Zeitvergleich
Geschichte wiederholt sich nicht – so heißt es. Doch es gibt merkwürdige Parallelen.
Heute sehen wir einen Artikel aus der Frankfurter Zeitung vom 01.11.1929.[1] 90 Jahre ist es her, dass diese Zeitung eine detaillierte Analyse des Aufstiegs der Nazi-Partei vorlegte. Vier Jahre später galt keine Pressefreiheit mehr, war alles gleichgeschaltet zu einer Nazi-Lügenpresse.
Schnuppern wir doch kurz die Luft der damaligen Freiheit:
»der Kern der Wählerschaft hat an der guten demokratischen Tradition des Landes festgehalten; nur ein – allerdings ansehlicher – Bruchteil ist der nationalsozialistischen Werbung widerstandslos erlegen, nämlich der Teil der Bauernschaft und des Bürgertums, den Kriegsende, Umwälzung und Inflation politisch aus dem Gleise geworfen und derart direktionslos gemacht haben, daß er, verstärkt durch wirtschaftlich Unzufriedene aller Art, seit zehn Jahren von Wahl zu Wahl anderen Phantomen nachjagt.« » Für den [badischen] Landtag bedeutet der Einzug der Nationalsozialisten eine Vermehrung der Elemente, die sich weigern, überhaupt fair mitzuarbeiten, die die Aufgabe des Landtags nicht fördern, sondern von innen heraus sabotieren wollen. Zu den fünf Kommunisten kommen sechs Nationalsozialisten; ein volles Achtel des Landtags wird damit aus Abgeordneten gegen den Landtag bestehen. Sie treiben ein unehrliches Spiel, indem sie trotzdem die volle Gleichberechtigung mit den andern Parteien in Anspruch nehmen – die ihnen selbstverständlich gewährt werden wird –, wie es auch unehrlich ist, selbst einen Staat des Zwanges, der brutalen Vergewaltigung aller Andersdenkenden zu propagieren und gleichzeitig laut zu lamentieren und vor Entrüstung außer sich zu sein, wenn der bestehende Staat sich gegen ihre Wühlarbeit mit sehr zahmen Mitteln zur Wehr setzt.«
Zeitsprung
»Wo die NSDAP erfolgreich war, ist es heute die AfD. Das erklärt natürlich nicht den ganzen Wahlerfolg der AfD. Aber es ist ein wichtiger Faktor, ähnlich wichtig wie andere Erklärungen, die man bislang oft hören konnte: Arbeitslosigkeit, Verlust von gut bezahlten Jobs im Industriesektor, Unsicherheit wegen der Zuwanderung.«[2] »Was die beiden Parteien gemeinsam haben, ist, dass sie offensichtlich Menschen mit ihren rechtspopulistischen Denkweisen ansprechen, mit relativ schnellen und national gefärbten Lösungen für Probleme und Krisen der Zeit, mit ihrem Insider-Outsider-Denken.«
Dies ist die eine Seite des Problems und seiner Parallelen. Die weiteren Details sollte man den angegebenen Artikeln entnehmen. Dann sieht man auch, dass ein 1:1 Vergleich nicht funktioniert.
Doch auf der anderen Seite des Problems haben wir wieder eine Parallele.
Vor 90 Jahren schrieb die Frankfurter Zeitung: »Die Empfänglichkeit weiter Volkskreise für die nationalsozialistische Agitation könnte nicht so groß sein, wenn die Republik die volle Ueberzeugungs- und Anziehungskraft entfaltet hätte, die gerade einer auf dem demokratischen und sozialen Prinzip aufgebauten Institution innewohnen muß. Deshalb muß der Nationalsozialismus der Republik ein Stachel zur Selbstkritik sein; die Republik ist robust genug, um solche unablässige Selbstkritik ertragen zu können.«
Die Überzeugungs- und Anziehungskraft unserer Demokratie ist im Sinken und als enttäuschter/empörter Bürger könnte man geneigt sein, mancher AfD-Argumentation zu folgen – wenn es nicht die AfD wäre. Unsere Funktionseliten haben ihre Glaubwürdigkeit weitgehend verloren durch zahlreiche Skandale. Es sind ja nicht nur die Großbauprojekte, die merkwürdigerweise nicht von der Stelle kommen, es ist nicht nur der Zustand unserer maroden Infrastruktur, bei dem man sich fragt, wo die Steuergelder hingeflossen sind. Es ist vor allem die Kumpanei mit Wirtschaft und Industrie geschmiert durch die Lobbyvertreter, genannt sei hier nur die Autoindustrie, die gerade durch ihre Betrügereien dabei ist, unsere Wirtschaft gegen die Wand zu fahren. Transparenz in diesen Dingen ist Tabu und die „Abgeordnetenwatch“ ein böser Bube.
