Die kriminelle Karriere des Dieter Schulz sieht aus wie ein Schelmenroman – ist aber Realität
Das Leben von Dieter Schulz, geboren 1941, seine Lebensumstände und seine „Karriere“ bilden den Kern dieser Publikation[1]. Schon der einleitende Nachruf kündet von einem außerordentlichen Leben. Ausgangspunkt ist seine Autobiographie, geschrieben während eines 10jährigen Knastaufenthaltes und nach Aufforderung fortgeführt bis in die Zeit seines körperlichen Verfalls. Dieses Leben ist spannend. Vergangenheiten werden lebendig:
- Das Kriegsende und die Nachkriegswirren bis 1949 in Ostpreußen, die Rote Armee und die Überlebensbedingungen der verbliebenen Deutschen. Schulz lernt in dieser Zeit Russisch, die Grundlage für die erfolgreichen Schiebergeschäfte des 10/11-jährigen (!) später in der DDR.
- Seine Heimkarriere begann eher zufällig am 17. Juni 1953. Doch was für eine Karriere, bestimmt durch die Unfähigkeit der Heimerziehung in der DDR und abenteuerliche Heim-Fluchten, spannend erzählt.
- Im Westen, vom Vater abgeschoben, muss er sich durchkämpfen, bekommt eine erstklassige Kellnerausbildung, doch der Balkonsturz des schwarzen Liebhabers seiner Frau bringt ihm die erste Zuchthausstrafe ein.
- Eher zufällig beginnt er mit akribisch geplantem Automatenbetrug, hat immer wieder Pech mit seinen Helfern, besonders mit seinen Frauen, – das auch fürderhin.
- Schließlich misslingt ihm – auch eher zufällig – der große Coup: Ein riesiges Drogengeschäft, das er mit selbstgedruckten „Blüten“ bezahlen und dann untertauchen will. Doch ein bewaffneter Banküberfall hat mörderische Folgen.
Schulz inszeniert sich gekonnt. Lange ist man geneigt, alles zu glauben. Doch sein Sohn Sascha fügte noch ganz andere und sehr überraschende Aspekte bei und korrigiert damit das saubere Bild vom Verbrecher aus unheilvollen Verhältnissen. Doch ein Kämpfer war Schulz sein Leben lang. Klein, aber oho. Ein Aufstehmännchen.
Dieses Leben fordert kriminologische Forschung geradezu heraus. Wie kommt es zu Devianz, wie pflanzt sie sich fort? Die Publikation steht in ehrwürdiger Tradition, denn schon der Oberamtmann von Sulz am Neckar, Jacob Georg Schäffer, (1745-1814) erkannte die sozialen Missstände als Quelle von Kriminalität und wollte die noch jungen Kinder der „Janoven“ in Pflegefamilien untergebracht wissen.
Dieter Schulz als Person ist eher bedeutungslos. Zwar beschreibt er sein kleines Leben in faszinierender Weise. Doch es hülfe alles nichts. August Gottlieb Meißner (1753-1807) schrieb ganz richtig: „Sobald der Inquisit nicht bereits vor seiner Einkerkerung eine wichtige Rolle im Staat gespielt hat, sobald dünkt auch sein übriges Privatleben, es sei so seltsam gewebt, als es immer wolle, den meisten Leuten in der sogenannten feinen und gelehrten Welt viel zu unwichtig, als darauf acht zu haben, und vollends sein Biograph zu werden.“
Warum also ist Schulz nicht nur für Kriminologen interessant? Er entwirft beispielhaft, lehrreich und unterhaltsam ein Sittengemälde seiner Zeit. Zwar fragt er: „War es den Aufwand wert, dieses beschissene Leben vor den Bomben zu retten?“ Seine Antwort lautet aber: „Mein Leben sollte nicht unbedingt als Beispiel dienen, deswegen ist mein Leben lesenswert!“
[1] Man kann sie kostenfrei herunterladen. https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/115426/T%c3%bcKrim_Bd.%2045.pdf?sequence=1&isAllowed=y
Die Druckversion (print-on-demand) kann bestellt werden beim Institut für Kriminologie der Eberhard Karls Universität Tübingen, Sand 7, 72076 Tübingen, 07071 / 29-72931, Mail: ifk@uni-tuebingen.de
»Wenn der Richter das gelesen hätte, dann hätten Sie keine zehn Jahre gekriegt.« …
… sagte der Gefängniswärter. Kurt Krause tippt auf einer alten Justizschreibmaschine einen Teil seiner Biographie. 112 Seiten auf dünnem Durchschlagpapier, mit hüpfenden Buchstaben von Rand zu Rand eng beschrieben. Die Rechtschreibung ist abenteuerlich wie sein Leben. Schule kam nur am Rande vor. Wie denn auch? 1941 in Königsberg geboren, erst 1949 von dort in der DDR gelandet macht der 10jährige dank seiner Russischkenntnisse Schwarzmarktgeschäfte mit den russischen Soldaten und beginnt eine spektakuläre Heimkarriere durch 9 Heime, 28mal ausgerissen. Er schreibt vom Kreislauf »Heim/versaut-werden/weglaufen/Lage verschlimmern«. Endstation: Knast.
