPublikationen/Friedenserziehung/Handreichungen/0095_Moorsoldaten_lied.pdf
[4] mehr zum Thema: Dierk Schäfer und Werner Knubben, in meinen Armen sterben? – Vom Umgang der Polizei mit Trauer und Tod. VDP-Sachbuch
[5] https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2015/03/notfallseelsorge1.pdf
Notfallseelsorge …
… ist das wohl letzte unumstrittene volkskirchliche Angebot in unserer sich immer mehr säkularisierenden Gesellschaft. Es war ein steiniger Weg dorthin.
Der Flugzeugabsturz in den französischen Alpen bringt sie wieder in die Schlagzeilen, die Notfallseelsorger. Das Notfallseelsorgeangebot ist inzwischen fest etabliert und von den Kirchenkritikern hört man —- nichts. Keine Angst, missioniert zu werden, kein Protest gegen eine seelsorgliche Dienstleistung im Notfall.
Liest man das Interview, dass ein Notfallseelsorger gerade dem Spiegel[1] gegeben hat, dann wird das verständlich. In der Notfallseelsorge kommt es nur auf den vom plötzlichen Leid betroffenen Menschen an. Seine Situation bestimmt das Vorgehen, nichts sonst.
Es war ein steiniger Weg, dort hinzukommen. Ich weiß es, denn ich habe ihn mitbeschritten gegen den hinhaltenden Widerstand meiner Kirchenleitung. Inzwischen finanziert sie eine volle Stelle für Notfallseelsorge, finanziert die Fortbildung der Notfallseelsorgerinnen und –seelsorger. Doch die müssen immer noch ihren Einsatz zusätzlich erbringen und bekommen keine Erleichterung bei den normalen pfarramtlichen Aufgaben. Vielleicht ist das aber auch gut so. Denn Notfallseelsorger sind im Normalfall von ihrer Aufgabe so überzeugt, dass sie sie auch freiwillig erbringen.
Zu den beigefügten Anlagen
Sie geben einen Abriß über die Anfänge der Notfallseelsorge. Vorläufer der Notfallseelsorge waren ein (gescheiterter) „Unfallfolgedienst“ in Schleswig-Holstein. Mein Kollge Wolfgang Kilger nahm die Idee auf und versuchte eine „Katastrophenseelsorge“ in der württembergischen Landeskirche zu etablieren, doch das funktionierte auch nicht richtig. Erst nach den großen Unglücksfällen (Busunglück bei Pfäffikon, Zugunglück bei Eschede und Flugzeugunglück bei Ramstein) war die Zeit reif für die Notfallseelsorge, so wie wir sie heute kennen. Meine Landeskirche tat sich besonders schwer damit. Dabei ist Notfallseelsorge Seelsorge par excellence.
Die Anlagen sind ein Rückblick aus dem Jahr 2005, als man es bei uns endlich verstanden hatte, dass Notfallseelsorge Not tut. Wenn auch ein Prälat meinte, Notfallseelsorger benötigten keine zertifizierte Zusatzausbildung. Zertifizierte Kompetenz sei „zu Käse geronnenes Charisma“, so als ob er ohne jede Zertifizierung/Prüfung die zweithöchste Leitungsebene der Landeskirche erreicht hätte.
Hier die Anlagen:
Bringt die Notfallseelsorge überhaupt etwas, und wenn, was – und wem? Notfallseelsorge1
Die Bedeutung der Notfallseelsorge für das gesellschaftliche Bewußtsein Notfallseelsorge2
[1] http://www.spiegel.de/panorama/flugzeugunglueck-notfallseelsorger-ueber-hilfe-fuer-angehoerige-a-1025588.html
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