Dierk Schaefers Blog

Wenn Verjährung nicht greift, helfen milde Urteile.

Zwei Jahre und acht Monate Haft »wegen gefährlicher Körperverletzung und Misshandlung von Schutzbefohlenen. Der Staatsanwalt hatte vier Jahre gefordert. … Der 55 Jahre alte Ehemann der Gruppenleiterin … wird zu einem Jahr und acht Monaten auf Bewährung verurteilt. Außerdem muss er 3600 Euro zahlen. Eine 44-Jährige weitere Erzieherin erhält ein Jahr und drei Monate auf Bewährung, muss 1800 Euro zahlen. Berufsverbote, wie sie der Staatsanwalt gefordert hat, hält das Gericht für nicht notwendig.«

https://www.nwzonline.de/panorama/autistische-heimkinder-regelmaessig-brutal-gequaelt_a_31,2,3230315746.html

»Zweierlei Leid: Heimkinder mit Behinderung sollen weniger „Entschädigung“ bekommen.«

Ob man die Sendung[1] „nachsehen“ kann, weiß ich nicht.

Mir waren zwei Dinge wichtig:

  1. Ich sah die Menschen einmal „life“, die mir seit Jahren bekannt sind und für deren Interessen ich mich eingesetzt habe. Mit Herrn Homes hatte ich noch vor wenigen Tagen einen Mailaustausch und Herr Dickneite ist mir über Helmut Jacob ein Begriff. [Nachtrag von Herrn Jacob: Zu Klaus Dickneite, unserem Gruppensprecher, kann ich einen Link beisteuern, der seine Kindheit näher darstellt: http://gewalt-im-jhh.de/Erinnerungen_KD/erinnerungen_kd.html ]
  2. Die Aussage des hessischen Sozialministers kann man auf die Formel bringen: Diese Sorte Heimkinder soll froh sein, überhaupt etwas zu kriegen. Typisch Funktionär. Diese Art Leute ist schuld am Glaubwürdigkeitsverlust der Politik.

Zu Herrn Homes:

„Das war eine verlorene Kindheit“, sagt Markus Homes, wenn er sich an seine Vergangenheit zurückerinnert. Zehn Jahre seiner Kindheit hat er im Rüdesheimer St. Vincenzstift verbracht, einem Heim für Kinder mit körperlichen und geistigen Behinderungen. Im Alter von sechs Jahren wurde bei Markus Homes die Diagnose „Debilität“ gestellt, eine Diagnose, die sich später als falsch herausstellte. Markus Homes kam in das katholische Sankt Vincenzstift nach Rüdesheim, in dem sein zehnjähriges Martyrium begann. Prügel, sexueller Missbrauch, Erniedrigungen und Folter waren damals Alltag. Das ist unstrittig und belegt. Lange wurden die Geschehnisse diesem und vielen anderen Heimen von Behörden und Kirchen totgeschwiegen. Erst im Jahr 2006 nahm sich die Landesregierung dieser Thematik an. Sechs Jahre später wurde dann ein Fonds eingerichtet, aus dem Betroffene Zahlungen und Rentenersatzleistungen erhalten sollten. Ausgeschlossen von diesen Zahlungen waren bis jetzt allerdings alle ehemaligen Heimkinder, die in der Behinderten­hilfe oder in psychiatrischen Anstalten untergebracht waren – so wie Markus Homes und all die anderen Kinder im St. Vincenzstift. Am Donnerstag haben die Regierungschefs von Bund und Ländern jetzt beschlossen, gemeinsam mit den Kirchen einen Fonds für ehemalige Heimkinder mit Behinderung zu finanzieren. Allerdings sollen die Zahlungen niedriger ausfallen, als die für die nicht behinderten ehemaligen Heimkinder.«[2] [Nachtrag:Hier der Link zum HR-Beitrag:  http://www.hr-online.de/…/fernse…/sendungen/mediaplayer.jsp…  Quelle: © hr | defacto, 19.06.2016]

Zu Herrn Homes lohnt es sich nachzulesen, wie es ihm ergangen ist und wie die Aufarbeitung der Vorgänge bei den Vincentinerinnen eben nicht nicht stattgefundenen haben.[3] [4]Die Vincentinerinnen haben anscheinend bundesweit nicht nur eine besondere Rolle in der „Schwarzen Pädagogik“ eingenommen, sondern auch in der Abwehr der Vorwürfe mit der Drohung, juristisch gegen die „Verleumder“ vorzugehen.[5]