Wie hat er unter diesen Umständen so gekonnt schreiben gelernt? Auch ein spannendes Leben erzählt sich nicht von selbst. Er ist ein Erzähltalent und breitet vor dem Leser kunstvoll verwickelt mit Rückblenden und Vorgriffen seinen Lebensweg aus, den er im Anschluß an die 112 Seiten später, im „Ruhestand“ fortschreibt: Kriegsende und Rote Armee, Vergewaltigungen, Kohlenklau, Hamsterfahrten, als 13jähriger eine ménage à trois mit einem Polizistenpärchen, Fluchtversuch in den Westen samt Beschuß durch den Bundesgrenzschutz, Ausbildung zum Fallschirmspringer, als Stewart auf den Weltmeeren, und dann die kriminelle Karriere: sorgfältig geplanter Automatenbetrug und die „Dienstreisen“ nach England, Gewaltdelikte, Drogenhandel, Falschgelddruck und Bankraub. Dazu sein ewiges Pech mit den Frauen und das Bestreben, seine Kinder nicht einem Heim zu überlassen. Und die Sehnsucht nach der fernen angebeteten und nie erreichten Monika. All das ist mehr, als eigentlich in ein Leben paßt. Doch keine Larmoyance. Er hat früh gelernt, Kräfteverhältnisse und Bedingungen hinzunehmen, auch wenn sie ihm nicht passen.
Wir hängten uns große Beutel um und gingen Ähren lesen. Jedes Feld wurde streng bewacht. Einmal, ich war mit meiner Mutter alleine zur Ernte gegangen, tauchten plötzlich, wie aus dem Nichts, drei Soldaten auf. Wegrennen war nicht mehr drin. Diese Soldaten behaupteten ganz dreist, dass sie gesehen hätten, wie wir die Ähren von einem noch nicht abgeernteten Feld abgerissen hätten. Auf solch frevelhaftes Tun, Schädigung der Sowjetmacht, stand Bunker. Jeder wusste das. Auch meine Mutter. Die Soldaten ließen aber mit sich reden, wie sie sagten. Meine Mutter durfte sich sogar auf einen ausgebreiteten Militärmantel legen. Mit mir unterhielt sich ganz freundlich einer der Soldaten und versuchte mich abzulenken und aufzuheitern. Ich fand es aber gar nicht belustigend, als ich dann auch noch den Mantel später mit dem Schlüpfer meiner Mutter reinigen musste.
So lakonisch sind seine Beschreibungen nicht immer. Doch die Haltung ist typisch: Wer klein, also machtlos ist, muß die Dinge eben hinnehmen, wie sie sind. Doch wenn klein sich wehren kann, tut er es mit seinen Mitteln und besorgt sich ein optimales Alibi, während andere von ihm angestiftet das Kinderheim abfackeln. Dennoch wurde er als Rädelsführer erkannt und kam in ein Heim für ganz schwere Jungs.
Aus kriminologischer Sicht stellt sich die Frage, ob diese Lebensgeschichte von Beginn an so angelegt war, daß sie mit vorhersehbar hoher Wahrscheinlichkeit in erhebliche Kriminalität münden und hinter Gitter führen würde. In der traditionellen kriminalistisch-kriminologischen Theorie, Praxis und Kriminalpolitik war die Meinung verbreitet, der „typische Kriminelle“ sei jemand mit entsprechenden Anlagen, die ihn für eine solche Karriere unausweichlich bestimmen. Auch die Gegenansicht, der „Kriminelle“ gedeihe nur bei einem entsprechenden kriminogenen Nährboden, war letzten Endes deterministisch ausgerichtet. Aus vielfältigen qualitativen Analysen von Lebensgeschichten und ihren Windungen sowie aus quantitativen Verlaufsforschungen wissen wir heute, daß stets aleatorische Momente auftauchen, die das Leben in die eine oder andere Richtung lenken. Damit sind immer wieder Chancen und Versuchungen verbunden, deren Verwirklichung wiederum von den Lebensumständen beeinflußt wird.
