Dierk Schaefers Blog

Was erdreisten Sie sich?

Die Dreistigkeit beginnt mit einem Schreiben der Bezirksverwaltung Mainz – Rehabilitation, „VBG, Ihre gesetzliche Unfallversicherung“[1]

„Guten Tag,

vielen Dank für die Übersendung des vollständigen Urteils des Sozialgerichtes Darmstadt vom 28.06.2020 in Ihrem Verfahren zum Opferentschädigungsgesetz (OEG).[2]

Wir konnten daraus wertvolle Informationen und Hinweise zum weiteren Feststel­lungs­verfahren der VBG als zu­ständigem Unfallversicherungsträger für bekannt gewordene Missbrauchsfälle in den Kirchen entnehmen.

Wir möchten Ihnen ein vertrauliches und persönliches Gesprächsangebot unter­breiten und Sie zu diesem Ge­spräch einladen.

Wir möchten Sie auf keinen Fall einer erneuten belastenden Befragung unterziehen und nur folgende Punkte mit Ih­nen besprechen:

1. Welche Bedarfe an Unterstützung in Form von ambulanter oder stationärer Therapie/­Behand­lung haben Sie aktuell?

2. Sind Sie mit der Einsichtnahme der kompletten Akten des OEG Verfahrens einverstanden?

3. Sind Sie mit der Einsichtnahme der vorliegenden fachärztlichen oder psycholo­gischen Berichte und Gutachten einverstanden?

Das Gespräch würden wir gerne im Psychotraumatologischen Zentrum für Diagnostik und Therapie in Frankfurt un­ter der Beteiligung und Betreuung einer sehr erfahrenen Traumatherapeutin in einem geschützten Rahmen mit Ih­nen führen.

An dem Gespräch würden Frau H, Ihre persönliche Sachbearbeiterin und Herr B, Abteilungs­leiter Reha der VBG Mainz teilnehmen.“

Es folgt im Originaltext die Antwort des Betroffenen[3]. Sie fällt deutlich aus, so dass ich keinen Kommentar abgeben muss.

„Sehr geehrt  X XXXXXXXXX,

Sie wollten doch die Betroffenen von sexueller Gewalt nicht retraumatisieren. Das haben Sie mit Ihrem Schreiben und Vorderrungen (Bitten?) vom 08.07.2022 wohl nicht erreicht. Sie haben mich damit massivst traumatisiert. Am 11.06.2022 habe ich Ihnen das vollständige Urteil auf Ihren Wunsch hin per Mail zugesandt, wo ich sicher bin, dass Sie es erhalten haben. Das Urteil sagt alles aus, was Sie eigentlich wissen sollten und wollten. Wollen Sie mit Ihrem Schreiben die Glaubwürdigkeit von einem deutschen Gericht oder von mir hinterfragen? Sie wollen Einsicht in Unterlagen haben, die zu dem Urteil beigetragen haben. Warum? Haben Sie die Fachkräfte, die die Unterlagen verstehen können? Sie muten mir zu, dass noch mehr unbedarfte und unerfahrene Sachbearbeiter/innen in meinen Unterlagen herumschnüffeln?  Hinter meinem Urteil, dass von drei Richter/innen gesprochen wurde, stehen Gutachten und Analysen, die ich nicht möchte, dass diese weitergeleitet werden, da im Urteil alles lesbar ist was Sie über meinen Fall wissen müssen. Im Urteil ist auch der GDS[4] mit 70 benannt. Mittlerweile habe ich auch einen Behindertenausweis mit einem GDB von 80.

Zu Punkt 2 „NEIN“

Für was brauchen Sie da noch eine Einsichtnahme der ärztlichen Unterlagen?

Die Einsicht in die Akten des OEG Verfahrens brauchen Sie auch nicht, denn das Ergebnis steht ja im Urteil. Ich werde demnächst 65 Jahre alt. Wollen Sie mich für den Arbeitsmarkt noch therapieren? Hoffen Sie, dass mir es besser geht?

Für was wollen Sie noch meine OEG-Unterlagen sehen? Wollen Sie herausfinden, wie hoch meine OEG-Rente beträgt?? Wollen Sie Ihre Zahlungen dementsprechend kürzen. Für die paar Kröten (ist der Ruf der VBG ruiniert………….) die Sie wahrscheinlich ausbezahlen wollen (bis jetzt nichts) werde ich mich vor Ihnen nicht nackisch machen.

Zu Punkt 3 „Nein“

Ein Gespräch im Psychotraumatologischen Zentrum für Diagnostik und Therapie in Frank­furt, ist nicht nötig und möglich, weil ich meinen bekannten Kreis nicht mehr verlassen kann und will. Ich ertrage keine fremden Menschen mehr und vermeide es deswegen öffent­liche Verkehrsmitteln zu benutzen. Seit Jahren vermeide ich es mich außerhalb meines Wohn­kreises zu bewegen. Außerdem sollen Personen aus Ihrem Kreis und dem Zentrum teilneh­men, die ich nicht kenne und denen ich aus diesem Grunde auch nicht vertraue. Dieses Angebot mir zu unterbreiten, betrachte ich als unsensibel und empathielos. Was haben Sie sich dabei gedacht? Ich habe im Jahr 2019 über mehrere Tage ein Gutachten fürs OEG machen lassen müssen. Warum wollen Sie 2022 noch einmal eine Begutachtung machen lassen? Für das Urteil wurde das Gutachten von 2019 herangezogen. Ich hätte dafür gerne eine Begründung von Ihnen.