Wie es bei den Vincentinerinnen zuging, kann man einer Studie von Professorin Dr. Annerose Sieber entnehmen, die allerdings konstruktionsbedingt vorsichtig zu nehmen ist.[6] Die Studie führt im Titel auch die Jugendhilfe Marienhausen auf, sagt dazu allerdings leider nichts. Das wäre interessant gewesen, denn das vom katholischen Salesianer-Orden verwaltete Jugendheim Marienhausen war das Heim, in dem Jürgen Bartsch[7] untergebracht war und von „PaPü“, Pater Pütz missbraucht wurde.[8]

Man sieht: Eine umfassende Geschichte der Kinder- und Jugendheime[9] ist noch nicht geschrieben.

[1] http://www.hr-online.de/website/fernsehen/sendungen/programm_popup.jsp?key=hr-fernsehen_2016-06-19&row=23

[2] http://www.hr-online.de/website/fernsehen/sendungen/programm_popup.jsp?key=hr-fernsehen_2016-06-19&row=23

[3] https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/11/27/prugel-vom-lieben-gott-neu-aufgelegt-2/

[4] https://dierkschaefer.wordpress.com/2013/11/13/nach-tebartz-und-franz-kaspar/

[5] https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/04/06/merkwurdig-die-vinzentinerinnen/

[6] https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2014/04/ergebnisbericht_aulhausen_siebert-1.pdf hier besonders Seite 10 – 14, die eine deutliche Sprache sprechen.

[7] https://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%BCrgen_Bartsch

[8] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43231080.html Es wäre allerdings nicht korrekt, die Morde von Bartsch in speziellen Bezug zu PaPü zu setzne, denn sein Elternhaus war mindestens so katastrophal für die kindliche Entwicklung wie das Jugendheim Marienhausen. Mehr dazu. Paul Moor, Das Selbstporträt des Jürgen Bartsch, Frankfurt/Main 1972.img 13945

[9] egal ob Erziehungsheime, Heime für Menschen mit Behinderung oder Jugendspsychiatrien

Schwarze Pädagogik – Demütigung, Gewalt und Missbrauch

Posted in heimkinder, Justiz, Kinderrechte, Kirche, Kriminalität, Pädagogik by dierkschaefer on 17. März 2015

Die Kirche war und ist ein besonderes Biotop für Täter, aber auch sämtliche Einrichtungen, in denen Kinder, wenn auch nur zeitweise, in die unkontrollierte Obhut von Erwachsenen kommen. Prävention beginnt mit der Aufklärung dieser Erwachsenen und mit der Stärkung des Selbstbewußtseins der Kinder.

Das Video: Das Schweigen der Männer – Die katholische Kirche und der Kindesmissbrauch[1] zeigt das Grundproblem kindlicher Abhängigkeit, verschärft durch den Spezialfall der sakralen Überhöhung der Täter. Inzwischen wissen wir, dass auch Idole ohne sakralen Hintergrund ihre Position öffentlicher Anerkennung missbrauchen.

[1] http://www.daserste.de/information/reportage-dokumentation/dokus/sendung/ndr/Missbrauch-Kirche-das-Schweigen-der-Maenner-100.html video-tgl-ab-20-uhr-100.h 16.03.15 | 44:05 Min. | Verfügbar bis 16.03.16, »Wie ehrlich meint es die katholische Kirche wirklich mit der Aufarbeitung? Wie groß ist das Ausmaß des Skandals? Die Autoren Birgit Wärnke und Sebastian Bellwinkel haben hinter die Mauern der katholischen Kirche geschaut.«

Warum liegt die Leiche vor der Haustür der Kommissarin?

