Gott wird Kind! Unorthodoxe Gedanken eines Pfarrers zur Weihnachtsgeschichte

Gott wird Kind! Er wird „niedrig und gering“, er begibt sich schutzlos in die Gewalt der Menschen. Das ist der Kern der Weihnachtsgeschichte – was für ein Narrativ! Ein Narrativ? Es dürfte eines der wirkmächtigsten Narrative in der Geschichte der Menschheit sein.
Ein Narrativ, so lesen wir bei Wikipedia, ist eine sinnstiftende Erzählung, es transportiert Werte und Emotionen. Narrative sind keine beliebigen Geschichten, sondern etablierte Erzählungen, die mit einer Legitimität versehen sind. Sie mögen also erfunden sein, aber nicht frei erfunden und erst recht nicht „erstunken und erlogen“, wie manche Kritiker der Bibel pauschal bemängeln. Man möge mir die falsche Etymologie nachsehen: Nur Narren halten Narrative für Narretei. Psalm 53,2: „Es spricht der Narr in seinem Herzen: Es gibt keinen Gott“.
Doch der Reihe nach: Keiner von denen, die bei Jesu Geburt dabei waren, hat die Sensationsmeldung verbreitet: „Gott wird Kind!“. Die Nachricht kam erst postum, nach dem Tod des „Gottessohnes“. Wir müssen also vom Ende her denken, auch zu Weihnachten. Ohne Tod keine Auferstehung und keine Weihnachtsgeschichte.
Der Mensch Jesus, ein Wanderprediger, wurde von seiner Gefolgschaft nicht nur verehrt, sondern für den Sohn Gottes gehalten. Erst sein unfassbarer Verbrechertod am Kreuz und die Erfahrungen seiner Gefolgschaft, er sei noch immer gegenwärtig, ließ sie nachdenken, wie alles angefangen haben könnte. Und so verlängerten sie das im Entstehen befindliche Narrativ von seiner Auferstehung und seinem Wirken als Wanderprediger bis zu seinem Lebensbeginn. Das war logisch – und da es mit Gott zusammenhängt: theo-logisch, und dieses sehr subtil und durchdacht – unter Rückgriff auf Narrative aus dem jüdischen Testament; wir nennen es das alte und schlagen damit einen großen Bogen von einer alten Religionsgeschichte zu einer neuen. So machte es schon Matthäus sehr ausgeprägt. Auf die Probleme will ich hier nicht eingehen.
Das Lukasevangelium schafft eine gar nicht so neue Verknüpfung. Denn schon im „Alten“ Testament war die Geschichte Israels mit der übrigen Geschichte verbunden worden. Lukas verankert die Kindwerdung Gottes in der Profangeschichte: „…es begab sich aber zu der Zeit des Kaisers Augustus, … da Cyrenius Landpfleger in Syrien war…“ Damit ist zwar nichts bewiesen, doch das Narrativ wird geerdet und logisch nachgerüstet: Dem Leben Jesu wird mit der Geburtsgeschichte ein Anfang gegeben – und der steckt, welch Wunder, schon voller Wunder, und voller Theo-Logik.
Gott wird Kind – was bedeutet das? Aus „Herr Gott“ wird das Kind Gott und er zum Vater-Gott. Ein Mensch wird zur Gottes-Mutter. Das hatte bei dem Schürzenjäger Zeus/Jupiter noch keine theologische Bedeutung, sondern gehörte zu den göttlich-allzumenschlichen Eskapaden.
Für mich sind zwei theologische Erkenntnisse wesentlich:
Mit der Menschwerdung Gottes in der Zeit von Augustus und Cyrenius beginnt die Säkularisierung: Gott wird weltlich.
Mit der Kindwerdung Gottes haben wir eine Aufgabe: Schutzlose Kinder um Gottes Willen zu schützen und zu fördern. An Fördern war damals noch nicht zu denken. Kinder wuchsen einfach in das Leben ihrer Eltern und deren Umwelt hinein. Ein Traum heutiger Sozialromantiker: Erziehen? Nein, einfach wachsen lassen! – Wir sind dagegen realistischer: Erziehung und Förderung sind nötig. Aber Fördern wohin, zu was?
Prof. Jürgen Eilert (et al.) beschreiben unter dem sperrigen Titel „Operationalisierbarkeit des Eigenstandsschadens …“ unsere Aufgabe bei Kindern. Der Begriff Eigenstand ist genauso sperrig. Gemeint ist die Stärkung der Persönlichkeit des Kindes, das im Sinne des Grundgesetzes frei – eigenständig – seinen Platz in dieser Gesellschaft einnehmen und behaupten können soll: „Es geht um die schrittweise zu entwickelnde Fähigkeit des Menschen, überhaupt verantwortliche Entscheidungen im Sinne der Ausgestaltung seines Persönlichkeitsrechtes zu fällen.“ Dazu gehört der soziale Aspekt. Nämlich „die schrittweise zu entwickelnde Fähigkeit des Menschen, soziale Verantwortung für den Eigenstand und das Persönlichkeitsrecht anderer Menschen zu übernehmen.“
Auf dem Weg zu dieser Eigenständigkeit kann manches schiefgehen, wenn wir nicht aufpassen. Ein Baby ist, wie wir schon länger wissen, ein „Nesthocker“, eine „physiologische Frühgeburt“. Wichtige Anteile der Reifung finden außerhalb des bergenden Mutterleibes statt und benötigen die Geborgenheit in der Umwelt des Kindes. Dafür gibt es Zeitfenster. Wenn die nicht genutzt werden, schlimmer noch, wenn dann falsche Prägungen erfolgen, dann ist das Fenster zu und eine Nachreifung sehr aufwendig. Wir denken dabei an die Traumatisierungen in Kindheit und Jugend, aktuell an den sexuellen Missbrauch von Kindern.