Unser Gemeinwesen wird von zwei Seiten bedroht: Von seinen Vertretern, die gekonnt auf der Klaviatur gesetzlicher Möglichkeiten spielen – und dabei auch manchmal falsch spielen. Ihnen muss man auf die Finger hauen und sie bei den Wahlen abstrafen – wenn es da denn Alternativen gibt. Die erklärten Gegner unserer menschenrechtsbegründeten freiheitlichen Lebensweise sind Feinde dieses Staates und der Mehrheit der rechtlich Denkenden. Hier müssen unsere Staatsorgane mit allen rechtlichen Möglichkeiten durchgreifen bis hin zum Parteienverbot. Es wird Zeit. 1929 hatte man nur noch vier Jahre bis zur Machtergreifung der Feinde der Menschheit.
[1]Zitate aus : https://www.faz.net/aktuell/politik/historisches-e-paper/historisches-e-paper-nsdap-erstmals-im-badischen-landtag-16402663.html
[2] Die gegenwartsbezogenen Zitate sind entnommen aus: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-02/afd-waehler-rechtsextremismus-nsdap-gemeinden-milieu/komplettansicht
Kinderrechte sollen ins Grundgesetz
Ja, aber ich glaub’s erst, wenn sie drin sind. Beurteilen kann man sie erst, wenn man sie sich kritisch anschaut: 1. Welche Kinderrechte kommen ins Grundgesetz? 2. Welche Chancen haben ihre Umsetzung in Politik, Justiz und Verwaltung? Es wird also noch dauern.
Als jahrelanger Beobachter der Situation kann ich nur gequält schmunzeln über den Fortschritt, der bekanntlich eine Schnecke ist – und ob’s ein Fortschritt wird, sehen wir erst später.[1]
Nun endlich nimmt sich die Politik auf höherer Ebene (Koalitionsvertrag) des Themas an. Eine Zusammenfassung gab es gestern in der Sendung „Hintergrund“ des Deutschlandfunks. Man lese nach![2]
Ob es zu einer 2/3-Mehrheit im Bundestag reichen wird, halte ich für fraglich, denn – wie üblich – werden die Kinder nicht nach ihren wohlverstandenen Interessen gefragt, sondern die Vertreter der Interessen anderer:
- Elternverbände
- Männervereinigungen
- Frauenvereinigungen
- Kirchen
- Parteien
- Sozial- bzw. Jugendhilfeträger
und am wichtigsten:
- die Länder und ihre Kommunen
Die Liste ist wohl nicht vollständig, so habe ich z.B. die Rechtsdogmatiker nicht erwähnt.
Wenn einer Personengruppe, die bisher nur im Paket „Familie“ mitgemeint war, eigene Rechte eingeräumt werden sollen, schmälert das die Rechte und den Einfluss anderer – oder deren Finanzen. Diese anderen werden alle Möglichkeiten nutzen, um ihren Besitzstand zu wahren.
Die Eltern und ihre Verbände werden auf das Elternrecht pochen und darauf verweisen, dass für deren Missbrauch der Staat ein Wächteramt habe. Es ist ja auch richtig, dass der Staat nicht ohne Anlass, also willkürlich/ideologisch in die Familien hineinregieren soll. Autoritäre Staaten in Vergangenheit und Gegenwart sind ein abschreckendes Beispiel, die Hilflosigkeit von Kindern in unserem System in bekanntgewordenen Extremfällen allerdings auch. Es wird also darum gehen müssen, Elternrechte gegen die wohlverstandenen Interessen des Kindes abzuwägen und passende Maßnahme durchzusetzen, wobei unbedingt die Meinung der Kinder erfragt werden muss. Richter sind oft dieser Aufgabe nicht gewachsen. Das sollte also eine unabhängige Fachkraft tun, die den Kindern ihre Entscheidungsmöglichkeiten und auch die Folgen freundlich vor Augen führt. Das bedeutet: qualifizierte Einzelarbeit, die ist teuer. Sind uns die Kinder das wert? Wer soll das bezahlen?