Posted in heimkinder, Kriminalität by dierkschaefer on 4. August 2014

Da liest man ahnungslos einen Krimi und ist mit einem Male mittendrin in einer brutalen Geschichte über ehemalige Heimkinder. Man merkt es wirklich erst „mittendrin“, denn dort erst wird die heiße Spur aufgenommen: »Die Schwarzen Pädagogen«, sagte Ann Kathrin Klaasen, »ar­beiteten gerne mit dem Rohrstock. Bitte denken Sie an die Ver­letzungen in der Hand von Frau Landsknecht. Mit dem Rohr­stock auf die Finger zu schlagen war eine ganz übliche Methode. Die Kinder mussten die Hände ausstrecken und abwarten, bis der Schlag kam. Wer sie wegzog, bekam ein paar Schläge mehr. Heinrich Jansen hat das ausdrücklich empfohlen. Auch das Fi­xieren von Kindern an Stühlen oder Bänken gehörte dazu. … Wenn der Täter früher eines von Jansens Heimkindern war, dann könnte er jetzt zwischen dreißig und vierzig Jahre alt sein. Wenn wir das Heim ausfindig gemacht haben, dürften wir den Täter dort in der Ehemaligenkartei finden.«[1]

Die Abgründe der Schwarzen Pädagogik sind so tief wie die des Menschen.

[1] Klaus-Peter Wolf, Ostfriesenblut, Frankfurt a.M., 201210

Geschichte einer geraubten Kindheit, Rezension

Posted in heimkinder, News, Pädagogik by dierkschaefer on 18. Februar 2010

Geschichte einer geraubten Kindheit

Die Erstauflage des Buches datiert von 2008. Zu dieser Zeit war „Jöri“ 62 Jahre alt. Der im Buch 14jährige erzählt mit vielen Rückblenden aus seiner Heimzeit. Am Ende des Berichts steht der Beginn der nicht gewollten Bäckerlehre – und wie es bei dem Bäcker zugeht, erfah­ren wir auch, denn ein Kamerad von Jöri war schon da.

Die Geschichte von Jenö Alpár Molnár kann man in doppeltem Sinne als Geschichte einer geraubten Kindheit lesen.

Den einen Aspekt einer geraubten Kindheit kennen wir aus der derzeitigen Heimkinderdiskus­sion: Unfähiges Heimpersonal, Prügel und Demütigungen, Gewalt, auch unter den Kindern selbst, bis zu sexuellen Übergriffen. Im Hintergrund Jugendämter, die die Kinder nur verwal­ten, und das möglichst kostengünstig.

Der andere Aspekt liegt in einem Geheimnis, ähnlich wie bei Oliver Twist oder bei Kaspar Hauser: Wer sind die Eltern von Jöri? Jöri wird als Waise behandelt, doch er ist fest über­zeugt, daß seine „Mom“ lebt und er auch einen Vater hat. Es sind nicht nur die üblichen Nachkriegsverhältnisse, die seine Familie auseinander gebracht haben. Das Geheimnis seiner Herkunft ist gezielt herbeigeführt. Die US-Besatzungsarmee in Österreich wollte Ehen zwi­schen ihren Soldaten und Einheimischen verhindern, so wie auch dafür gesorgt war, daß Va­terschaftsfeststellungen vereitelt wurden durch Versetzungen der Soldaten und Verschleie­rung der Spuren, wie ich es auch von einem Besatzungskind in Deutschland weiß. Diese von den besetzten Ländern akzeptierte Situation gilt bis heute. Allerdings verwundert das Verhal­ten der USA nicht, haben sie doch als einziges Land der Welt neben Somalia die UN-Kinder­rechtskonvention bis heute nicht unterzeichnet; die Konvention gibt dem Kind ein Recht auf Kenntnis seiner Herkunft. Im Fall von Jöri verweigerten die Behörden nicht nur Kooperation und Auskunft, sondern die Besatzungsmacht griff aktiv ein: Militärpolizisten holten den klei­nen Jöri ab, brachten ihn ins Heim und man sagte der Mutter, er sei beim Vater. Die Akten wanderten mit ins Heim, doch sie blieben lange Zeit geheim. Jöri aber „wußte“, daß seine Mutter auf ihn wartet (erst 1986 fanden die beiden wieder zusammen). Die Militärpolizei tauchte in den Träumen des kleinen Jöri auf.

Wie kam Jöri damit zurecht? Uns begegnet ein äußerst lebendiger Junge, zäh, umsichtig und mit ungeheurer Durchsetzungskraft – und er „trägt das Herz auf der Zunge“, wie es mehrfach heißt. Das hatten (und haben) Erzieher nicht so gern, denn solch ein Kind hat seinen eigenen Kopf, ist unbequem und tanzt aus der Reihe. Am schlimmsten war die prügelnde Schwester Margit; na ja, da ist auch noch die Heimleiterin, die Jöri brutal zusammenschlägt, nachdem er ihr eine Standpauke gehalten hat – und ihn schließlich zu dem Bäcker in die Lehre schickt, von dem sie weiß, wie er seine Lehrlinge skrupellos ausbeutet. Doch Lehrjahre sind keine Herrenjahre, meint auch das Jugendamt. Die Bäckerlehre ist kostengünstig – und die „Berufs­beratung“ eine Farce.