Gott wird ein schutzloses Kind. Im Narrativ wurde die Szene passend ausgemalt: Der herzlose Wirt, die ärmlichen Hirten, aber dann auch der Chor der Engel und das „Fürchtet euch nicht!“ Die Könige mit ihrem Stern kamen später hinzu – alles gut theologisch. Und schließlich der ganze Weihnachtskitsch. Doch der Kern bleibt: Gott wird Kind und erdet sich – und wir haben hier auf Erden eine Aufgabe – für die Kinder. Das kann auch schiefgehen: „Das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat‘s nicht ergriffen.“ (Jh 1;5).
Nachtrag
Ich habe jetzt ein Narrativ „aufgedröselt“. Ist es damit kaputt? Ich denke nein. Wir in meiner Familie pflegen und erzählen es weiter. Wir bauen die Krippe auf, lesen unseren mittlerweile erwachsenen Kindern die Weihnachtsgeschichte vor, wir „gehen auf Tournee“ mit „Bethlehem, Provence“ als „Szenische Lesung“ der südfranzösischen Weihnachtsgeschichte“, meist einbettet in einen Gottesdienst. Wenn genug Zeit ist, vergleiche ich im Gespräch mit den Zuhörern das Narrativ und die Erzählungen bei Lukas und Matthäus – da gibt es erhebliche Unterschiede. Wir stellen übrigens – ein anderes Narrativ – zum Nikolaustag unsere Stiefel vor die Terrassentür. Wir tauchen ganz bewusst in unsere Kindheitserinnerungen ein, wenn auch die Naivität weg ist: Das Narrativ erinnert an die Kindheit.
So ganz banal ist das Weihnachtsnarrativ nicht. Der geschmückte Weihnachtsbaum ist schön, aber ohne den Gedanken an einen Gott, der als Mensch geboren wurde und seinen Engel verkünden lässt: „Friede auf Erden den Menschen, die guten Willens sind“, ist das alles nur Brauchtum.
Damit bin ich schon wieder im Narrativ. Es ist „unkaputtbar“.
Zur Information zu Eilert (et al.): Ich habe den 29seitigen Essay der Autoren auf gut fünf Seiten „eingedampft“ – und die wenigen Sätze oben sind der Extrakt davon. Man lese nach:
Das Schweigen der Hirten[1]
Wenn Hirten unter dem Patronat ihrer Oberhirten selber wie Schafe nur dumpf vor sich hin-mampfen,

dann – ja dann ist etwas am Dampfen. Sie wissen schon was.
Vom katholischen Herdenbetrieb lese ich gerade: „Ich kenne weniger als ein Dutzend kath. Pfarrer, die sich an der Seite kirchlich und außerkirchlich Betroffener positionieren. Allerdings weiß ich nicht, ob es nicht doch mehr gibt, die ohne öffentliche Aufmerksamkeit an der Seite Betroffener handeln. Diejenigen, die sich öffentlich für kirchl. Betroffene bei Bischöfen einsetzten, wurden sanktioniert, sofern sie noch im Dienst waren. Pensionierten Pfarrern ging es da besser, die Bischöfe ließen sie halt machen – und ins Leere laufen.“
Ja, die armen Hirten, – wenn sie kujoniert werden, dann ist vielen die Soutane näher als das Gewissen.
Doch was lässt meine evangelischen Kollegen schweigen? Protestanten sollten anders sein und von der Freiheit eines Christenmenschen freien Gebrauch machen.
Was treibt sie, wer schweigt sie?
Die Frage beschäftigt mich, seit ich im Pfarrerblatt über „Die Kirchen und die Heimkinderdebatte, Scham und Schande“[2] schrieb und es keine Resonanz gab. Wenn allerdings jemand im Pfarrerblatt unorthodox über den Kreuzestod Jesu schreibt, gibt es einen Aufruhr im Leserbriefteil, wie wenn der Fuchs dem Hühnerstall einen Besuch abgestattet hätte.
Kürzlich frage ich einen Kollegen zum Schweigen der Hirten und fasse seine Punkte hier zusammen.
Als Gründe vermute er:
- Das Gefühl mangelnden Wissens. Auch er könne nicht behaupten, spontan die Sachlage einigermaßen korrekt darstellen zu können
- Auch könne die Befürchtung eine Rolle spielen, mit einer Thematisierung vor allem Skandal- oder Sensationslüsternheit zu bedienen.
- Er meint, wie ich es auch schon von anderer Seite hörte, dass das Ganze nach wie vor eher als katholisches Problem wahrgenommen werde. Man wolle einfach nicht wahrhaben, dass es auch die Evangelische Kirche betrifft.
- Auch ökumenische Rücksicht könne eine Rolle spielen. Denn wo man gut zusammenarbeite, möchte man nicht stören.
- Schließlich die Frage, wo und wie man das Thema unterbringen könne. Im Gottesdienst? Und was könne man damit erreichen wollen.
Ich habe dann noch ein mögliches Motiv hinzugefügt:
- Ich halte fast alle meiner Kollegen für so anständig, dass ihnen solch „unanständige“ Vorkommnisse total fremd sind und sie lieber einen Bogen machen – und dabei die Augen abwenden.
Dieser Kollege schickte noch eine weitere Begründung nach. Ich will das hier nicht ausführen. Aber er war Zeuge einer Retraumatisierung geworden und fühlte sich der Situation nur mit Mühe gewachsen. Dazu weiter unten.