Bitte teilen Sie mir mit, ob sich meine Verweigerung, trotz dass sie das Urteil haben, sich auf die Weiterverarbeitung in Ihrem Hause, sich negativ auf Ihre Arbeit auswirkt und die Auszahlung einer Rente oder anderweitige Auszahlung auswirken wird.

Welche Auszahlungsart von Ihnen beabsichtigt ist, haben Sie bis heute nicht bekannt gegeben. Wie Sie ja sicher wissen, wurde über mich Medienwirksam berichtet. Ich würde gerne den Medien berichten, dass die Weiterbearbeitung meines Antrages bei Ihnen unter der Berücksichtigung des Urteils stattfindet, oder ob Sie nur Unterlagen sammeln wollen.

Ich möchte Ihnen noch etwas mitgeben. Im Vorfeld Ihrer Entscheidung den sexuell Missbrauchten Menschen, die Jahrzehnte lang Vergewaltigungen und sexuellen Missbrauches sowie Machtmissbrauches mit sich herumtragen mussten, zu helfen, haben Sie keine Trauma Therapeuten befragt sonst hätten Sie Ihr Schreiben so nicht verfasst. Sie haben Sie sich Jahrzehntelang Zeit gelassen, und jetzt bitten (fordern) sie das die Betroffenen nochmals auf, dass sie Hose runter lassen sollen. Welche perversen Forderungen kommen noch von Ihnen um sich vor einer nicht definierten Zahlung die Sie bis jetzt noch nicht bekannt gegeben haben, zu drücken. Wurden Sie von nicht kompetenten Fachleuten beraten? Hören Sie auf, wenn Sie eindeutige Unterlagen haben, wie das Urteil, mich zu retraumatisieren und teilen Sie den Betroffenen klar mit, ob Urteile von deutschen Gerichte anerkannt werden oder ob Sie über den Gerichten stehen und somit das Recht haben bevor bezahlt wird die Überlebenden nackt sehen zu wollen. Und beachten und kontrollieren Sie ob eine Weitergabe von Unter­lagen, die eindeutig kinderpornografischen Inhalt haben könnten, an Sachbearbeiter/­innen und andere so weitergegeben werden sollten?

Haben Sie sich nur einmal Gedanken gemacht, was die Unterlagen bei pädophilen Mitarbeiter von Ihnen auslöst? Womit ich nicht sagen will, dass Kollegen von Ihnen pädophile Neigungen haben. Aber wer weiss…….

Haben Sie das rechtlich abklären lassen ob Sie solche Unterlagen anfordern dürfen?

Und nun zum Punkt 1 Ihres Schreiben. Nein Ich habe keine therapeutischen Unterstützung. Ich war ca. 4 Jahre in Behandlung, bis die Bezahlung eingestellt wurde. 4 Jahre lang musste ich auf eigene Kosten 100 km zu meinem Trauma Therapeut fahren, da nach jahrelangem Suche im Umkreis von 50 km keiner zu finden war. Wäre ich in einem verunfallten Flugzeug gesessen, hätte ich unter 50 Therapeuten mir einen aussuchen können.

Mit einem solchen rücksichtslosen Verhalten, von der VBG hätte ich nicht gerechnet.

Mit freundlichem Gruß

xy“

Nachwort, Dierk Schäfer

„Hier ermitteln wir“, so lautet die vollmundige Ankündigung von Kay Schumacher[5][6]. Haben die Kirchenopfer einen starken Partner bekommen? Werden sie sich endlich durchsetzen können? Ist die Versicherung gar zu vergleichen mit den Engeln, die vor Gott für die Kinder eintreten?[7]+[8] Hat sie die Aufgabe einer Schutzmantelmadonna übernommen?[9]

Schumacher kündigt an: „Sexualisierte Gewalt, die an Ehrenamtlichen wie Ministranten oder Leiterinnen von Jugendgruppen verübt wurde, sollten die Deutsche Bischofskonferenz und die Evangelische Kirche in Deutschland der Berufsgenossenschaft VBG melden … Denn die Versicherung könnte in vielen Fällen Therapie oder sogar eine Verletztenrente zahlen.“

Doch dann kommen Zweifel auf: Eine Versicherung, die sich danach drängt, Schäden zu bezahlen? Gibt’s denn sowas?

Nun, es könnte sein, dass sie auf eine Geldquelle gestoßen sind. Mithilfe der Geschädigten fordern sie nachdrücklich Akteneinsicht, die der Staat nicht zu fordern wagt. Mit Hilfe der Opfer könnten sie das Geld, das sie ihnen zahlen, bei den Kirchen eintreiben, mit Aufschlag für ihre Tätigkeit natürlich. Eine verdienstvolle wie verdienstträchtige Aktion – und die Kirchen haben das alles verdient. Selber Schuld!

Das Vorgehen im vorgestellten Fall zeigt jedoch, dass auch die Versicherung keine Ahnung hat von Traumatisierungen, Triggern und Retraumatisierungsgefahr. Noch dazu im konkreten Fall: Der ist gerichtlich angemessen gelöst. Will die Versicherung etwa auch von diesem Kuchen etwas abhaben? Sie muten mir zu, dass noch mehr unbedarfte und unerfahrene Sachbearbeiter/innen in meinen Unterlagen herumschnüffeln?  Was erdreisten Sie sich?


