Dierk Schaefers Blog

Die Vergewaltigung eines Kindes und der Rechtsstaat

Ein achtjähriges Kind wurde gegen seinen lebhaft geäußerten Willen vor den Augen seiner Mitschüler, seiner Lehrerin, vielleicht auch der Schulleitung mit Polizeigewalt auf Anordnung und im Beisein eines Gerichtsvollziehers aus dem Unterricht gezerrt und schreiend in ein Polizeiauto verfrachtet[1]. Der Vergleich mit Nazischergen verbietet sich, denn wir leben in einem Rechtsstaat. Darf der so handeln?

Zunächst einmal: Im Prinzip ja. Es gab einen Rechtstitel und der musste vollzogen werden, wie auch bei den Abschiebungen unserer abgelehnten Asylbewerber, wie bei der Festnahme von Delinquenten, deren Widerstand notfalls gebrochen wird. Auch Angeklagte werden gegebenenfalls gefesselt in den Gerichtssaal gebracht.

Doch wie steht es mit der Verhältnismäßigkeit?

Ich war 15 Jahre als Polizeipfarrer und schon davor mit ethischen Fragen staatlicher Gewalt beschäftigt bis hin zum „Todesschuß“, der als „Rettungsschuß“ bezeichnet ein moralischer Kurzschluss ist.

Es gibt eine Faustregel für Polizeibeamte: Ein Polizeieinsatz darf keine Situation hinterlassen, die polizeiwidriger ist als die Ausgangssituation.

So etwas kommt allerdings vor und wirft immer die Frage auf: War der Einsatz umsichtig vorbereitet und wird er offen und ehrlich nachbereitet? Hinterher ist man immer klüger, sollte man jedenfalls werden.

Zunächst die Abwägung der Rechte: Zur Durchsetzung des Rechtstitels war wohl erst einmal die Abholung aus der väterlichen Wohnung geplant, doch man sagte den Termin ab. Wahr­scheinlich fürchtete man den Widerstand des Vaters. Der war damit vorgewarnt und die Staatsdiener liefen in die Öffentlichkeitsfalle: Der Vater dokumentierte per Kamera. Wäre dieses Video nicht entstanden, dann … Na ja, dann wäre der Vorfall genauso problematisch gewesen, hätte aber nur eine kleine Notiz im Lokalblatt ergeben. Dumm gelaufen? Nein! Denn so wird der Fall ein grundsätzlicher und kann so öffentlich wie er wurde auch öffentlich beleuchtet werden.

Einem Kind ohne eigene Rechte und damit ohne Rechtsvertretung wurde ganz legal Gewalt angetan. Wie ein Schwerverbrecher wurde es abgeführt. Ich nenne es Vergewaltigung. Die Grundlage war eine Gerichtsentscheidung, nach der – um des wie auch immer verstandenen Kindeswohles willen –der Mutter das Aufenthaltbestimmungsrecht über das Kindes zuerkannt wurde, weil der Vater nicht in der Lage sei, dem Kind ein positives Mutterbild zu vermitteln. So etwa verstehe ich den mir nicht vorliegenden Beschluss.

Ich habe als Tagungsleiter an der Evangelischen Akademie Bad Boll die Ausbildung von Anwäl­ten des Kindes, heute heißen sie Verfahrensbeistand, mit konzipiert und geleitet. Mir sind solche Fallkonstellationen vertraut. Sie sind kompliziert in ihren Details. In diesem Fall ist leider nicht bekannt, ob der Vater sich gegen Kontakte zwischen Mutter und Kind, man spricht von „Umgang“, gesperrt und diese hintertrieben hat. Das kommt häufig vor. Meist ist es die Mutter, bei der das Kind lebt und die den Umgang mit ihrem Ex nicht toleriert. Es kann gute Gründe geben, solche Umgänge nicht zu wollen, auch gute Gründe, sie nicht zu dulden. Wie das hier lag, weiß ich nicht. Immerhin lebte das Kind beim Vater, so dass anzunehmen ist, dass von ihm keine Gefahr für das Kind bestand – es sei denn, man meint, ein Kind brauche unbedingt auch im Trennungs­fall den von Fürsorglichkeit und und elterlicher Liebe geprägten Kontakt zu beiden Eltern. Das Leben spielt zuweilen anders. Wie soll nach diesem Vorfall das Mädchen ein positives Mutterbild bekommen? Wie will man die Befriedung des elterlichen Konflikts erreichen? Denn vice versa soll das Kind doch wohl auch mit einem positiven Vaterbild aufwachsen. Hier wurde ein Scherbenhaufen angerichtet.