Zu einigen der Motive lässt sich was sagen:
In den Gemeindegottesdienst gehört das Thema nur bedingt. Doch als ich das Buch über „Seelsorge nach sexuellem Missbrauch“ las und rezensierte, sah ich nicht nur eine Möglichkeit, sondern die Notwenigkeit, gerade auch im Gottesdienst das Thema Traumatisierungen anzusprechen, weil mutmaßlich in jeder größeren Versammlung von Menschen, also auch im Gottesdienst, Betroffene sind, die unerkannt und unangesprochen leiden.[3]
Nie würde ich ein solches Thema ohne Rücksprache mit dem katholischen Kollegen öffentlich angehen. Doch auf der Basis „Wir haben ein Problem gemeinsam“ könnte man vielleicht einen gemeinsamen Weg finden.
Aber wir müssen das Thema angehen. Die Berichte über die EKD-Synode sind sehr aufschlussreich und belastend.[4] Der zitierte Landesbischof Christoph Meyns zog vor der Synode eine gemischte Bilanz. Einer der vielen Betroffenen, mit denen ich in Kontakt bin, sagte mir, Meyns habe ihm am Telefon gesagt: Wir hätten mehr auf unsere Leute hören sollen. Damit habe er Leute wie mich gemeint.
„Wenn die Kirchen das Ruder nicht herumgedreht bekommen, schaffen sie sich noch selbst ab.“[5] – Das soll aber nicht die Hauptsorge sein. Es geht in erster Linie um die Opfer kirchlicher Akteure.
In der Printausausgabe des aktuellen Pfarrerblattes ist – soweit ich sehe – die erste repräsentative Stellungnahme aus dem Kollektiv der Pfarrer zum Thema Missbrauch abgedruckt. Es geht darin um den Datenschutz für des Missbrauchs beschuldigte Pfarrer. Das könnte man als angemessene Äußerung für einen Interessenverband abtun. Selbstverständlich sind hier auch Rechte zu wahren, die vor ungerechtfertigter Nutzung von Einträgen in Personalakten schützen sollen. — Aber dem Insider, wie auch den Betroffenen muss es übel aufstoßen, dass hier nur Schutzzäune hochgezogen werden, ohne auch nur 1. die Betroffenen zu erwähnen, ihre Aufklärungsrechte, ihren Anspruch auf Entschädigungen, 2. fehlt das erkennbare Bewusstsein, dass das Image der Kirche, das durch solch einseitiges Schutzgebaren weiter geschädigt wird – wenn das überhaupt noch möglich ist. Ich habe dazu dem Pfarrerblatt einen Leserbrief geschickt. Mal sehen, ob er abgedruckt wird.[6]
Die FAZ berichtet heute auf Seite 4 von einem „Digitalen Grundkurs zum Schutz für Schüler*innen vor sexuellem Missbrauch“[7], herausgegeben vom zuständigen Bundesbeauftragten. „Der Kurs kann kostenfrei unter „ www.was-ist-los-mit-jaron.de “ absolviert werden und ist bundesweit als Fortbildung anerkannt. Es gibt ihn für Grundschulen und weiterführende Schulen. … Durch praxisnahe Fallbeispiele können die Lehrer Wissen über sexuellen Kindesmissbrauch erwerben, Täterstrategien kennenlernen und Handlungsmöglichkeiten erfahren. „Kinderschutz braucht Handlungssicherheit“,“ Für Lehrer konzipiert – auch Pfarrer sollten ihn belegen.[8] @epd @kath . Die Kirchenleitungen sollten ihn zur Pflicht machen. Es wird Zeit, dass sie in die Puschen kommen. Sie können sich dafür das „Betroffenheitsgestammel“ sparen.
Glaubwürdigkeit könnten sie wiedergewinnen, wenn sie – ohne großes PR-Trara auf die Widersprucheinrede wegen Verjährung verzichten und deutlich machen, dass sie keine Vorteile haben wollen durch die – zuweilen erforderliche – Dauer der Entschädigungsverfahren, indem sie sich bereiterklären, die Ansprüche der Betroffenen gegebenenfalls auch deren Erben zu erstatten.[9]
Doch ich fürchte … Na, Sie ahnen es schon.
Fußnoten
Photo https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/2994135825/
[1] Den Titel habe ich entnommen aus: DER BODELSCHWINGH CLAN UND SEINE UNRÜHMLICHE GESCHICHTE (1831-2019), https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2021/03/text-blog.pdf, S. 1
[2] Dierk Schäfer, Die Kirchen und die Heimkinderdebatte, Scham und Schande, Deutsches Pfarrerblatt – Heft: 5/2010, https://www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/archiv?tx_pvpfarrerblatt_pi1%5Baction%5D=show&tx_pvpfarrerblatt_pi1%5Bcontroller%5D=Item&tx_pvpfarrerblatt_pi1%5Bitem%5D=2812&cHash=c4b8ff246ada75f62f33c0149af7be98
[3] Damit der Boden wieder trägt – Seelsorge nach sexuellem Missbrauch, 25. Januar 2016, https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/01/25/damit-der-boden-wieder-traegt-seelsorge-nach-sexuellem-missbrauch/ Betroffene gibt es auch im Kreis der Pfarrer. Ich kenne ein dramatisches Beispiel. Die Kollegin war von ihrem Vater missbraucht worden, und schon das Wort Vater im Vaterunser war ein Trigger.
[4] „Der Skandal um sexualisierte Gewalt in der Kirche trieb am Montag die Synode um“, https://www.zeitzeichen.net/node/9381Dazu auch:https://cdn-storage.br.de/iLCpbHJGNL9zu6i6NL97bmWH_-4c/_AiS/_2rP9-bd_U1S/c43d83fa-4300-4b1a-864c-a2c93832a1ca_3.mp3
[5] https://www.zeit.de/2021/48/lars-castellucci-spd-bundestag-religion-missbrauch-aufarbeitung/komplettansicht
[6] Wenn nicht, wird er hier erscheinen. Aber vielleicht möchte jemand beim Pfarrerblatt nachfragen?