[1] Datum: 8.7.202.

Alle Namen in diesem Schriftverkehr habe ich anonymisiert. Alle Fußnoten von Dierk Schäfer

[2] Meine Blogleser finden es unter: https://dierkschaefer.wordpress.com/2020/11/20/oeg-urteil/

[3] Datum: 14.07.2022

[4] Gemeint ist der Grad der Schädigung (GdS), s. auch: https://www.vdk.de/ov-ka-gruenwinkel/ID159865

[5] Kay Schumacher ist Leiter der Bezirksverwaltung der VBG Bezirksverwaltung Mainz, https://www.vbg.de/SharedDocs/Adressen/DE/Kay%20Schumacher.html?nn=3358

[6] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2022-05/missbrauch-kirche-versicherung-sexualisierte-gewalt?utm_referrer=https%3A%2F%2Ft.co%2F,  23. Juni 2022

 https://www.zeit.de/2022/26/missbrauchsskandal-kirche-versicherung-kay-schumacher/komplettansicht?utm_referrer=https%3A%2F%2Ft.co%2F

[7] Mt 18; 10: Sehet zu, daß ihr nicht jemand von diesen Kleinen verachtet. Denn ich sage euch: Ihre Engel im Himmel sehen allezeit in das Angesicht meines Vaters im Himmel.

[8] Auf die Kirchen ist ja kein Verlass, es sei denn auf ihr Betroffenheitsgestammel und auf ihre einfallsreichen Vertuschungsmanöver. „Die Kirche braucht Hilfe, um wieder ehrlich zu werden.“ https://dierkschaefer.wordpress.com/2020/05/05/die-kirche-braucht-hilfe-um-wieder-ehrlich-zu-werden/

[9] Photo Privatbesitz Dierk Schäfer

Selbstsicher und verantwortungsbewusst sollen unsere Kinder ins Leben gehen – Manchmal geht das schief.

Zunächst eine Vorbemerkung.

Ich habe hier einen 29seitigen Essay[1] auf gut fünf Seiten „eingedampft“. Ziel ist, dem Leser, der mit Entschädigungsfragen infolge staatlich zu verantwortender „Erziehungsfehler“ zu tun hat, einen ersten Überblick über die Kausalzusammenhänge und die rechtlichen Möglichkeiten zu geben. Eine Vertiefung in die Materie ist nach diesem Überblick erleichtert. Man folge den Hinweisen auf den Original­artikel.

Zu beachten ist auch das erste sozialgerichtliche Urteil, das in der Logik der hier dargestellten Erkenntnisse steht.[2] Dieses Urteil liegt mir vor. Es ist noch nicht veröffentlicht. Es ist eine Sternstunde deutscher Gerichtsbarkeit. Hier hat eine Richterin – wohl ohne entsprechende Vorbildung – in einer unübersichtlichen Situation juristisch „ins Schwarze“ getroffen. Ich habe eine pseudonymisierte Arbeitsfassung erstellt, die ich als PDF beifüge.[3]

Wenn meine Kurzfassung des Essays ehemaligen Heimkindern und ihren Rechtsvertretern Zugang zu einer juristisch erfolgreichen Argumentation eröffnet, werde ich meine Mühe für sinnvoll investiert betrachten.

Nun zum Sachverhalt

Wenn wir auf die Welt kommen, sind wir noch lange nicht „fertiggebacken“. Aber wir haben es erlebt, das Paradies, die Rundumversorgung im Mutterleib: In wohliger Wärme kam rund um die Uhr alles, was wir brauchten.

Erst später lernten wir, dass schon dieses Paradies bedroht war. Doch wenn unsere Mutter nicht trank[4] oder Drogen nahm, wenn sie nicht selber – warum auch immer – unter Dauer­stress stand, kam von ihr nur Gutes zu uns rein. Und wenn wir nicht vorzeitig abgetrieben wurden, wuchsen wir heran, bis uns das Paradies zu eng wurde. Wir mussten da raus. Und dann wurde es kritisch. Da war der enge Geburtskanal – und danach?

Danach wurde es unerwartet kalt und viel zu hell. Die Hebamme gab uns einen Klaps auf den Po, damit wir schreien und sich unsere Lungen entfalteten. Nun waren wir in der Welt. Wir wurden abgetrocknet, da wars schon nicht mehr so kalt, in ein Kissen gewickelt und jeman­dem in den Arm gelegt. Keine Ahnung, wer das war. Später sagte man mir, es war mein Vater. Der trug mich im Kreissaal im Kreis herum, und die Hebamme sagte: Jetzt haben wir die Nachgeburt noch vor dem Kind gewogen. Die hatte Sorgen. Ich hatte andere. Die ganze Welt stürzte auf mich ein, fremd. Erst einmal: Augen zu!

Das Neugeborene ist mit einer Art „Notfallset“ ausgestattet, da ist nur ein Tool drin: Es kann schreien und seine Umwelt unter Druck setzen. Ganz egoistisch fordert es sein Recht auf Nahrung und Geborgenheit, von Rücksichtnahme keine Spur. Normalerweise spuren „seine“ Leute, meist die Mutter. Sie versorgt das Baby, nimmt es in den Arm und spricht mit ihm in einer Tonlage, die sie sonst nicht „drauf“ hat. Zwar nicht mehr im Paradies lernt das Baby: Wenn ich schreie, kommt jemand, und dann ist alles wieder gut. Dank „mothering“ ist eine Bindung entstanden, ein Band des Vertrauens. Dann kann das Baby ja bald die Welt erkun­den, runter vom Schoß, krabbeln! Stößt es sich irgendwo und bekommt Angst, dann nichts wie zurück in den sicheren Hafen, die Mutter nimmt es hoch und tröstet es. Alles wieder gut! Auf ein Neues – und die Mutter ermuntert es. Wenn es dann so weiter geht, ist alles gut.