Fragen in Zusammenhang mit Inobhutnahme sind besonders schwierig. Kinder sind zuweilen hinundhergerissen zwischen der Liebe zu ihren Eltern, selbst wenn diese drogenabhängig sind [Parentifizierung] oder sie gar mißhandeln einerseits und andererseits ihren wohlverstandenen Interessen. Hier ist sehr viel Einfühlungsvermögen vonnöten, um den Kindern die Last der Verantwortung und die Schuldgefühle abzunehmen. Zu beachten ist der Zeitfaktor bei einer Unterbringung in einer Pflegefamilie. Oft ist hier eine Bindung entstanden, die stärker ist als manche Vorstellung von Blutsverwandtschaft. Die Vorstellung, dass soziale Elternschaft wichtiger ist als leibliche, ist vielen Menschen fremd. Sie denken nicht daran, dass es Aufgabe jeder Elternschaft ist, eine soziale zu werden.
Kinder bei Trennung und Scheidung sind dann besonders schlecht dran, wenn der Partnerschaftskrieg auf dem Rücken der Kinder ausgefochten wird. Im Hintergrund machen sich Männervereinigungen und Frauenvereinigungen stark. Auch sie folgen zumeist biologischen Denkmustern. Ein Kind gehört zur Mutter/zum Vater oder es hat Anrecht auf beide. Alles ist verheerend für Kinder, wenn die Eltern für das Kind nicht in erster Linie Eltern sein wollen – und es auch können. Zurzeit versuchen – vornehmlich – Männer, die oft unhaltbaren Entscheidungen der Familiengerichte auszuhebeln durch ein im Regelfall verpflichtendes Doppelresidenzmodell. Ob diese Aufteilung der Kinder von Fall zu Fall von den Kindern gewünscht wird und ob es für sie praktikabel ist, diese Frage interessiert nicht. Es kann und sollte in solchen Fällen immer darum gehen, im Einvernehmen mit den Kindern – möglichst auch mit den Eltern – eine kindgerechte, alltagstaugliche Lösung zu finden, die nach Kindesbedarf Flexibilität ermöglicht und auf Wunsch des Kindes auch wieder neu verhandelbar ist. Auch hier ist die Beratung und Begleitung von ideologisch unabhängigen Fachpersonal nötig. Mit der psychologisch-pädagogischen Fachkompetenz der Richter wird man wohl auch zukünftig nicht rechnen können.
Die Kirchen und andere Religionsverbände werden das Elternrecht in dem Sinne verteidigen wollen, dass diese das Recht auf religiöse Erziehung bis zur Religionsmündigkeit behalten sollten. Das ist problematischer als es aussieht. Denn es beinhaltet das Recht auf Beschneidung minderjähriger Jungen, was eindeutig dem Kinderrecht auf Unversehrtheit entgegensteht. Von dort ausgehend machen manche Agitatoren auch Front gegen die Kindertaufe; ein Kind solle unbehelligt von jedweder Religion aufwachsen, bis es sich selber entscheiden kann. Das ist völlig lebensfremd.[3]
Die Parteien sind, wie der Rundfunkbeitrag zeigt, unterschiedlicher Meinung.[4] Nach meiner Einschätzung haben alle kein besonderes Interesse an Kindern, sondern nur an ihren Wählergruppen. Das ist systembedingt. Sie werden jeden Entwurf für Kinderrechte im GG in ihrem Interesse beeinflussen, verwässern und Hintertürchen aufhalten[5]. Also brauchen wir nicht nur die Kinderrechte im GG, sondern auch Wahlrecht für Kinder, das zunächst wohl eine Art Familienwahlrecht wäre bis die Kinder eigene politische Vorstellungen haben. Dann, aber erst dann würden die Parteien Familien und Kinder umwerben und ihnen die Aufmerksamkeit geben, die ihnen gebührt.