[7] Da ich korrekt zitiere, habe ich das grammatisch unkorrekte * beibehalten. Ich bitte um Entschuldigung.
[8] Oben war die Rede vom Kollegen, der sich der Situation nur mit Mühe gewachsen fühlte. Hier gibt es Rüstzeug.
[9] Auf der langen Bank? Freeze now! 3. Januar 2010, https://dierkschaefer.wordpress.com/2010/01/03/auf-der-langen-bank-freeze-now/
Die Katholische Kirche setzt Maßstäbe – in zweierlei Hinsicht
»Bei der Bischofskonferenz in Fulda ist von Entschädigungssummen bis zu 400tausend Euro die Rede.«[1] Das ist wahrhaft spektakulär – aber noch nicht amtlich im Detail. Zu den nicht unwichtigen Finanzfragen weiter unten.
Wichtiger erscheint mir, dass zum ersten Male von einer Entschädigung für erlittenes Unrecht gesprochen wird. Beide Begriffe gehören zusammen. Bisher gab es Kompensationszahlungen für die Übergriffe einzelner Funktionskatholiken[2]. Gedacht sind diese Zahlungen für die Auswirkungen der Vergehen – man sollte von Verbrechen reden, die ursächlich sind für eine heutige wie auch immer prekäre Lage der Opfer. Die Opfer sprechen von Almosen, ohne Rechtsanspruch, oft verbunden mit Schweigeverpflichtungen.
Wenn nun die Kirche dezidiert von Unrecht spricht, dann hat das Rechtsqualität, der nicht mehr nur mit Almosen zu begegnen ist. Hiermit werden diese Opfer erstmals auf Augenhöhe wahrgenommen. Aus Bittstellern sind Anspruchsberechtigte geworden. Endlich!
Dieser längst fällige Schritt der katholischen Kirche setzt meine Kirche, die evangelische Kirche unter Druck, ihm zu folgen – ich hoffe, sie tut es.
Ein Schritt, der die Opfer ins Recht setzt hat auch psychologische Wirkungen. Es ist bekannt, dass viele Missbrauchsopfer dermaßen traumatisiert sind, dass sie sich nicht melden, um nicht die Verwundungen wieder aufreißen zu lassen. Sie scheuen auch den Antragsweg, der ihnen auferlegt, ihre Geschichte jemandem anzuvertrauen und nicht zu wissen, ob ihr Schicksal verstanden wird, insbesondere, wenn sie argwöhnen müssen, dass das Personal, an das sie geraten, kirchlich beeinflusst ist oder gar völlig unsensibel. Die neue Rechtsposition könnte ihnen den Rücken stärken, damit sie hervortreten, auf ihr Recht pochen und damit zugleich den Opferstatus abwerfen. „Ich brauche mich wegen meiner Geschichte nicht zu schämen. Was ich erlebt habe, ist vor aller Welt als Unrecht anerkannt.“[3]

Dabei ist noch an weiteres kirchlich zu verantwortendem Unrecht zu denken. Es sind ja nicht nur die sexuell Missbrauchten. In den kirchlichen Erziehungseinrichtungen geschah vielfach Unrecht auch nichtsexueller Art. Kinder wurden gedemütigt, misshandelt und ausgebeutet. Vielen wurde eine ihren Fähigkeiten angemessene Bildung und daraus folgend Ausbildung verwehrt. Am Runden Tisch der unsäglichen Frau Vollmer wurde ihnen ein Platz auf Augenhöhe vorenthalten. Sie wurden als bemitleidenswerte Opfer mit Almosen abgespeist.[4]
Dieses Kapitel ist neu aufzurollen. Auch hier ist Unrecht als solches zu benennen, auch hier muss angemessen entschädigt werden.[5] Dies eröffnet zudem neue Horizonte. Denn das Unrecht begann häufig mit der Einweisung durch die Jugendämter, setzte sich zuweilen fort durch die Einstufung normal-intelligenter Kinder als „geistig-behindert“. Fast durchgängig vernachlässigte der Staat[6] seine Aufsichtspflicht. Es war also nicht nur ein kirchliches Versagen im Erziehungsauftrag, sondern auch ein staatliches. Mögen die Kirchen also für diese Fälle den Staat in die Mithaftung nehmen, dann wird’s billiger.
Nun zum Detail, in dem der Teufel zu stecken pflegt.
Da ist von zwei verschiedenen Möglichkeiten der Entschädigung die Rede.[7]
Bislang gab es für die Opfer pauschal 5tausend Euro in Anerkennung des erlittenen Leides.
Nun schlägt eine Arbeitsgruppe der Bischofskonferenz in Fulda zwei Modelle vor:
Entweder eine Entschädigungssumme von 300tausend für jeden Betroffenen, oder ein gestaffeltes System mit Zahlungen zwischen 4tausend und 400tausend. Eine Mischform scheint nicht vorgesehen. So wird es wieder auf Einzelfallösungen hinauslaufen. Jeder Betroffene muss nicht nur das erlittene Unrecht belegen, sondern auch den Zusammenhang zwischen diesem Unrecht und den fortdauernden Auswirkungen.
Damit sind wir wieder bei dem, was ich schon vor acht Jahren die Bordellisierung missbrauchter Kinder genannt habe.[8]
Dennoch: Die katholische Kirche ist einen bedeutenden Schritt vorangekommen, hoffentlich hält sie durch, auch es auf geschätzt eine Milliarde Euro kommen dürfte.