Wenn nicht, wird es schwierig.

Der Essay zielt auf nicht so gut.[5]

Die Autoren nehmen die ehemaligen Heimkinder in den Blick und zeigen auf, welche nachhal­tigen negativen Einflüsse die Heimerziehung[6] auf das sich entwickelnde Gehirn der Heim­kinder gehabt hat. Die Auswirkungen führten zu einer Beeinträchtigung des Selbstbildes und zur deutlichen Verschlechterung der Lebens-Chancen. Was dort geschah, so schreiben die Autoren, seien Menschenrechtsverletzungen, die auch gegen das Grundgesetz verstoßen. Darum hätten diese Heimkinder einen rechtlichen Anspruch auf finanzielle Kompensation – gegen den Staat, der seine Aufsichtspflicht sträflich verletzt habe. Diese Kompensation könne aus juristischen Gründen nur über OEG-Verfahren (OEG=Opferentschädigungsgesetz) erfolgen. Soweit in Kürze.

Nun etwas detaillierter[7].

Der Eigenstandsschaden

Die Autoren gehen von einem Eigenstandsschaden aus. Dies ist ein ungewöhnlicher Begriff. Sie bemühen ihn, um die schädigenden neurologischen und psychologischen Wirkungen der Heimerziehung in den 50er bis 70er Jahren als Verletzung von Art. 1 I, 2 I GG und damit kompensationspflichtig darzustellen.

Was ist mit Eigenstand gemeint?

Gemeint ist die Stärkung der Persönlichkeit des Heranwachsenden, der im Sinne des GG frei – eigenständig – seinen Platz in dieser Gesellschaft einnehmen und behaupten können soll.

  • „Psychologisch operationalisiert beschreibt Eigenstand die schrittweise zu entwickeln­de Fähigkeit des Menschen, überhaupt verantwortliche Entscheidungen im Sinne der Ausgestaltung seines Persönlichkeitsrechtes zu fällen.“

Dazu gehört die Sozialverpflichtung.

  • „Sozialverpflichtung beschreibt die schrittweise zu entwickelnde Fähigkeit des Men­schen, soziale Verantwortung für den Eigenstand und das Persönlichkeitsrecht anderer Menschen zu übernehmen.“

Der Mensch, eine physiologische Frühgeburt

Davon ist der neue Weltbürger noch weit entfernt, so „unfertig“ wie er auf die Welt kommt.[8]

Seit Portman[9] sehen wir den Menschen als physiologische Frühgeburt. Die Autoren differen­zieren: „Der Mensch [kommt] als neuronale Frühgeburt zur Welt. Zur neuronalen Reifung und zur darauf basierenden Teilhabe an der menschlichen Gemeinschaft bedarf er der unmit­tel­baren Fürsorge und Sozialisation. Diese beiden Bedürfnisse [sind] Voraussetzungen erzieherischer Verantwortungsübernahme. Diese Verantwortungsübernahme liegt darin begründet, dass beim Menschen eine stark verzögerte Gehirnentwicklung nach der Geburt (stattfindet), die erst im dritten Lebensjahrzehnt in den Zielzustand einer neuronal ausgereif­ten Person einmündet: Über vielfältige Umbauprozesse des Gehirns … wird die vollständige Reifung des Gehirns beim Menschen erst ab dem 25. Lebensjahr erreicht.“

Der Staat ist in der Pflicht

Der Staat trägt qua Grundgesetz die Verantwortung für die Erreichung des Eigenstandes. Im Normalfall liegt die Verantwortung bei den erziehungsberechtigten Eltern[10], doch in seiner Wächterfunktion (Jugendamt) übergeordnet beim Staat. Wenn er Gründe sieht, das Kind aus der Familie zu nehmen, tritt er direkt in die Verantwortung für die Erziehung ein und wird haftbar für Eigenstandsschäden. Er stellt sich außer­halb des Grundgesetzes und handelt damit verfassungswidrig,[11] wenn er seine Pflicht zur Heimauf­sicht nicht wahrnimmt und es infolge dieser Pflichtverletzung nicht zu pädagogisch-wissenschaftlich fundierter Erziehung und zur Unterbindung von Misshand­lungen und kommt.

Trauma und Erinnerung

Es ist inzwischen allgemein bekannt und anerkannt, dass Traumatisierungen oft erst erheblich zeitverzögert erkannt werden, wenn entsprechende Symptome auftreten und zugeordnet wer­den können. „Ohne Kenntnis dieser Tatsachen ist schlechterdings keine Rechtsbean­spruchung durch die Betroffenen denkbar. Die Kausalitäts­bestimmung der aktuell bei den Betroffenen vorliegenden Symptome zur jahrzehntelang zurückliegenden Heimunter­brin­gung ist nicht ohne Spezialkenntnisse bzw. psychologischer Beratung möglich: der Verlauf der Erkrankun­gen ist schleichend und nicht ohne spezielle Kenntnisse auf die – teilweise den Betroffenen nicht mehr bewussten bzw. verdrängten – Misshandlungen und Vernachlässi­gungen zurück­zuführen.[12] Vielmehr sind [diese] den Betroffenen erst [durch] eine Aufarbeitung der Gescheh­­nisse durch psychologische Hilfestellung möglich. Daher ist dem Gebot der Effek­tivität des Rechtstaatsprinzips und dem mit wirkenden Schutz­gedanken der staatlichen Wächterrolle nach Art. 6 II GG gegenüber den Schädigern Geltung zu verschaffen.“

Worin bestehen diese Schäden?