Ein schwieriges Kapitel sind die Sozial- bzw. Jugendhilfeträger, denn die Rechte dieser Lobby sind festgezurrt. Ich habe es in einem Beitrag hier im Blog dargestellt.[6]
Am übelsten jedoch ist die Lobby der Länder und ihrer Kommunen, denn die sind – wie die Elternrechte – schon im Grundgesetz verankert und sie wollen nicht zahlen. Darum hintertreiben sie seit Jahrzehnten alle kostenträchtigen Gesetze, auch die, die für das Kindeswohl förderlich sind. Und sie achten auf ihre Hoheit. Besonders sie also sind der Hauptgegner, wenn es um die Umsetzung von Kinderrechten im Grundgesetz geht.
Das sind die Nebenwirkungen des Föderalismus; wir kennen sie aus verschiedenen Bereichen. Ich nenne nur die Schulpolitik und mag gar nicht weiter darauf eingehen. Auch die Pflegeschlüssel sind von Land zu Land unterschiedlich. Ist doch logisch, dass der Pflegebedarf in Bayern ein anderer ist als in Meck-Pomm.
Fußnoten
[1] Einen Katalog von Defiziten und Forderungen habe ich schon in meiner Tagungsreihe Kinderkram publiziert und später, 2011 in meinen Blog gestellt:Dierk Schäfer, Für eine neue Politik in Kinder- und Jugendlichen-Angelegenheiten https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2011/10/fc3bcr-eine-neue-politik.pdf
[2] http://www.deutschlandfunk.de/nach-jahrzehntelanger-debatte-kinderrechte-sollen-ins.724.de.html?dram:article_id=416242 Sonntag, 22. April 2018
[3] Dierk Schäfer, Die Zurichtung des Menschen – auch ohne Religion https://dierkschaefer.wordpress.com/2018/04/18/die-zurichtung-des-menschen-auch-ohne-religion/
[4] http://www.deutschlandfunk.de/nach-jahrzehntelanger-debatte-kinderrechte-sollen-ins.724.de.html?dram:article_id=416242
[5] „Also, Herr Referent, der Gummizug ist schon ganz nett, vergessen Sie aber nicht die Verwässerungsanlage und das Hintertürchen.“ Fund: Archiv Dierk Schäfer
[6] Dierk Schäfer, Die Zahnlosigkeit der Gesetze zum Recht von Schutzbefohlen, 24. Juni 2015, https://dierkschaefer.wordpress.com/2015/06/24/die-zahnlosigkeit-der-gesetze-zum-recht-von-schutzbefohlen/
Fragen Sie doch einfach mal.
»In einer repräsentativen Demokratie werden politische Entscheidungen sowie die Kontrolle der Regierung nicht unmittelbar vom Volk ausgeübt , sondern von einer Volksvertretung wie dem Deutschen Bundestag. Über eine „Legitimationskette“ ist dass Handeln der Regierung auf die Willensäußerungen der Wählerinnen und Wähler zurückgeführt. Im Parlament werden die unterschiedlichen Meinungs- und Interessenlagen diskutiert und im Rahmen der Mehrheitsverhältnisse entschieden.«
Soweit, so gut, so harmonisch.
Gestrichen wurde der folgende Passus:
»Jedoch vertreten verschiedene Bevölkerungsgruppen ihre Interessen mit ungleichen Konflikt- und Organisationsressourcen. So können Partikularinteressen von Eliten und Unternehmen in modernen Demokratien einen übergroßen Einfluss gewinnen, mit der Folge einer zunehmenden Entpolitisierung und damit eines Legitimitätsverlustes.«[1]
Diese plausible Begründung des Politikverdrusses wurde uns vorenthalten.
Wir dürfen demnächst wieder einmal unsere Stimme abgeben, um sie dann nicht wiederzukriegen.
Fragen Sie die Abgeordneten und Kandidaten Ihres Wahlkreises, ob und wie sie diese Streichung rechtfertigen! Wenn die Antwort nicht befriedigend ausfällt, fragen Sie, warum Sie überhaupt zur Wahl gehen sollen, wenn die Einflussmöglichkeiten dermaßen ungleich verteilt sind.
Wir haben es ja schon immer wissen können, doch nun kann die Farce einer Scheindemokratie nicht mehr geleugnet werden.