[1] https://www.sueddeutsche.de/politik/missbrauch-kirche-entschaedigung-1.4615849?reduced=true
[2] Man verzeihe mir diesen unschönen Ausdruck. Gemeint sind Männer und Frauen in Diensten der katholischen Kirche, die als Priester, Ordensangehörige oder Lehrer sich an schutzbefohlenen Kindern und Jugendlichen vergangen haben. Zur Zeit wird in diesem Zusammenhang besonders an sexuelle Übergriffe gedacht.
[3] Photo: https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/2515968357/
[4] Ich will mich nicht ständig wiederholen: Dieser Blog ist voll von Heimkinderangelegenheiten und dem Runden Tisch, der von Beginn an auf Betrug angelegt war. https://dierkschaefer.wordpress.com/2015/01/03/der-runde-tisch-heimerziehung-ein-von-beginn-an-eingefadelter-betrug/
[5] Die Medien sprachen und sprechen unisono bei Zahlungen an ehemalige Heimkinder stets von Entschädigungen. Sie scheinen bis heute nicht kapiert zu haben, dass es erklärtermaßen keine Entschädigungen sein sollten, weil es sonst einen Rechtsanspruch gegeben hätte.
[6] Mit Staat sind hier alle involvierten staatlichen Einrichtungen gemeint, egal auf welcher Verwaltungsstufe.
[7] Diese Angaben sind entnommen aus https://www.sueddeutsche.de/politik/missbrauch-kirche-entschaedigung-1.4615849?reduced=true
[8] https://dierkschaefer.wordpress.com/2011/05/27/die-bordellisierung-misbrauchter-kinder/
Die Aufklärung der Missbrauchsvorwürfe gegen die Evangelische Brüdergemeinde Korntal
Das klingt ja überraschend gut: Ein neuer Anlauf zur Klärung der Korntaler Missbrauchsvorwürfe.[1] Endlich fragt auch mal jemand, „ob es eine spezifische religiöse Dimension der strafenden Pädagogik gibt.“
Die Akteure wirken glaubwürdig und alle Betroffenen wären gut beraten, sich von der Glaubwürdigkeit im direkten Kontakt zu überzeugen, gemeinsam ihre Forderungen und Sichtweisen einzubringen und nicht durch kontraproduktive Pressearbeit voreilig Druck aufzubauen.
Natürlich könnte es einen Punkt geben, an dem sie den Eindruck bekommen, dass nicht mehr rücksichtslos-neutral gearbeitet wird. Auf mich machen die drei im Artikel vorgestellten Akteure den Eindruck, dass sie furchtlos ermitteln werden.
Doch es scheint sich ein Drama zu wiederholen. Die ehemaligen Heimkinder im Hintergrund vom Prozess des Runden Tisches – damit meine ich nicht deren Vertreter – hatten sich darauf versteift, einen Rechtsanwalt gestellt zu bekommen, der zwar große finanzielle Hoffnungen weckte, aber seine Zulassung verloren hatte. Das war ein Eigentor, denn damit hatten sie ihren Vertretern am Runden Tisch die Möglichkeit genommen, energisch von der „Moderatorin“ Vollmer Waffengleichheit einzufordern, nämlich die Finanzierung einer Rechtsberatung durch eine renommierte Anwaltskanzlei. Die Zerstrittenheit der ehemaligen Heimkinder im Hintergrund des Runden Tisches Heimerziehung spielte denen in die Hände, die keinerlei Interesse an einer nennenswerten Entschädigung hatten; das waren die Interessenvertreter von Staat und Kirche. Die Machtasymmetrie am Runden Tisch blieb unangesprochen und unangefochten und ein echter Rechtsfriede wurde bis heute nicht erreicht.
Und nun wieder ein gleiches Szenario in Korntal. Die Einen lassen sich auf den Prozess ein und die Anderen mauern. Ein jämmerliches Bild. Aber ein déjà-vue.
Man lese und beherzige: „Der Runde Tisch Heimkinder und der Erfolg der Politikerin Dr. Antje Vollmer“.[2]
[1] https://www.kontextwochenzeitung.de/gesellschaft/318/wer-traut-hier-wem-4347.html
[2] https://dierkschaefer.wordpress.com/2011/01/31/der-runde-tisch-heimkinder-und-der-erfolg-der-politikerin-dr-antje-vollmer/
Nachtrag
Die Aufklärer scheinen wirklich gute Arbeit zu leisten. Korntal 29.05.2017 Aufklärer sehen System der Gewalt
Zermürbungskrieg – In Korntal nichts Neues.
Nach wie vor liegen sich die „Brüder“ der Brüdergemeinde Korntal und ehemalige Kinder aus dieser Einrichtung im Stellungskampf gegenüber. In solchen Abnutzungskriegen gibt oft nur Verlierer – auf beiden Seiten.
Die Position der Landeskirche
Die Brüdergemeinde hat sich eingeigelt, ihre Gegner erscheinen hilflos und haben sich in der letzten Zeit darauf beschränkt, die Brüdergemeinde zu verbellen. Darüber hinaus nehmen sie auch den Landesbischof der Württembergischen Landeskirche ins Visier. Der soll eingreifen. Doch der wird ’nen Teufel tun, soweit man einen Landesbischof mit dem Teufel in einem Atemzug nennen darf. Über die behauptete völlige Unabhängigkeit der Brüdergemeinde von der Landeskirche lachen zwar die Hühner, die Bischof July bei seiner letzten Visitation öffentlichkeitswirksam gefüttert hat.[1] Doch warum sollte er sich in der Pflicht sehen? Täte ich auch nicht. Das sollen die Brüder selber ausbaden.