„Als neuronale Frühgeburt braucht der Mensch adäquat verantwortete entwicklungsfördernde Umwelten, damit sich Eigenstand und Sozialverpflichtungspotential schrittweise entfalten können. Werden ihm diese entwicklungsfördernden Umwelten verwehrt, kommt es zu neuro­wissenschaftlich und psychotraumatologisch feststellbaren Verletzungen und Beeinträch­ti­gungen des inneren Milieus und damit zu einer Beschädigung der inneren Voraussetzungen erwachsener Freiheit und Sozialverpflichtung. Dem Betreffenden wird damit die Möglichkeit genommen, die Voraussetzungen des Persönlichkeitsrechts zu nutzen. Ihm wird die lebens­geschichtliche Möglichkeit erschwert oder genommen, seine Grundrechte geltend zu machen und damit an der Kontinuität der Verfassungsordnung mitzuwirken.“ – „Die Heimerziehung der 1950er bis 1970er Jahre war in dem Sinne bei der Zerstörung der Voraussetzungen des Eigenstandes sehr effektiv: ein beständiger Zustrom von affektiv negativ konnotierten Reizen (Zurückweisung, Bedrohung, Demütigung, Entwürdigung) legten das Fundament für das gestörte Denken, Fühlen und Handeln der Heiminsassen in ihrem späteren Leben.[13]

Anpassung als Überlebensprinzip

Diesen Mechanismus muss man verstehen: „Aus der Perspektive des Heranwachsenden kommt es zu einer optimalen Anpassung an die Umwelt der Erwachsenen. Das neuronale System entfaltet sich also in Richtung auf eine optimale Anpassung an die Stimuli auslösende Umwelt. Das Prinzip ist die für die Lebenssicherung und Arterhaltung optimale Adaption. D.h. auch die menschenunwürdigsten Sozialisationsbedingungen wirken neuroplastisch adaptiv und damit normativ für die Anpassung an eine gegebene Umwelt. Sie befä­higen das kindliche System je früher dies geschieht und je länger dies andauert, desto nachhaltiger sich optimal an jede, mit dem Überleben irgendwie vereinbare Umwelt anzupassen. Diese Adap­tion hat allerdings zur Folge, dass eine spätere Umstellung auf andere, z.b. lebenswertere Lebensbedingungen, wenn nicht verunmöglicht, doch in jedem Fall aber erschwert wird, je früher und zeitlich ausgedehnter die negativen Lebensbedingungen bestanden hatten.“ – Ehemalige Heimkinder tragen „ein epigenetisches Erbe ihrer leidvollen Lebensgeschichte mit sich: bei entsprechenden Stimuli im späteren Leben werden dysfunktionale Netzwerkstruk­turen aktiviert, die im Sinne einer früheren Anpassung an das neuronal destruktive Heim­system einmal überlebensnotwendig waren.“ – „Der Organismus des Kindes [wurde] dauer­haft für Stressreaktionen wie Kampf, Flucht, Angst und Erstarrung vorbereitet. … Die dabei sich entfaltende Hyperaktivität und Hyperreagibilität des Stresshormonsystems sind in Hin­blick auf die dauerhafte Auslieferung an die Gewalt als hoch adaptive und funktional Anpas­sungen an eine …  Ausnahme­zustandssituation zu werten. … Diese mittel- bis langfristigen neuropsychologischen Folgen einer solchen seriellen Gewalt-Exposition führen zu massiven psychischen Symptomen, die innerhalb des Heim­systems zwar funktional, außerhalb des Heimsystems hoch dysfunktional und daher als Folge eines hier neuropsychologisch aufge­schlüsselten Eigenstandsschadens gewertet werden müs­sen und die gesellschaftliche Teilhabe massiv behindern.[14] Im Besonderen sind zu nennen: Bindungsstörungen, erlernte Hilflosig­keit, mangelnde Affektregulation, Selbstwert­störungen, Mangel an emotionaler Berührbarkeit, Unfähigkeit zur sozialen Perspektivenübernahme, Stö­rung der Mentalisierungsfähigkeit, Unfähigkeit Wünsche, Impulse und Bedürfnisse auszu­drücken, Impulsivität, soziales Ver­meidungsverhalten, fragile Selbstwertregulation, posttrau­matische Belastungsstörung, erhöh­tes Risiko für Depressionen und Suizide, Angststörungen und auch Persönlich­keitsstörungen als heimintern adaptive, gesellschaftlich aber dysfunkti­onale Verhaltens- und Erlebensformen. Diese Störungsmuster verflechten sich mit der Persönlichkeitsentwicklung vieler ehemaliger Heimkinder. so dass nun nach den dafür ursächlichen Stimuli gefragt werden soll.