Der ist aber noch größer:

  1. Was sollen die Mitschüler vom Staat, vertreten durch uniformierte „Freunde und Helfer“ halten, der eine Kameradin dermaßen gewaltsam abführt? Eine Ver-gewalt-igung? Den Gerichtsvollzieher werden die Kinder wohl nicht als Drahtzieher wahrgenommen haben.
  2. Was sollen die Schüler von ihrem Lehrer/ihrer Lehrerin halten, die das Kind nicht geschützt hat, sondern zugesehen, wie man ihm Gewalt angetan hat? Ich habe meine Frau gefragt, sie ist Lehrerin: Wie hättest Du …? Nein sagte sie. Sie hätte nicht geduldet, dass eine Schülerin gegen ihren Willen aus dem Unterricht geholt wird – es sei denn, die Schuldirektion hätte sie genötigt. Die habe ein höherwertiges Hausrecht. Ich nehme an, die Direktion war zugegen, denn die Polizei wird über das Direktorat gegangen sein. Damit wurde in den Augen der Schüler das Ansehen der Schule generell geschädigt, die sie als Büttel der Büttel haben amten lassen. Was wäre wohl passiert, wenn analog zum Kirchenasyl Schule und Schüler ein Schulasyl organisiert hätten?
  3. Die Öffentlichkeit wurde Zeuge dieses Teils staatlicher Gewalt und ist empört. Die Hinter­gründe dieses Falls werden aus Datenschutzgründen verborgen bleiben. Der Vater jedoch wird sich den Mund nicht verbieten lassen. So bleibt allein die öffentliche Vergewaltigung eines Kindes im Gedächtnis.
  4. So haben letztlich auch der Staat und seine Rechtsorgane Schaden genommen.

Ein Scherbenhaufen als Ergebnis eines Polizeieinsatzes. Man hätte ja, da keine Dringlichkeit bestand, nach Erfragung des Kindeswillens wieder abziehen können, auch wenn der Gerichtsvollzieher protestiert hätte. Hier ist eine möglichst öffentliche und offene Fallaufarbeitung vonnöten.

Viel wichtiger ist die Wiederherstellung des kindlichen Vertrauens, das schon durch die Trennung der Eltern hinreichend erschüttert sein dürfte, das aber nach diesem Vorfall und der erzwungenen Zuweisung an die unmütter­liche Mutter total zerrüttet sein dürfte. Die Verge­wal­ti­gung hat rechtsstaatlich triumphiert. Schlimmer konnte nicht ausgehen. Trauer muss Justitia tragen.jpg

[2]

Wenn schon das individuelle Desaster kaum zu heilen scheint: Was ist zu tun, damit solche Fälle, die ja alltäglich sind, wenn auch nicht immer so spektakulär, möglichst vermieden werden?

Kinder brauchen einen Platz als eigenständige Rechtspersonen im Grundgesetz. Die Eltern­verbände werden aufschreien. Denn das wäre ein Recht im Einzelfall auch gegen die Eltern. Ob allerdings die Kinderrechte bei externen Personen und Institutionen immer in besseren Hän­den liegen, wage ich zu bezweifeln angesichts der fehlenden Ausbildung und der notorischen Überbelastung von Familien­richtern in Kindesangelegenheiten, die eben nicht allein juristisch zu behandeln sind. Auch Ver­fahrensbei­stände haben zuweilen nicht das Kind im Kopf, sondern ihre eigenen Vor­stellun­gen, wohin ein Kind gehört und wie es notfalls genötigt oder gar gezwungen werden sollte.

Auf dem Schlachtfeld partnerschaftlicher Auseinandersetzungen werden die Kinder leicht zu Opfern der „elterlichen Liebe“. Bei Scheidungen könnte, könnte ein Richter ja noch daran denken, wie der Scheidungskrieg zugunsten der Kinder eingehegt werden müsste. Diese primäre Schutzmöglichkeit fällt bei eingetragenen Partnerschaften oder gar beim ungeregelten Zusammenleben weg.

„Wenn Elefanten streiten, leidet das Gras.“

[1] https://dierkschaefer.wordpress.com/2018/03/10/oeffentliche-kindesentfuehrung/

[2] https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/8577129580/

Sex ist am wichtigsten

Posted in Kirche, Religion by dierkschaefer on 11. Oktober 2013

Was in der katholischen Dogmatik zählt, ist Sex, … ob ja oder ob nein.