[1] Quelle: Abgeordnetenwatch.de @a_watch, Wo krit. Stellen aus dem #Armutsbericht der BReg gestrichen wurden: Guter Vorher/Nachher-Vergleich von @lobbycontrol https://www.lobbycontrol.de/wp-content/uploads/LobbyControl-Versionsvergleich-Armutsbericht-kommentiert.pdf …
Der Staat und der Protestantismus
Der Auftakt ist überzeugend: »Religionen können in der freiheitlich-demokratischen Verfassungsordnung nur dann eine produktive öffentliche Rolle spielen, wenn sie sich die Ideen von Menschenrechten und Demokratie theologisch anverwandeln. Diese Konzeption öffentlicher Religion, die Jürgen Habermas in den vergangenen Jahren entwickelte, hat viel für sich. Die Religionen müssen sich „die normativen Grundlagen des liberalen Staates … unter eigenen Prämissen aneignen“, so Habermas. Wie mühsam sich dieser Prozess der Aneignung gestalten kann, lässt sich am Beispiel des deutschen Protestantismus zeigen. Sein Verhältnis zur Demokratie ist von Ambivalenzen geprägt. Die Kirche der Reformation hat sich theologisch und kirchenpolitisch erst nach 1945 mühsam mit dem westlichen Verfassungsstaat arrangiert.«[1]
Der mühsame Prozess der Aneignung wird in diesem Artikel gut und kenntnisreich beschrieben. Für Menschen, die in den späten 60er Jahren zum politischen Bewusstsein gekommen sind, ist es durchaus erhellend, die eigene Vergangenheit einmal von außen nüchtern seziert präsentiert zu bekommen. Dem Autor ist auch beizupflichten, wenn er schreibt: »In der Langzeitbeobachtung über die vergangenen 70 Jahre zeigt sich, dass stark politisierte und im Gestus der moralischen Dauerempörung agierende Strömungen des bundesrepublikanischen Protestantismus im politischen Prozess stets in der Minderheit blieben und dann dazu tendierten, demokratische Legitimationsleistungen anzuzweifeln und zivilen Ungehorsam zu idealisieren.« Denn zugegeben: Im Vergleich zu manchen anderen Staaten funktioniert dieser Staat grosso modo doch recht ordentlich und wir müssen uns fragen, ob dem monierten Gestus der moralischen Dauerempörung metaphysische Dignität gebührt und sich der Protestantismus die nachmetaphysischen Begründungsfiguren einer säkularen liberaldemokratischen politischen Ordnung als solche zu eigen machen sollte.
Die Anerkennung einer Ordnung, die demokratischen Verfahrensregeln entspricht, scheint aber doch eher einem Rechtspositivismus verpflichtet und lässt beiseite, dass im Staate Deutschland auch manches faul ist. Muss man daran erinnern, dass sich der Gesetzgeber vielfach beharrlich verweigert, Entscheidungen des Verfassungsgerichts eine gesetzliche Form zu geben? Oder an die Nebeneinnahmen der Abgeordneten, den Einfluss der Lobby oder den basso continuo des Parteienegoismus[2]? Nur zähneknirschend mag ich dem Autor zustimmen, wenn er schreibt: »Der demokratische Verfassungsstaat bleibt in theologischer Perspektive eine gute Gabe Gottes und wird als Teil Gottes Willens und Wirkens in der noch nicht erlösten Welt beschrieben.« Auch ohne den Schaum des Fanatikers vorm Mund bleibt festzustellen, dass Widerstand gegen manche Fehlsteuerungen der Politiker nötig und auch theologisch gut begründbar ist.« Selbstverständlich können und sollten »solche Deutungsangebote … dazu beitragen, dass die Gläubigen eine säkular begründete Verfassung akzeptieren.« Richtig ist auch, dass es »zu den Paradoxien ausdifferenzierter Gesellschaften gehört, dass Politik und Religion einander nicht loswerden und doch nicht ineinander aufgehen. Demokratie ist auch eine Weise, diese dauerhafte Grundspannung auszuhalten«. Sein Wort in Gottes Ohr.