  • Stimuli, deren Mangel zu bestimmten Zeiten die Entwicklung beeinträchtigen, die also in einem bestimmten vulnerablen Zeitfenster gegenwärtig sein müssen
  • Stimuli, die unabhängig von kritischen/sensiblen Phasen auf die Entwicklung neuro­naler Netze des Gehirns wirken
  • In diesen sensiblen bzw. kritischen Phasen der Entwicklung sind bestimmte Stimulus­typen in ausreichender Intensität, Dauer und Menge erforderlich, damit sich eigen­stands- und sozial­verpflichtungsrelevante neuronale Funktionen entwickeln können, wie z.b. Stressinhibition, Selbstwertregulation, Affektregulation und Mentalisierungs­fähigkeiten.
  • In diesen Phasen ist das kindliche bzw. jugendliche Rechtssubjekt einerseits neuronal hochgradig geöffnet für soziales und umweltbezogenes Lernen. Andererseits sind Kin­der und Jugendliche in diesen Phasen aber auch besonders empfänglich für schä­di­gende Einflüsse. … Es können sich neuronale Dispositionen bilden, die, wenn im späteren Leben weitere ungünstige Faktoren hinzutreten, dann den Ausbruch einer manifesten psychiatrischen Erkrankung bedingen.“

„Der schädliche Habitus dem Heimkind gegenüber verunmöglichte die gelingende Ausdiffe­renzierung genetisch vorgegebener kognitiver und emotionaler Potenzen von Säuglingen, Kleinkindern und Heranwachsenden. Dieser hat damit das Recht auf Erziehung nicht nur konterkariert, sondern muss darüber hinaus als direkter Angriff auf die neuronalen Voraus­setzungen des humanen Freiheitsge­brauchs und der damit verbundenen Potentiale sozialer Verantwortungsübernahme gewertet werden. Damit stellt dieser einen direkten Angriff auf den Eigenstand des Menschen dar.“

Staatlich installierte Kindeswohlgefährdung begründet Anspruch auf staatliche Entschädigung

„Zusammenfassend kam es im Einflussbereich der Heime bei den ehemaligen Heimkindern zu einer „Einformung traumatisierender Erfahrungen in die neuronale Struktur des mensch­lichen Gehirns …. Die damit verbundenen Schädigungen des Eigenstandes dürften umso höher zu veranschlagen sein, je früher diese Erfahrungen gemacht werden. …

Die trauma- oder deprivationsbedingte Verhinderung sozialen Lernens und zwischen­mensch­licher Empathie bricht das Recht auf Erziehung … und kann auch heute als neuro­wissen­schaft­liche Basis jugendamtlicher Kriterien für die Gefährdung des Kindeswohls gelten. Auf Grundlage dieser Kriterien tritt man dem deutschen Heimsystem nicht zu nahe, wenn man in ihm Vorgänge einer staatlich installierten Kindeswohlgefährdung erblickt. …

[Sie] begründen bei den Betroffenen sowohl Ansprüche auf Schmerzensgeld als auch weitere Schadensersatzansprüche.  … Die Verantwortung des Schä­digers ist daher weit für sämtliche Folgeschäden, die adäquat in Zusammenhang mit dem schädigenden Ereignis stehen, gefasst.“

„Sämtliche Voraussetzungen für die tatsächliche Ersatzpflicht erfüllen daher Träger und Staat gleichermaßen durch die damalige Praxis der Heimunterbringung.

Einer gerichtlichen Durchsetzung der vorgenannten Ansprüche der Heimkinder steht jedoch die Einrede der Verjährung gem. § 214 BGB seitens der damaligen, heute noch in Form der Träger rechtlich und tatsächlich fortbestehenden Schädiger entgegen. … Zum anderen gilt dies auch für Ansprüche gegen den Staat aus Amtshaftung nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG aufgrund unterlassener effektiver Kontrolle und Unterbindung der Misshandlungen in den Trägereinrichtungen.“

„Eine rückwirkende gesetzliche Bestimmung zur Aufhebung der Verjährung für bereits eingetretene Ver­jährungen ist nicht zulässig.“

Die Autoren schlagen eine Ände­rung des geltenden OEG [vor.] [Es] „dürfte … bei einem staatlichen Verschulden legislativ geöffnet werden für die Leistung von Schadensersatz­ansprüchen und Zahlung von Schmer­zensgeld. Daher wäre im OEG eine Erweiterung der Beweiswirkung von ärztlich festgestell­ten psychischen Schäden im Rahmen einer gesetz­lichen Kausalitätsvermutung bei nachweislichen Heimaufenthalten in den Jahren 1950-1975 anzustellen.“


[1] Operationalisierbarkeit des EigenstandsschadensBegründung von Schadensersatz­pflichten durch Verletzung von Art. 1 I und Art. 2. I GG Prof. Dr. Jürgen Eilert*, Prof. Dr. Jan Bruckermann**, Dr. Burkhard Wiebel***

Die Originalfassung kann abgerufen werden unter: https://docplayer.org/169226626-Sozialrecht-4-jahrgang-seiten-operationalisierbarkeit-des-eigenstandsschadens-abhandlungen.html Hier auch die Querverweise und Quellenangaben. Um gezielt auf die Suche zu gehen, kann man auch mein Arbeitsexemplar im WORD-Format anfordern: ds@dierk-schaefer.de

Zitate, soweit nicht anders ausgewiesen, sind dem Essay entnommen.