Am Anfang der „Geschichten“ sind vielleicht die unmittelbaren Konsequenzen bestimmter Entscheidungen, nicht aber die langfristigen Folgen ohne weiteres erkennbar. Dies gilt dem Grunde nach für alle Lebensläufe gleichermaßen, für unauffällige, für besonders vorbildliche und für negativ abweichende. Bei jungen Menschen, die – in der Sprache der jüngeren Kriminologie – sich früh in Richtung Delinquenz und dann in die Kriminalität entwickeln, wäre es falsch, von einer früh festgelegten kriminellen Energie auszugehen. Vielmehr zeigt sich oft eine Lebens- oder bei schwierigsten Umständen auch buchstäbliche Überlebensenergie, die sich bei Bedarf auch „übergesetzlich“ manifestiert. Das, was im häufigen Kontakt mit vergleichbaren Notwendigkeiten in entsprechenden Lernumfeldern am Ende als kriminelle Karriere dasteht, ist eine dynamische, also keineswegs deterministische, aber doch quasi „naturwüchsige“ Entwicklung zu einem Leben als „gelernter Verbrecher“.
In solchen Biographien verläuft die Entwicklung von kindlichen Auffälligkeiten über jugendtypische Kriminalität und schließlich „Knast-Lehre“ zu immer professioneller werdenden gesetzwidrigen Methoden.
Kurt Krause brauchte keine Lehrmeister. Er ist durch und durch Autodidakt, geschult an seinen speziellen Lebensverhältnissen. Über weite Strecken hin war er ein Straßenkind, das erfolgreich auf der Straße gelebt und dabei auch gelernt hat: Wir wären gut, anstatt so roh, doch die Verhältnisse, die sind nicht so. [Bertold Brecht] Was hätte aus dem so pfiffigen und willensstarken Kurt Krause unter glücklicheren Umständen werden können?! Wahrscheinlich wäre Krause ein braver Arbeitnehmer und Familienvater geworden. Größere Chancen hat sein Jahrgang seinerzeit kaum bekommen, es sei denn, das Elternhaus gab die Grundlage. Und eins ist gewiß: Ein normal-bürgerlicher Kurt Krause hätte uns wenig zu erzählen gehabt. Ich glaube, er weiß das und sieht deshalb nicht mit Groll auf sein Leben zurück. Er belästigt weder sich noch den Leser mit Larmoyance.
»Bitte denken Sie immer daran, dass ich kein Schriftsteller im klassischen Sinne bin. Dafür reichen meine sechs Volksschuljahre bei weitem nicht aus. Zum Dichter nicht geboren, nicht ausgebildet. Das mögen Sie bestimmt an meiner eigenwilligen Schreibweise schon längst erkannt haben. Ich habe auch nicht vor, mit diesem Manuskript ein großes Werk zu präsentieren. Mit meinen begrenzten Mitteln will ich Ihnen lediglich das nackte, wahre Leben schildern, in das ich in einer Zeit hineingeboren wurde, die ich keiner zukünftigen Generation noch einmal zu erleben wünsche«.
In diese Grundeinstellung fügt sich, daß er an keiner Stelle seine im Erwachsenenleben heftiger werdenden Straftaten schönt, sondern seine kriminellen Unternehmungen mit nüchternem bis gelegentlich sarkastischen Blick schildert: So sein groß angelegter Münzbetrug, ein umfangreiches Drogengeschäft, das er mit selbst gedruckten Blüten finanzieren wollte, und ein Bankraub. Das Mißlingen dieser und anderer Geschäfte schreibt er zwar nicht den Umständen, wohl aber regelmäßig seinen Kumpanen zu.
Dem Leser tritt ein prall gefülltes, keineswegs nur kriminelles Leben vor Augen, für das Krause sich zurecht viele Leser wünscht, damit ihnen ein solches erspart bleibt.
Von außen betrachtet haben wir es mit einem Schicksal zu tun, das uns ausgehend von der Kriegs- und Nachkriegssituation in Ostpreußen über die Verhältnisse in der DDR in die bundesrepublikanische Gegenwart führt. Seine Biographie ist damit zugleich ein höchst anregendes und unterhaltendes Stück Zeitgeschichte mit Wiedererkennungseffekten. Die allerdings aus ungewohnter Perspektive.
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eine … Überlebensenergie, die sich bei Bedarf auch „übergesetzlich“ manifestiert
Der Name Kurt Krause ist fiktiv. Als ich Kurt Krause kennenlernte, war er ein unauffälliger Mann unterdurchschnittlicher Körpergröße. Inzwischen geht er, nach mehreren Schlaganfällen am Rollator und hat Mühe, seinen PC zu bedienen. Auch das ist unauffällig für sein Alter.
Das Leben des unauffälligen Kurt Krause ist filmreif. Ich gab seine auf der Knast-Schreibmaschine getippte Biographie einem bundesweit renommierten Kriminologen. „Publikationsfähig?“, fragte ich bei der Rückgabe. „Publikationsbedürftig!“, war seine Antwort. Sein Institut transskribierte den Text zu einer authentischen digitalen Version, also bearbeitbar. Wir formulierten den oben abgedruckten „Trailer“ und suchten nach Verlegern und potentiellen Drehbuchautoren. Bis heute: Fehlanzeige.
Die Biographie samt Ergänzungen durch Kurt Krause liegt bei mir – unerledigt.
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