[1] Professor Dr. Hans Michael Heinig, Der Protestantismus in der deutschen Demokratie: FAZ-Print, Montag, 24. August 2015, S. 6
[2] Hier wäre Hans Herbert von Arnim zu empfehlen: Das System – Die Machenschaften der Macht
Ein Nachtrag als Warnung vor zuviel Staatsgläubigkeit: http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-08/abweichende-meinung-rechtskultur-fischer-im-recht/komplettansicht
„Arsch hoch, Zähne auseinander“
»In der öffentlich-rechtlichen Verwaltungsgemeinschaft („ARD ZDF Deutschlandradio Beitragsservice“) hängt seit Wochen der Haussegen schief.«[1]
Lohnt sich zu lesen, bringt aber nichts. Selbst wenn der Korruptionsvorwurf stimmen und es zu Gerichtsverfahren und gar zu Verurteilungen kommen sollte: die Phalanx von Parteien, Politikern und Verfassungsgericht bleibt bestehen und wir werden abGEZockt für Programme, die nicht zur „Grundversorgung“ gehören und die man getrost den Privatsendern überlassen sollte.
Hinzu kommt noch die Verhöhnung. Die GEZ hat sich zum „BEITRAGSSERVICE“ gewandelt, ein Service, auf den ich gern verzichte.
[1] http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/korruptionsvorwuerfe-gegen-beitragsservice-von-ard-zdf-und-deutschlandradio-13502006.html
Wem haben Sie bei der Bundestagswahl Ihre Stimme gegeben?
Wem haben Sie bei der Bundestagswahl Ihre Stimme gegeben?
Einer kleinen Partei ohne Aussichten? – Egal, ob aus Überzeugung oder Protest: Ihre Stimme ist weg.
Der FDP? – Ihre Stimme ist weg.
Den Grünen? – Ob das klug war, weiß ich nicht. Aber Ihre Stimme ist in der Opposition hoffentlich gut aufgehoben, doch weg ist sie auch.
Einer der klassischen „staatstragenden Parteien, die nun die große Koalition schmieden? – Dann ist Ihre Stimme auch weg, denn die machen damit, was sie wollen, nicht was Sie wollen – und das schon immer.
Vorgestern meldete sich in der FAZ Melanie Mühl zu Wort. Ob sie gewählt hat, weiß ich nicht. Sie schreibt auch nichts von Wahlen. Und dennoch hat ihr Beitrag zu einem für die meisten Wähler höchst wichtigen Thema viel mit politischem Vertrauen zu tun. Wer wählt, vertraut ja darauf, daß seine Stimme in seinem Sinne verwendet wird.
Frau Mühl, Journalistin bei dieser renommierten Zeitung, also mit wohl auskömmlichem Job, hat sich einmal informiert, wie es um ihre Altersvorsorge bestellt ist. Sie kommt zum Ergebnis: Dann stehe ich schlecht da.
Und dies hat sie so überzeugend und flüssig beschrieben, daß ich das gar nicht so gut wiedergeben kann. Ich kann nur empfehlen, den Artikel zu lesen.[1] Dann wissen Sie bei der nächsten Wahl, ob es sich lohnt, überhaupt hinzugehen. Vielleicht behalten Sie Ihre Stimme dann ganz einfach für sich. Dann ist sie auch weg, aber Sie haben Ihre Würde bewahrt.
Erich Kästner schrieb einmal, man müsse nicht so tief sinken, den Kakao, durch den man gezogen wird, auch noch zu trinken.
PS: Das mit dem „Pfaffenbetrug“ läuft nicht mehr. Dafür haben wir nun ganz säkularisiert den Politikerbetrug – und lassen uns für dumm verkaufen.
Ja, warum wohl?
»Rechnet man den Anteil der Splitterparteien und den der Unentschlossenen und Nichtwähler zusammen, haben 40 Prozent der Befragten den etablierten Parteien den Rücken gekehrt. Daran hätten auch die jüngsten Parteitage nichts geändert.«[1]
Der Fall Gauck und die »Heckenschützen«
Der Kandidat Wulf hat entgegen allen Erwartungen drei Wahlgänge gebraucht, um schließlich gewählt zu werden. Auch im letzten Wahlgang hat er nicht sämtliche Stimmen aus seinem Lager erhalten.