[2] Sozialgericht Darmstadt, Az: S 5VE25117

[3] https://dierkschaefer.wordpress.com/2020/11/20/oeg-urteil/ Diese Version ist als Vorabmitteilung ausschließlich zum persönlichen Gebrauch bestimmt. Abzuwarten ist die zitierfähige Veröffentlichung durch das Sozialgericht.

[4] In der Schule wurde das Thema Alkohol durchgenommen. Von da an wollte Kevin, ein Pflegekind, nicht mehr zu seiner leiblichen Mutter, denn nun wusste er, warum er behindert war.

[5] Ich folge im Wesentlichen dem Verlauf und gebe den Essay in ausgewählten Auszügen wie­der.

[6] Soweit es allgemein um Hirnentwicklung geht: Schädigende Einflüsse kommen auch außerhalb der Heimer­ziehung vor. Nur dann dürfte es noch schwieriger sein, Ansprüche auf finanzielle Kompensation durchzusetzen. Dasselbe gilt für die pränatalen Schädigungen in der Kriegskindergeneration (hoch stressbelastete Schwanger­schaften bei Bombardierungen).

[7] Wer es noch detaillierter haben will: Elisabeth B. Binder, Folgen früher Traumatisierung aus neurobiologischer Sicht, https://link.springer.com/article/10.1007/s11757-017-0412-9 Doch ich warne. Dieser Text ist nur mit einschlägigen Vorkenntnissen verständlich.

[8] „Primaten kommen mit einem besonders unfertigen Gehirn zur Welt. Je langsamer es sich anschließend entwickelt und je länger es dauert, bis alle Verschaltungen endgültig geknüpft und festgelegt sind, desto umfangreicher sind die Möglichkeiten, eigene Erfahrungen und individuelle Nutzungsbedingungen in seiner Matrix zu verankern“

[9] 1941 veröffentlichte Portman erstmals einen Beitrag zur Sonderstellung des Menschen in der Natur aus ontogenetischer wie phylogenetischer Sicht. In den folgenden Jahren veröffentlichte Portmann kontinuierlich weitere Beiträge zur Sonderstellung des Menschen in der Natur und behandelte verstärkt die ersten Lebensjahre des Menschen aus entwicklungsgeschichtlicher Sicht. Diese Sonderstellung des „physiologisch völlig unspezi­alisierten“, in seiner Entwicklung offenen Menschen unterscheide ihn als „ewig Werdender“ von allen anderen physiologisch höchst spezialisierten, „so-seienden“ Lebewesen. Er prägte die Begriffe der „physiologischen Frühgeburt“ und „Nesthocker“ bzw. „Nestflüchter“, welche auch heute noch Verwendung finden. Der Mensch ist einer späteren Arbeit von ihm zufolge ein „sekundärer Nesthocker“ mit einer offenen Präge- und Lernphase im „sozialen Uterus“ der Familie. https://de.wikipedia.org/wiki/Adolf_Portmann#Wissenschaftliche_Themen

[10] Einer meiner Tagungstitel: Eltern sind Schicksal – manchmal auch Schicksalsschläge.

[11] Der Mensch bleibt „unter den ihm von der Verfassung garan­tierten Möglichkeiten zurück: Grundrechtlich höchstgradig geschützte Rechtsgüter bleiben ungelebt oder können wegen der umfassenden neuropsychischen Störungen nicht oder nur beschädigt geltend gemacht werden, wie z.B. die Fähigkeit andere Menschen als gleichwertig zu erleben (Art. 3 GG), eine Religion zu haben (Art 4. GG), seine Meinung angstfrei frei zu äußern (Art. 5 GG), Ehe- oder Familienleben verantwortlich zu gestalten und Kinder zu erziehen (Art. 6 GG), eine erfolgreiche Schullaufbahn zu bewältigen (Art. 7 GG), öffentlich angstfrei zu demonstrieren (Art. 8 GG), sich in Vereinen zu organisieren (Art. 9 GG), private Kommunikation zu gestalten (Art. 10 GG), sich frei im öffent­lichen Raum bewegen zu können (Art. 11 GG), berufstätig sein zu können (Art. 12 GG), sich mit dem Verfas­sungsstaat identifiziert und sozialverpflichtet zu fühlen (Art. 13 GG), eine eigene Wohnung zu gestalten (Art 14 GG), Eigentum zu erhalten und für die Erben zu sichern (Art. 15 GG).

[12] Eine Verstehenshilfe stellt die „Trauma-Zange“ nach Dr. L. Besser dar: https://dierkschaefer.wordpress.com/2018/11/25/wenn-die-seele-zuckt-trigger/

[13] Leser, denen die damaligen Erziehungsmethoden in Heimen fremd sind, mögen diesen Link anklicken: http://gewalt-im-jhh.de/Erinnerungen_KD/erinnerungen_kd.html

[14] Aus meiner Adoptionsarbeit: Ein Kind, das längere Zeit erfolgreich auf der Straße gelebt hat, ist kaum umzupolen.

Opfer ist und bleibt man

Posted in Bürokratie, Kriminalität by dierkschaefer on 23. Mai 2015

»Die 45-jährige Journalistin Kerstin Claus wurde in der evangelischen Kirche missbraucht. Als man ihr nach langen Jahren des Leugnens endlich zuhörte, sollte sie zuerst eine Verschwie­gen­heits­erklärung unterschreiben. Sie hat sich durch das OEG gekämpft, bis ihr eine Entschä­digung zuerkannt wurde. Doch die zuständigen Ämter streiten, wer nun genau zahlen soll.