Wie kam Jöri damit zurecht? Das ist die Frage nach den Schutzfaktoren, nach der „Resilienz“. Davon hatte Jöri sehr viel. Über die Lebensenergie, die er von Geburt mitbekam, können wir nur spekulieren. Doch wir wissen, daß es Säuglinge und Kleinkinder gibt, die voll Energie stecken, manchmal durchaus zum Leidwesen der gestreßten Eltern. Und dann gibt es die „Pflegeleichten“. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Jöri jemals phlegmatisch war. Im Heim jedenfalls nicht. Wir sehen einen Jungen, der den Widerstand organisiert, sich für Schwächere einsetzt, der Schwester Margit – wie zum Schluß auch der Heimleiterin – die Leviten liest und planvoll und erfolgreich dafür sorgt, daß Schwester Margit das Heim verlassen muß. Er ent­machtet auch Stefan, den Primus und Liebling von Schwester Margit, und organisiert die Gruppe als Beistands- und Schutzgemeinschaft. Er gibt sich auch nicht damit zufrieden, daß die Heimleiterin nichts gegen die fünf Jungen tun will, die ihn überfallen und geschändet ha­ben, und er setzt sich durch. Jöri hat allerdings auch Unterstützer, nicht nur seine Kameraden. Da sind insbesondere die Schwester Gusti und der Lehrer, freundlich sind aber auch der Schreiner im Heim und die Küchenchefin. Sie sichern Jöri eine abgehobene Position, auch wenn der Heimalltag immer wieder unbarmherzig durchschlägt.

Mindestens genau so wichtig erscheint mir jedoch etwas anderes. Es ist das große Geheimnis, dem er auf die Spur kommen muß – und er „weiß“ eine ihn liebende Mutter irgendwo auf der Welt. Das heißt: In seiner Vorstellung existiert eine enge Mutter-Sohn-Bindung, die ihm Kraft gibt, den Mißhandlungen und Ungerechtigkeiten im Heim zu trotzen. Er fragt nicht nach den Elternhäusern der Kameraden, sieht die Nicht-Waisen eher im Vorteil, weil Jugendamt und Heim sich denen gegenüber nicht so viel herausnehmen können, wie bei den schutzlosen Waisen. Er fragt nicht, warum seine Kameraden nicht bei ihrer Familie aufwachsen, wo wir doch wissen, daß manche Familien ihre Kinder mißhandeln und mißbrauchen und sie deshalb im Heim leben. Daß viele Kinder unter der „professionellen Pädagogik“ ebenso lei­den mußten wie daheim, das steht auf einem anderen Blatt. Jöri ist seinem Geheimnis auf der Spur – und als es ihm aufgedeckt wird, darf er zwar darüber nicht sprechen, doch nun weiß er definitiv, daß er von seiner ihn liebenden Mutter fortgerissen wurde.

Die Biographie Jöris deckt nicht nur die „Schwarze Pädagogik“ in der Heimerziehung auf, sondern auch den Schandfleck des us-amerikanischen Umgangs mit Kinderschicksalen und in der Folge auch des österreichischen Staates, der nicht nur seiner Aufsichtspflicht über die Heime nicht nachkam, sondern Jöri als Staatenlosen ins Leben entließ. Es ist die Geschichte der Ausgrenzung als lästig empfundener Kinder, Kinder, die vom Personal weder gemocht werden (von geliebt ganz zu schweigen), noch nach den Regeln des pädagogischen Wissens­standes erzogen wurden. Heute verlangen diese Kinder Anerkennung, Rehabilitation und Ent­schädigung, in Irland, in Deutschland, in Österreich – und demnächst wohl auch anderswo, denn es ist nicht anzunehmen, daß es in anderen Ländern besser war. Doch auch jetzt sind sie nur lästig, die ehemaligen Heimkinder. Für Betroffenheitsbekundungen reicht es wohl, aber bis zu einer materiellen Anerkennung des staatlich zu verantwortenden, meist aber kirchlich praktizierten Unrechts ist es noch weit.