Heckenschützen seien es gewesen, die im Schutze der geheimen Abstimmung ihrem eigenen Lager untreu wurden. So die entlarvende Diffamierung, nicht nur von CDU-Seite. Heckenschützen sind Nicht-Kombattanten, francs-tireurs, Freischärler, gegen internationales Kriegsrecht. Hat also ein Krieg stattgefunden oder wenigstens kriegsähnliche Handlungen à la Afghanistan? Oder war es nur eine dem Gewissen der Abstimmenden folgende Stimmabgabe?
Schon zuvor wurden wir von diversen Medienvertretern darüber belehrt, daß politisches Kalkül schon immer die Präsidentenwahlen dominiert habe. Für wie naiv hält man uns? Selbstverständlich spielt auch hier die politische Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition die maßgebliche Rolle.
Doch wie ist die Popularität von Gauck zu erklären?
Politikverdrossenheit wurde genannt. Doch die Unterstützung von Gauck in der Bevölkerung war eine politische. Es geht also wohl eher um Parteienverdrossenheit – von rechts bis links. Wir haben ja gewußt, daß die meisten Bürger dieser Republik ausschließlich ihre magere Stimme haben, um politisch Einfluß zu nehmen. Eine Stimme, die sie wirklich „abgeben“, dann ist sie weg. Was daraus wird… ja, was wird daraus? Doch andere Akteure haben über ihre Wählerstimme hinaus deutlich mehr Einfluß. Damit meine ich nicht nur die läppische Möglichkeit, sich einen Gesprächstermin mit Herrn Rüttgers zu kaufen. Ob ich als Wahlbürger zur Wahl gehe oder nicht, ist im Einzelfall herzlich egal, und wenn ich keiner Partei über den Weg traue und ein großes diagonales Kreuz über den Stimmzettel mache, dann taucht meine Stimme nur unter denen auf, die zu dämlich waren, ihren Wahlzettel korrekt auszufüllen. Wie also kann sich Parteienverdrossenheit artikulieren?
Da war der parteilose Gauck ein Lichtblick, auch wenn er ins Kalkül von rot-grün paßte.
Doch nun zu den „Heckenschützen“: An diesem diffamierenden Sprachgebrauch wird deutlich, wie sehr die Parteien ihre vom Grundgesetz beschriebene Aufgabe überziehen. Zwar wird gesagt, die Wahl sei geheim und also frei. Doch wenn Abgeordnete von ihrem Gewissen Gebrauch machen, selbst wenn dieses von Denkzettelgedanken geleitet sein sollte, dann sind sie „Heckenschützen“. „Die Linke“ verhält sich dabei nicht anders als die etablierten Parteien, wenn sie zum dritten Wahlgang ihren Abgeordneten die Wahl ausdrücklich „frei“ gibt. Wie großzügig. Deutlich wird hier der Machtanspruch der Parteien. Von ihrer Partei aufgestellte und in der Folge gewählte Abgeordnete haben offensichtlich in erster Linie der Parteiräson zu gehorchen. Und so, wie sich die Parteien ihre Abgeordneten untertan gemacht haben, so haben sie sich diese Republik mit ihren Ämtern, Posten und Finanzquellen unter den Nagel gerissen. Ist es da ein Trost, daß sie nach der Pfeife von Interessen(ten) tanzen müssen, von denen ihre Stellung abhängt?
Die Heckenschützen haben nicht geschossen. Sie haben in den ersten Wahlgängen entgegen der Parteiräson Herrn Gauck gewählt, egal aus welchem Grund. So war der gestrige Tag ein Lichtblick für die Demokratie. Er hat gezeigt, daß die Macht der Parteien sogar in ihren eigenen Reihen begrenzt ist. Letztlich wurde doch Herr Wulf gewählt. Es gibt keinen Grund zur Annahme, daß er den Job schlecht machen wird. Und selbst wenn: Wir haben schon andere Präsidenten überstanden, schließlich ist deren Macht wirklich sehr begrenzt.
Herr Gauck kann sich sagen, daß er der Präsident nach dem Herzen der deutschen Bevölkerung gewesen wäre, doch die Verhältnisse, die sind nicht so. Die Wahl von Herrn Wulf hat uns gezeigt, was die Parteien von den Bürgern halten, nämlich nichts außerhalb der Wahl-Schau-Kämpfe. Immer wenn wir von Herrn Wulf lesen oder hören, werden wir uns daran erinnern.
Dafür: Herzlichen Dank, Herr Gauck!
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