Die Folge: Sie war ein Dreivierteljahr ohne Einkommen und dementsprechend auch ohne Krankenversicherung. Mit der Krankenkasse aber hatte sie gerade darum gestritten, ob die eine Traumatherapie bezahlt, in der eine Methode angewandt wird, die nicht im offiziellen Leistungskatalog enthalten ist – nachweislich aber vielen Traumatisierten geholfen hat.

Warum der Entwurf des OEG so lange auf sich warten lässt, kann im Ministerium niemand so recht sagen. Die Betroffenen haben den Eindruck, dass das Engagement vom Anfang schlicht verbraucht ist.«

http://www.taz.de/!160394/ Sonnabend, 23. Mai 2015

Tagged with: , , ,

Petitionsausschuß fordert Änderung des Opferentschädigungsgesetzes im Interesse ehemaliger behinderter Heimkinder

Posted in heimkinder, Kinderrechte, Politik by dierkschaefer on 16. Januar 2013

Das Opferentschädigungsgesetz und die Verjährungsfrage

Posted in heimkinder, News by dierkschaefer on 12. Mai 2010

Dies ist keine Rechtsberatung im Sinne des Rechtsberatungsgesetzes. Ich gebe nur wieder, was ich heute in der Kriminologie-Vorlesung gehört habe.

Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen hat am 18. März 2010 eine wichtige Entscheidung zum Opferentschädigungsgesetz (OEG) getroffen.

http://cdl.niedersachsen.de/blob/images/C63275640_L20.pdf [Mittwoch, 12. Mai 2010]

Es geht zwar um einen Stalking-Fall, doch der zweite Absatz der nichtamtlichen Leitsätze könnte für ehemalige Heimkinder wichtig sein.

» Dem Entschädigungsanspruch steht nicht entgegen, dass die Handlungen vor dem 31. März 2007 begangen wurden und daher wegen des absoluten Rückwirkungsverbotes nach Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB nicht als strafbare Nachstellungen im Sinne von § 238 StGB bestraft werden könnten. Bei der opferentschädigungsrechtlichen Beurteilung sind vielmehr auch die zwischenzeitlichen Rechtsentwicklungen zu berücksichtigen«.

http://www.amtsgericht-hannover.niedersachsen.de/master/C63275984_L20_D0_I5210490_h1.html [Mittwoch, 12. Mai 2010]

Auf Nachfrage sagte mir der Dozent, analog müsse das auch für die Anwendung des OEG auf die Heimkinderfälle gelten. Allerdings ist die Entscheidung noch nicht rechtskräftig.

Das heißt: ehemalige Heimkinder sollten mit ihrem Anwalt besprechen, ob sie unter Berufung auf diese Entscheidung Anträge nach dem OEG stellen können.

Apropos Anwalt

Aus dem Vorlesungsskript:

  • Opfer können nach § 406f Abs. 2 StPO bei einer Vernehmung durch eine private Vertrauensperson unterstützt werden.
  • Nach § 149 StPO ist die Unterstützung durch den Ehegatten oder Lebenspartner in der Hauptverhandlung möglich.
  • Es gibt auch eine professionelle Opferunterstützung durch einen anwaltlichen Opferbeistand (§ 406 f, Abs. 1 StPO). Die Möglichkeiten der Akteneinsicht sind durch §406 StPO, s. auch §68b StPO geregelt.
  • Besonders deutliche Opferunterstützung durch einen anwaltlichen Opferbeistand ist auch in der Hauptverhandlung Opfern als Nebenklägern (§397 Abs. 2 StPO) sowie bei nebenklagebefugten Opfern möglich (§§ 406g Abs. 1 und 2 StPO).
  • Die intensivste und die meisten Befugnisse gewährende Unterstützungsform – unter bestimmten Umständen – ist die Bestellung eines von Staats wegen finanzierten Opferanwalts für Nebenkläger (§397a Abs. 1 StPO) und für nebenklagebefugte Opfer (§406g Abs. 3 StPO).

[Fettdruck und Unterstreichung wie im Vorlesungsmanuskript].

Und da ich schon bei Rechtsangelegenheiten bin:

Kürzlich hörte ich von einem Fall, bei dem der Richter trotz begründeten Mißtrauensantrags an einem Gutachter festhielt, obwohl der kein spezialisierter Gutachter für sexuelle Traumatierungen ist.

Die Vorgabe des BGH [BGH, Urt. v. 30. 7. 1999 – 1 StR 618198 (LG Ansbach)] lautet dagegen:

»Hält ein Prozeßbeteiligter die wissenschaftlichen Anforderungen [eines Gutachtens] dagegen für nicht erfüllt, wird er noch in der Tatsacheninstanz auf die Bestellung eines weiteren Sachverständigen hinzuwirken haben. Will das Gericht einem dahingehenden Beweisantrag nicht entsprechen, bedarf es – wie dargelegt – einer ausführlichen Begründung des Ablehnungsbeschlusses regelmäßig nur dann, wenn der Antragsteller einen Mangel des Erstgutachtens konkret vorgetragen hat. Ist dies geschehen, wird es aber vor einer Entscheidung über einen derartigen Antrag naheliegen, den Erstgutachter zu dem behaupteten Mangel zu hören und ihm Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben«.


Nun, Mängel des Erstgutachtens wurden konkret vorgetragen.

photo: dierkschaefer