 

Luzide und in erfrischender Offenheit nimmt der Bonner katholische Kirchenrechtler Norbert Lüdecke die „Handreichung“ für „die kommenden Jahre“, herausgegeben vom Erzbischöflichen Seelsorgeamt Freiburg als eine „Orientierung für die pastorale Praxis“ unter die dogmatische Lupe.[1]

Es geht um die Verweigerung der Sakramente für geschiedene und wiederverheiratete katholische Gläubige. Deren geschiedene Ehe ist nach katholischem Recht nicht geschieden, denn die Ehe ist ein Sakrament[2] und als solches dauerhaft gültig. Eheleute können getrennt von Tisch und Bett leben, die Ehe bleibt gültig und steht daher einer neuen Eheschließung im Wege. Wer dennoch wieder heiratet, lebt in der Sünde, früher nannte man es Konkubinat[3], weltlich gesprochen wäre es ein Fall von Bigamie.

Unter bestimmten Umständen, so Lüdecke, könne die Kirche ein solches nicht von der Kirche gebilligtes Zusammenleben tolerieren und den „Zugang zu den bislang zu verweigernden Sakramenten, … insbesondere zu Beichte, Kommunion und Krankensalbung“ ermöglichen. So, „wenn aus einer solchen neuen Verbindung bestimmte sittliche Verpflichtungen entstanden sind, die es moralisch nicht zulassen, das zu tun, wozu die neuen Partner verpflichtet wären, nämlich sich voneinander zu trennen.“, seien Kinder der Grund oder die Krankheit eines Partners. Doch diese Ausnahme gilt nur, „wenn die beiden Partner bereit sind, auf das zu verzichten, was eben nur in der Ehe erlaubt ist: den Sex.“

In der „Handreichung ist von „der Pflicht zur Enthaltsamkeit … nicht die Rede. Das bedeutet: Von der bislang ausnahmslos geltenden moralischen Norm und damit von einer wichtigen kirchlichen Lehre, deren Bezweiflung bislang etwa für Theologielehrende gravierende Konsequenzen haben konnte, wird für diese Paare eine Ausnahme gemacht. Galt früher ausnahmslos: „Kein legitimer Sex außerhalb einer kirchlich gültigen Ehe!“, so ist nun außerehelicher Sex unter bestimmten Bedingungen moralisch zulässig. Was lehramtlich bislang strikt zurückgewiesen wird, gilt jetzt partiell als zulässig.“

Damit bräche wirklich eine Weltordnung zusammen, denn dann „müssten auch Pastoralreferenten und Pastoralreferentinnen nach einer Wiederheirat nicht mehr entlassen werden. Geschiedene, die sich zum Beispiel in Pfarrgemeinderäten engagieren, könnten sich als nicht nur geduldet, sondern anerkannt fühlen.“

 

Prof. Lüdecke ist auch aus anderen Veröffentlichungen als Hardliner bekannt. Er rechtfertigt Zensur und die Kontrolle von Exegeten (Bibelauslegern) als „Heilsdienst“, mit dem Gläubige vor Irrlehren geschützt werden.

All dies zeigt deutlich und überzeugend, daß in einer Weltanschauung, in der es auf das jenseitige Heil ankommt, das Recht des Pursuit of Happyness[4] in dieser Welt dahinter zurücktreten muß. Das war auch das Prinzip in den kirchlichen, nicht nur in den katholischen Erziehungseinrichtungen.

 

Das Erzbischöfliche Seelsorgeamt Freiburg hat mit seiner Handreichung allerdings seinen Erzbischof in die Bredouille gebracht. Ist doch Herr Zollitsch[5] in der kommenden Woche in Rom, um in der causa Limburg für Abhilfe zu sorgen. Da ist es außerordentlich störend, wenn aus seinem Hause dogmatisch unzulässige Vorstöße kommen. Schließlich ist Loyalität gegenüber Rom ausschlaggebend für sonstige Beinfreiheit – übigens auch in sexualibus.[6]


»Eine geschiedene Ehe ist eine geordnete Sünde« …

Posted in Gesellschaft, Kirche, Religion, Soziologie, Theologie by dierkschaefer on 5. Juni 2013

… sagte Eduard Thurneysen[1], Professor für Praktische Theologie, in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts.

Ein solcher Spruch ist heutzutage befremdend, sind doch die Scheidungszahlen so radikal gestiegen wie das Sündenbewußtsein gesunken.

