„Was ist das für eine dreckige Welt. Ich habe noch nie so eine schlimme Geschichte gehört.“
Das erzählt der Regisseur Marc Brummund über sein Spielfilmdebüt „Freistatt“ und die Misshandlungen in einer kirchlichen Fürsorgeanstalt.[1]
Extrem schlimme Geschichten – wie wappnet man sich dagegen?
Er sagt im Interview: „Ich habe versucht, mir einen Schutzmantel anzuziehen, damit es mir persönlich nicht zu nahe kommt“.
Schutzmäntel gibt es verschiedene. Ich selber war mit vielen schlimmen Geschichten konfrontiert, als Polizeipfarrer, später mit dem Thema Notfallseelsorge[2], noch später mit den Heimkinderangelegenheiten. Als Pfarrer muss man in der Lage sein, von einem Trauergespräch kommend ein Traugespräch zu führen. Und dies ohne Schauspielerei. Man muss in beiden Fällen dicht bei den Leuten sein, so schlimm die Trauer der einen und so zukunftsfreudig die Stimmung der anderen auch sein mag. Warum ich das konnte, das Einstimmen in die Situation und auch das echte Mitfühlen, das weiß ich nicht. Vielleicht habe ich als Kind zu oft und zu viele schlimme Geschichten gehört. Von schlimmen Geschichten geht ja auch eine gewisse Faszination aus. Wer sie konsumierend goutiert, ist widerlich. Man muss also schon genau hinschauen und sich einfühlen können.
Der Regisseur Marc Brummund zeigt sich fasziniert von der „Diskrepanz zwischen der neuen Bewegung der 68er, Liberalisierung in Politik, Sexualität, Rockmusik – und innen drin in dieser Gesellschaft haben sozusagen die Nazis weitergemacht.“ Es gibt auch einen persönlichen Bezug. „Freistatt“[3], lag im Moor bei Diepholz, „wo ich geboren und bis zum zehnten Jahr aufgewachsen bin, und auch als Schüler Ausflüge in genau dieses Moor gemacht habe. Das hat mich wahnsinnig berührt und bewegt, als ich mir vorgestellt habe: Irgendwo hier haben vor noch nicht langer Zeit Kinder und Jugendliche ganz heftig gelitten.“ Aber: „Ich habe versucht, mir einen Schutzmantel anzuziehen, damit es mir persönlich nicht zu nahe kommt“. Ob ihm der Versuch geglückt ist?
Ich erinnere mich an einen Zeitungsreporter. Er musste für seine Zeitung auch die schlimmen Verkehrsunfälle aufnehmen. „Ich war froh“, erzählte er, „dass ich zwischen dem Geschehen und mir die Kamera hatte“. So ein Foto-Objektiv kann tatsächlich „objektivieren“.
Und wer zufassen muss? Der Leichensachbearbeiter der Mordkommission, der Sanitäter, der Anatom? Ich habe mit vielen gesprochen.[4] Die Kripo zeigt sehr schnell die Bildmappen, Fotos, die nicht an die Öffentlichkeit kommen dokumentieren grauenvolle Details. Die Botschaft: „Schau her, das ist mein Job.“ Einer sagte, seine Hände vorzeigend: „Wenn meine Frau wüsste, was die anfassen, dürfte ich sie nicht mehr anfassen.“ Ein anderer, wir standen am Fenster und sahen einen Bauern am Pflug: „Der hat es gut, der kann was wachsen lassen, aber wir …“. Ein anderer kam von einer Leiche, die rund zwei Wochen im Wasser gelegen hatte, mehrere Stunden Arbeit im Regen. Er war sichtlich froh, dass ich in seiner Gegenwart das Gespräch mit den Eltern übernahm.[5]
Einen Schutzmantel anziehen – Der Regisseur sagt: „Ich glaube, wenn man liest, worum es geht, denken viele: Das tue ich mir nicht an.“ Ich tue meinen Kollegen vielleicht unrecht. Aber ich habe den Eindruck, dass sie einen Bogen um die schlimmen Geschichten der ehemaligen Kinder in kirchlichen Heimen machen. Bei mir jedenfalls fragt niemand nach. Wenn ich das Thema anspreche, ist man eher peinlich berührt oder wehrt ab.Vielleicht muss man die „Stories“ anders aufbereiten und einen Film draus machen wie Marc Brummund: „Die Resonanz von denen, die den Film gesehen haben, war Begeisterung und eine große Gebanntheit. Wahrscheinlich wird man danach mit einem Schlucken rausgehen. Es ist inhaltlich die ganz harte Kost. Aber in einer Art und Weise erzählt, dass man sagen kann: Das kann man sich angucken.“
O.k., das ist sein Film und wir können ihn uns angucken. Aber was dann?
[1] http://www.choices.de/das-war-bis-mitte-der-70er-gang-und-gaebe
[2] https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2015/03/notfallseelsorge2.pdf
[3] Man assoziiert unwillkürlich „Arbeit macht frei“. Wer bei diesem Slogan nicht an Auschwitz denkt, der lese bei Wiki nach: https://de.wikipedia.org/wiki/Arbeit_macht_frei , dort steht auch mehr, als ich bisher wusste. So wird das „Dachaulied“ genannt http://www.literaturepochen.at/exil/multimedia/pdf/soyferdachaulied.pdf , doch im Kontext von Freistatt passen die „Moorsoldaten“ besser. Es lohnt sich, nachzulesen: https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Moorsoldaten , der Text: http://www.volksbund.de/fileadmin/redaktion/BereichInfo/BereichPublikationen/Friedenserziehung/Handreichungen/0095_Moorsoldaten_lied.pdf
[4] mehr zum Thema: Dierk Schäfer und Werner Knubben, in meinen Armen sterben? – Vom Umgang der Polizei mit Trauer und Tod. VDP-Sachbuch
[5] https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2015/03/notfallseelsorge1.pdf
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