Hinzu kommt die starke Stellung der Pietisten in der Landeskirche. Selbst wenn er wollte, er kann gar nicht anders. »Frank Otfried July, Landesbischof der Württembergischen Landeskirche, sieht die „Pietistische Frömmigkeit als Aufgabe kirchenleitenden Handelns“ und [sein Beitrag im Pfarrerblatt] trägt den für manche verwirrenden aber treffenden Untertitel „(K)ein Kirchlein in der Kirche?“. Zum Verständnis mag ein Zitat aus dem FOCUS helfen: „Nur wenige Landeskirchen sind so stark vom meist strikt konservativen Pietismus geprägt wie die württembergische. ›Sie durchsetzen die Württembergische Landeskirche wie die Hefe den Teig‹, sagt der Schorndorfer Dekan Volker Teich.« July sieht den Pietismus als „Herausforderung für kirchenleitendes Handeln“. »Das „Pietisten-Reskript 1993“ sei Ausdruck des Gelingens dieser Aufgaben. Dort heißt es einleitend: „Das Reskript hat dem sich immer weiter ausbreitenden Pietismus ein verantwortliches Eigenleben innerhalb der Kirche ermöglicht und dadurch einer separatistischen Absonderung gewehrt. Der Pietismus bekam offiziell Heimatrecht in der Landeskirche (…) und wurde zu einem Element württembergischen Kirchenwesens, das sich auch in den späteren Phasen der Geschichte in seiner belebenden und aufbauenden Kraft bewährt und als tragfähig erwiesen hat.“ Doch manche Grundlinien seien gleichgeblieben: so »die Abwehr separatistischer Absonderung pietistischer Gruppen und die Vitalisierung der Kirche durch die ›belebende Kraft‹ des Pietismus.« [2] Nicht nur July steckt in der Zwickmühle, seine Landeskirche auch. Würde July – wenn er es denn wirksam könnte – in den Streit mit der Brüdergemeinde eingreifen, bekäme er Streit mit den Pietisten in der Landeskirche. Die haben längst Parallelstrukturen zur Landeskirche aufgebaut und brauchen diese Kirche nicht unbedingt. [3]
Die Position der Ankläger
Seit einigen Wochen gab es nur ein eher hilfloses Gekeife. Das können die Brüder ruhig aussitzen. Nun gibt es einen neuen Ansatz vom Netzwerk BetroffenenForum e.V. mit der Überschrift: Wir reden Klartext.[4] Dort heißt es abschließend: » … fordern wir alle Missbrauchsopfer der Brüdergemeinde Korntal, gleich ob sie sexueller, körperlicher oder psychischer Gewalt unterzogen waren, auf, unbedingt und sofort, unabhängig von eventuellen Verjährungsfristen, Anzeige bei der nächsten Polizeidienststelle oder der zuständigen Staatsanwaltschaft zu erstatten. Die Anzeige soll gegen die Organisation gestellt werden und darin können evtl. einzelne Personen genannt werden. Eine Ablehnung der Protokollierung ist nicht zulässig. Lassen Sie sich die Anzeige bestätigen!« Denn, so die strategische Überlegung: »würde alles bekannt werden, müssten die Jugendhilfeeinrichtungen der evangelikalen Brüdergemeinde Korntal auf den Prüfstand und gegebenenfalls einem anderen Träger übertragen werden!«
Was ist davon zu halten?
Dem Aufruf zur Anzeige werden nur wenige Betroffene folgen. Weiß denn die nächste Polizeidienststelle oder die zuständige Staatsanwaltschaft mit dieser psychologisch wie rechtlich heiklen Materie umzugehen?
Der Aufruf ist nicht dazu geeignet, dass alles bekannt wird. Da müssen die Betroffenen schon selber ran. Sie sollten eine unbefangene Vertrauensperson finden, zu der die „Opfer“ Vertrauen aufbauen können. In einer Reihe von Gesprächen kann der jeweilige „Fall“ rekonstruiert werden, kann Mut gemacht werden, offen zur Aussage zu stehen: Ich, N.N., war von — bis in einer Einrichtung der Brüdergemeinde und habe dort folgende Übergriffe von XY und YZ erlebt. Ich halte es für verfehlt, die Organisation anzuklagen, sondern immer nur den oder die Täter. Ansonsten gilt: Wer mehr als einen warmen Händedruck will, muss aus der Anonymität heraustreten – anders geht es in einem Rechtsstaat nicht. Die Opfer sollten sich nicht absprechen, denn das Gedächnis ist nicht immer zuverlässig und ist vor allem formbar. Lediglich das Prozedere muss mit der Vertrauensperson abgesprochen werden. Man sollte möglichst viele Details nennen, die von der Vertrauensperson gesammelt und sortiert werden. Wenn’s zu Anzeigen reicht, dann los. Wenn es lediglich Erlebnisberichte sind, die leicht angezweifelt werden können, oder für die Verjährung gilt, dann muss man sich eine andere Öffentlichkeit suchen. Ich würde ein öffentliches Tribunal in Korntal veranstalten. Die Presse wird Interesse haben.
Die Position der Brüdergemeinde
Man muss deutlich unterscheiden zwischen Tätern und Vertuschern. Selbst die Vertuscher können guten Glaubens sein, dass diese „ungeheuerlichen“ Vorwürfe erfunden sind. Für diese Personen müssen die Vorwürfe glaubhaft gemacht werden. Darum: keine inhaltlichen Absprachen unter den Opfern! Darum: eine seriöse Person als Faktensammler!