Wäre das Buch kein Lebensbericht, hätte es keinen dokumentierenden Bildanhang, könnten wir es als klassischen Bildungsroman lesen: Ein junger Mensch auf dem mit zahlreichen Hin­dernissen gespickten Weg ins Erwachsenenalter. Erzählform ist das Imperfekt, die Dialoge und reflektierenden Gedanken jeweils in der Gegenwart. Dadurch wird die „Handlung“ le­bendig und Jöri so sympathisch, daß man sich unweigerlich von Seite zu Seite mehr mit ihm identifizieren kann. Das gilt für sein heldenhaftes Verhalten und seine Klarsicht; aber auch für die ungewöhnliche Reife bei seiner unbefangenen Behandlung pubertärer Sexualnöte und für sein Liebeser­lebnis mit der Küchenhilfe Lisa. Wer in der damaligen verklemmten Zeit aufgewachsen ist, hätte an diesen Punkten jedenfalls gern mit ihm getauscht.

Doch dieser Bildungsroman mit Do­kumentationsanspruch wirft auch Fragen auf. Das Buch ist im Rückblick auf den 14jährigen und dessen Vergangenheit geschrieben. Das ist nicht unproblematisch, denn auch wenn man unterstellt, daß Jöri in Gedanken und Verhalten reifer war als altersüblich, so ist doch kaum anzunehmen, daß er damals zu den Formulierungen, Monologen und reifen Gedankengängen in der Lage war, wie im Rückblick auf den 14jährigen. Der Leser fragt sich, inwieweit in dieser Darstellung bereits die Gedanken und Verarbeitungsversuche, auch die Stilisierungsbemü­hungen des Erwachsenen den Blick auf den damaligen Jöri beeinflußt haben. Es mag auch sein, daß der Autor versucht, sich ein Stück des ihm gestohlenen Lebens zurückzuerobern. Auch wüßte man gern, wie es dem Jöri später erging. Hier vermißt man ein erhellendes Edito­rial, hervorgegangen aus einer auch psychologisch fachkundigen Begleitung beim Erstellen des Manuskripts.

Doch abgesehen davon: Ein lesenswertes Buch, das uns das Schicksal der abgeschobenen Kinder näher bringt und uns nachdenklich werden läßt; nachdenklich, weil wir immer noch nicht sicher sind, wie wir Kindeswohl außerhalb der Familie bieten können, wenn die Familie – warum auch immer – ausfällt. Die Prügelpädagogik ist zum Glück vorbei. Die Rechte der Kinder aber scheitern all zu oft an der Realität, die wir Erwachsenen für uns geschaffen haben.

Jenö Alpár Molnár, Wir waren doch nur Kinder …Geschichte einer geraubten Kindheit; August von Goethe Literaturverlag, Frankfurt, 20092, 301 Seiten, plus Bildanhang, 17,40 €

Rezensiert von Dierk Schäfer, Freibadweg 35, 73087 Bad Boll

Fon: (0 71 64) 1 20 55, Mail: ds [at] dierk-schaefer.de

Die Rezension bezieht sich ausschließlich auf das Buch.

Unter http://www.interview-trier.de/Molnar.html kann man mehr über „Jöri“ erfahren.

»Schwarze Pädagogik« – Ein Nachruf auf Katharina Rutschky

Posted in heimkinder, News, Pädagogik by dierkschaefer on 16. Januar 2010

»Schwarze Pädagogik« – Ein Nachruf auf Katharina Rutschky

Am Donnerstag dieser Woche, so vermeldet die Zeitung, starb Katharina Rutschky.

Ihre »Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung« mit dem sprichwörtlich gewordenen Titel »Schwarze Pädagogik« stand schon lange, und wie vieles nur angelesen in meiner Bibliothek, bevor ich mit Katharina Rutschky in Kontakt kam. Das war über ein ganz anderes Thema, für das sie sich beherzt zwischen alle Stühle gesetzt hatte. Ich plante 1994 eine Tagung, in der es auch um das Thema »Mißbrauch mit dem Mißbrauch« ging. »Sexueller Kindesmißbrauch in der Familie – ein Vorwurf und seine Folgen« war der Tagungstitel. Das war ein mutiges Unterfangen, doch das wußte ich anfangs noch nicht, sollte es aber bald erfahren. Zu den unerschrockenen Unterstützern gehörte Katharina Rutschky, und sie wußte schon, in welche Nesseln ich mich gerade begab. (siehe: »Zu den Folgen des Vorwurfs „Kindesmißbrauch“«, epd-Dokumentation No: 40/95).  Sie gab mir am Telefon bereitwillig und engagiert Auskunft und empfahl Referenten. Wir haben mit ihr eine mutige Frau verloren, die sich beherzt gegen manche Strömungen der Zeit stemmte.