Doch gilt das ausnahmslos?

Jain!

Viele meinen, Pfarrer dürften sich eigentlich nicht scheiden lassen und erinnern an das Eheversprechen bis daß der Tod uns scheidet. Andererseits aber reichen die Scheidungsquoten evangelischer Pfarrer vermutlich an das Scheidungsverhalten der übrigen Bevölkerung heran – so genau wird das allerdings bisher nicht erhoben.[2]

Auch in anderen Verhaltensbereichen kann man ja erleben, daß Pfarrer verschärften moralischen Anforderungen genügen sollen. Sie sollen für alle beispielhaft sein, die dafür dann das Sündigen besorgen.

Da meinen manche, der Bundespräsident, ein Pfarrer, solle seine Familienverhältnisse „ordnen“, eine geschiedene Bischöfin sei nicht tragbar usw. usw. Ähnlich rigorose Anforderungen gelten für vorehelichen Geschlechtsverkehr, besonders im Pfarrhaus, oder gar gleichgeschlechtliche Liebe.

Doch bleiben wir bei der Ehe, zunächst bei der Ehe von Nicht-Pfarrern. Auch ich halte es für problematisch, angesichts der Scheidungshäufigkeit bei der Trauung die übliche liturgische Formel zu verwenden. Wir wissen doch, daß in der Hälfte aller Fälle nicht der Tod, sondern der Scheidungsrichter scheidet. Wie können wir guten Gewissens diese Realität, die ihre Gründe hat, ignorieren? Als Pfarrer, der fast sein ganzes Berufsleben mit Sonderaufgaben betraut war, habe ich nicht viele Trauungen[3] durchgeführt, aber immer gefragt, ob das Brautpaar diese Formel will. Zweimal erhielt ich zur Antwort: Nein. Wir wollen auf immer und ewig. Nun, wer meint, auch in diesen Angelegenheiten Verfügungen für die Zeit nach dem Tod treffen zu können, mag das tun. Doch es ist nun einmal so, daß in der Zeit des Honeymoons die Leute nicht ans Scheitern denken. In Frankreich allerdings werden Eheverträge geschlossen, die auch Regelungen für eine vorzeitige Beendigung der Ehe vorsehen.

Bis daß der Bolzenschneider kommt

Bis daß der Bolzenschneider kommt

Und nun zur Pfarrerehe und der Vorbildverpflichtung. Daß Pfarrerehen nicht unbedingt länger halten, als andere, würde ich nicht moralisch bewerten wollen. Da bei der Trauung in der Regel die Formel bis daß der Tod benutzt wird, ist in diesem Sinne eine Scheidung tatsächlich eine Sünde, aber eine geordnete. Da wir alle Sünder und auf Vergebung angewiesen sind, muß es auch für geschiedene Pfarrer einen – demütigen – Neuanfang geben, doch keine Demütigung durch andere, seien es Kirchenleitungen oder Gemeinden. Für die Vorbildwirkung scheint mir etwas anderes wichtiger: Wie geht die Scheidung vonstatten? Ist sie fair, gibt es so etwas wie ein – wenn auch mühsam erarbeitetes – Einverständnis, oder gab es ein Schlachtfeld mit lauter Blessierten oder gar einen Sieger auf der einen und einen wirtschaftlich und emotional am Boden zerstörten Verlierer auf der anderen? Hier darf man Anforderungen stellen, doch die sollten nicht nur für Pfarrersehen gelten, sondern ganz allgemein für den Umgang von Eheleuten miteinander.

Der Kirche ist vorzuwerfen, daß sie keine liturgische Begleitung für den Trennungs- und Scheidungsfall entwickelt hat. Sie diskriminiert damit Menschen, die ohnehin schon miteinander ihre liebe Not haben.[4]


[3] Es ist übrigens ein Irrtum, daß Ehen in der Kirche geschlossen werden. Dafür ist das Standesamt da. Bei der Trauung bittet man um den Segen Gottes für diese Ehe. Daß in romantischer Verklärung Ehen im Himmel geschlossen werden, steht auf einem anderen Blatt.

[4] Wer als Pfarrer in dieser Weise Stellung bezieht, wird gefragt werden, ob er nicht in eigener Sache spricht. Das ist nicht der Fall. Meine Frau und ich sind seit langem und in erster Ehe verheiratet. Wir haben bei unserer Trauung ganz bewußt auf die Todesformel verzichtet.

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