Zur Ungeheuerlichkeit der Vorwürfe: Für die meisten Mitglieder der Brüdergemeinde sind diese Vorwürfe unvorstellbar. Sie widersprechen dem eigenen Lebensentwurf – und der ist fromm, gottgefällig und bibeltreu. Das Verhältnis zur Sexualität ist nicht offen – verklemmt wäre das falsche, weil diskriminierende Wort. Für diese Gläubigen ist der Herrjesus immer dabei, auch im Ehebett[5]. Und bevor meine Leser jetzt breit grinsen: Ich hoffe doch für sie und ihren Partner, ihre Partnerin, dass sie im Bett nicht einfach die Sau rauslassen, sondern auch dort nicht gegen ihre Wertevorstellungen handeln und auf die Menschenwürde beider Partner achten.
Diese Gläubigen glauben noch an das Jüngste Gericht[6] (Mt 25,31-46). Die meisten sind keine Missbraucher. Sie werden jedoch mitschuldig, das sagt auch der Text der Betroffenen deutlich. Biblisch gesprochen: Ich bin missbraucht worden, und du hast meine Klage beiseite geschoben.[7]
Nun ist das Netzwerk der Betroffenen am Zuge. Viel Erfolg!
Übrigens: Die Leute mögen ja komisch wirken, aber es gibt gute Gründe, den Pietismus und seine Gläubigen sachgerecht zu verteidigen.
Fußnoten
[1] „Auf dem Schulbauernhof füttert auch der Bischof die Hühner – Landesbischof Frank Otfried July besucht die Diakonie der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal“ https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/07/31/blieb-der-juli-ohne-july-korntal-war-keine-chefsache/
[2] Zitate in diesem Absatz aus: Dierk Schäfer, Nachgedanken zu den Aufsätzen von Hans-Martin Barth, Christoph Dinkel und Frank Otfried July im »Deutschen Pfarrerblatt 2/2016« – Ekklesiologische Schlaglichter – http://www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/archiv.php?a=show&id=4037
[3] Es sollte hinzugefügt werden: Diese Parallelstrukturen wurden von unseren Evangelikalen selber finanziert, neben der regulären Kirchensteuer.
[4] Wir reden Klartext!
Wer jetzt im Missbrauchsskandal der Brüdergemeinde Korntal wegschaut und diese „bibeltreue, evangelikale“ Gemeinde gewähren lässt oder sie gar unterstützt, macht sich mitschuldig!
Die Brüder haben in der Vergangenheit, als wir Betroffenen noch Kinder waren, alles vertuschen können – nun sind andere Verantwortliche zuständig. Die Strukturen der Brüdergemeinde HYPERLINK „http://www.heimopfer-korntal.de/“Korntal haben sich jedoch nicht verändert.
Wir sind heute erwachsene Menschen mit eigenen Biographien, doch die Brüder glauben, uns heute noch behandeln zu können, wie ihre ehemaligen Heimkinder, denen von einigen ihrer „christlichen“ Mitarbeiter auf das übelste sexuelle Gewalt angetan worden ist. Heute beginnt der Missbrauch erneut, mit anderen, nicht weniger perfiden Mitteln!
Klaus Andersen, der Laienvorsteher der Brüdergemeinde Korntal betreibt nur Symbolpolitik. An einer unabhängigen, und umfassenden, sowie nachhaltigen Aufklärung und Aufarbeitung ist er und seine evangelikale Gemeinde überhaupt nicht interessiert. Er beauftragt für viel Geld Menschen, die den Auftrag haben, aktive Betroffene bewusst zu verletzen, vorzuführen und menschenverachtend zu behandeln, mit dem Hintergrund, diese mundtot zu machen, damit nicht alles an Perversionen dieser „Christen“ auf den Tisch kommt.
Denn würde alles bekannt werden, müssten die Jugendhilfeeinrichtungen der evangelikalen Brüdergemeinde Korntal auf den Prüfstand und gegebenenfalls einem anderen Träger übertragen werden!
Andersen schaut diesem Treiben in seiner „evangelikalen“ Gesinnung strahlend zu.
Wir werden dafür Sorge tragen, dass alles schonungslos offengelegt wird, dass der evangelikalen Brüdergemeinde Korntal die Verantwortung zur „Aufklärung“ von höchster Stelle entzogen wird. Denn die Täterorganisation hat nur ein Ziel: Ihre Einrichtungen vor der Insolvenz zu bewahren und ihre Gemeinnützigkeit zu schützen!
Ihr Bestreben ist, möglichst viele Informationen, Daten und Fakten von Betroffenen zu erhalten, um damit eine selbstgemachte „Aufklärung“, möglichst ohne Schäden an der Organisation, ablaufen lassen zu können.
Deshalb rufen wir alle Betroffenen/Opfer auf, sich nicht bei der Täterorganisation Brüdergemeinde Korntal zu melden und auf kein Treffen zu gehen, das von der Brüdergemeinde Korntal und der AG Heimopfer Korntal geplant ist.
Wir warnen ausdrücklich vor diesem Vorgehen, denn die evangelikalen Brüder wollen gemeinsam mit ihren Beratern und der AG Heimopfer Korntal, ein beschleunigtes Verfahren. Damit möchte man auf die Schnelle den Betroffenen/Opfern, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, einen lächerlichen Betrag von bis zu 5.000 € bezahlen. Andere Betroffene/Opfer von körperlicher, psychischer Gewalt erhalten nichts!
Wir haben aus den Fehlern in der Vergangenheit gelernt; die aktuellen Entwicklungen zeigen ganz deutlich, dass unser Weg richtig ist.
Der „Aufklärungsprozess“ der evangelikalen Brüder ist erneut gescheitert. Ohne Betroffene/Opfer wird und kann es im Missbrauchsskandal der evangelikalen Brüder keine Aufklärung/Aufarbeitung geben!