Ihr Tod war mir Anlaß, wieder einmal in ihre Textsammlung zur Schwarzen Pädagogik zu schauen. Allein die Überschriften der einzelnen Quellenbeiträge lassen mich erschaudern: Fast das ganze Spektrum der Heim-„Erziehung“ in der Nachkriegszeit ist in diesen historischen Texten vorgezeichnet, nur wenige Texte stammen aus dem ersten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts, alle anderen sind älter. Sie dokumentieren die Angst vor dem Kind, das mit Zwang gebändigt und zivilisiert werden muß. Und sie dokumentieren die Selbstüberhöhung des Erziehers, der nach Blaschke (1828) »ein Organ der Gottheit« ist. Die Sorte von Gottheit haben die ehemaligen Heimkinder zur Genüge kennen gelernt. Sexueller Mißbrauch allerdings kommt in den Quellentexten nicht vor, denn Gottheiten sind asexuell, und die Erzieher müssen Götter bleiben. Doch ansonsten: Die Erziehung ist »ein ewiger, doch Heiliger Krieg«, so Sailer (1809). Das Kind und seine Triebhaftigkeit sind eine Bedrohung der bürgerlichen Gesellschaft. Bis zur Infibulation für pubertierende Jungen gehen die Anregungen.

»Aufsicht ist der Nerv der Erziehung« schrieb August Hermann Francke 1722 – und damit geraten wir schon in ein Dilemma. Aufsicht heißt neudeutsch »monitoring« und wird nicht ohne Grund als wichtig für die Kriminalprävention bei Kindern und Jugendlichen gesehen. Kindgerechte Pädagogik, die auf ein gelingendes Leben vorbereiten soll, bleibt unsere Aufgabe an den Kindern. Doch dazu bedarf es keiner Schwarzen Pädagogik, sondern der Achtung der Kinderrechte und unserer liebevollen Zuwendung. Zur Abschreckung lohnt es sich, Katharina Rutschky’s Buch zu lesen.

Die „Unwertigen“ – Welche Kinos bringen diesen wichtigen Film?

Posted in heimkinder, News by dierkschaefer on 28. Oktober 2009

»Sie wirkt gefasst, als sie den Kinosaal verlässt. Eine ernste Frau, die mit ruhiger Stimme spricht. Den Film hat sie schon mehrfach gesehen, ihren Film. „Das Thema ist im Film ganz neu. Das gab es so im Kino noch nicht.“ Doch es ist mehr als das einzigartige Thema, welches „Die Unwertigen“ beeindruckend und bezwingend relevant macht. „Kinder, die in der Naziideologie als unwert galten, wurden aussortiert und umgebracht. So bin ich auf den Titel „Die Unwertigen“ gekommen.“ … Besonders schockierend empfindet sie, dass Erziehungsmethoden und Wertesystem der SS-Zeit bis Ende der 60er Jahre beibehalten wurden: „Die haben sich genauso verhalten, wie die Nazis. Es war das gleiche Gedankengut. Hätte sich nicht eine Psychologin, Frau Zovkic, für Frau Schreyer eingesetzt, wäre sie immer noch eingesperrt. Die wertlosen Kinder lebten in einer gesellschaftlichen Nische nach dem Krieg. Keiner kümmerte sich um sie. Meistens war es Heime der Diakonie oder katholische Heime. Aber sie verhielten sich nicht christlich. Die Gesellschaft hat das damals nicht in Frage gestellt.“ Über das Finden der „unwertigen“ Kinder erzählt Renate Günther-Greene: „Es war ein richtiger Jugendtourismus. Die haben die Kinder quer durch Deutschland geschippert, um die Spuren zu verwischen. Dann wurden die Eltern lange nach dem Tod benachrichtigt. Teilweise haben Angehörige gemerkt, daß da etwas nicht stimmt. Es war das gleiche Prinzip wie zur Nazizeit.“ «

Volltext unter:

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