Wenn sich die evangelikalen Brüder, sowie deren Beauftragte, nur ansatzweise vorstellen könnten, was es heißt, als kleines Kind von einem Erwachsenen anal missbraucht zu werden, Sperma ins Gesicht zu bekommen, Fremdkörper (Schraubenzieher) in den Anus eingeführt zu bekommen, würden sie ganz anders vorgehen, denn wir sind überzeugt, die evangelikalen Brüder und ihre Beauftragen würden uns verstehen – wären es dann doch auch ihre Schmerzen, mit denen wir täglich zu kämpfen haben.
Zum Schluss fordern wir alle Missbrauchsopfer der Brüdergemeinde Korntal, gleich ob sie sexueller, körperlicher oder psychischer Gewalt unterzogen waren, auf, unbedingt und sofort, unabhängig von eventuellen Verjährungsfristen, Anzeige bei der nächsten Polizeidienststelle oder der zuständigen Staatsanwaltschaft zu erstatten. Die Anzeige soll gegen die Organisation gestellt werden und darin können evtl. einzelne Personen genannt werden. Eine Ablehnung der Protokollierung ist nicht zulässig. Lassen Sie sich die Anzeige bestätigen!
Verein Netzwerk BetroffenenForum e.V.
Detlev Zander Betroffener, Sprecher Netzwerk BetroffenenForum e.V.
Kontakt: dzander@aufarbeitung-korntal.de 0172 / 4714 241 Plattling 19.03.2017
[5] Man muss sich vor Augen führen, dass das Verhältnis zu Jesus für viele Gläubige eine sublime erotische Komponente hat. Das wird deutlich – und funktioniert bei vielen Kirchenliedern, wenn man mal versuchsweise nach jeder Zeile „unter der güldenen Decke“ einfügt. Wie soll ich dich empfangen … und wie begegn’ ich dir, …. Es macht einerseits die Innigkeit der Beziehung deutlich, zeigt aber auch, welch Sakrileg mit jeder „Unkeuschheit“ verbunden ist. Man kann darüber Witze machen, doch die fallen auf den Witzbold zurück. Es wird ja niemand gezwungen, diese Frömmigkeit zu übernehmen.
[6] https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2011/07/das-jc3bcngste-gericht2.pdf
[7] https://dierkschaefer.wordpress.com/2011/09/01/traumhaft/
»Wenn der Richter das gelesen hätte, dann hätten Sie keine zehn Jahre gekriegt.« XV
Dieter Schulz
Der Ausreis(ß)ende
oder
Eine Kindheit,
die keine Kindheit war
Fünfzehntes Kapitel
Spurensuche – und der Beginn in Dönschten
Weißwasser. Viel hatte sich an und in diesem Haus nicht verändert, musste ich 1990 im Juli feststellen. Nur viel vergammelter und verfallener war alles. Die Kinder etwas jünger geworden. Alles bot einen traurigen Anblick. Traurig waren auch die derzeitigen Erzieher in dem Haus. Sie wussten nicht, wie es nach der Wende weitergehen sollte. Ich bemühte mich dann, weil ich es versprochen hatte, wieder zu Hause angekommen, eine Partnerschaft für das Heim herzustellen. Nach vielen Telefonaten hatte ich dann auch die Stadt Neuß dafür gewonnen, diesem Heim mit Rat und Tat unter die Arme zu greifen. Warum ich das tat? Was konnten denn die Kinder dafür? Warum ich wieder in Weißwasser auftauchte? Vielleicht suchte ich nachträglich immer noch meine Kindheit zu finden? Ich war überall dort, wo ich längere Zeit meiner Kindheit verbracht hatte. Meine letzte Station war Dönschten, genauso wie Dönschten auch meine letzte Heim-Stätte gewesen war, bevor mir die Flucht in den Westen gelang. Was ich 1990 in Dönschten vorfand, habe ich ja schon kurz geschildert. Zuerst durchfuhren wir Dönschten im Schritttempo. Zu dieser Zeit fiel ein Auto auch in Dönschten nicht mehr auf. Schnell konnte ich feststellen, dass das Heim, bis auf ein Gebäude von sechsen, gar nicht mehr in der Form existierte. Ich selbst hatte gleich am Ortseingang in Haus 1 fast ein ganzes Jahr verbracht, außer der Zeit, wo ich auf der Flucht war. Dort war nun, wie erwähnt, ein Restaurant eingerichtet. Doch schnell erfuhr ich auch, dass ausgerechnet der Heimleiter mit Frau noch in der gleichen Wohnung lebte. Gleich das Haus daneben. Diese herzliche Einladung, die wir, meine Lebensgefährtin, meine Schwester und ich, 1990 erhielten, fiel ganz anders aus, als meine Begrüßung 1954. Der Heimleiter und seine Frau, die damals die Büroarbeiten und die wirtschaftliche Seite erledigten, waren schon in den 80ern. Das Gedächtnis der Frau war bewunderungswürdig. Meinen Namen nennend erinnerte sie sich sofort an weitere Einzelheiten, die damit zusammenhingen. Sie konnte mir auf den Tag, ja sogar die Uhrzeit benennen, seitdem wir, Peter H. (ja auch er war wieder dabei!) und Klaus … sowie meine Wenigkeit vom Heim in Dönschten abgängig gemeldet wurden. Es waren alle Akten eingezogen worden. Aber die Frau hatte noch ein kleines Büchlein in ihrem Besitz. In dem Büchlein, man staune, befand sich sogar noch ein Bild von mir. Dieses Bild hat sie mir freundlicherweise und aus Dankbarkeit über den Besuch, und weil ich auch gar nicht mehr nachtragend war, überlassen. So bin ich an mein einziges Kindheitsfoto gekommen. In Weißwasser befand sich zwar auch noch eines, welches mich mit dem Fanfarenzug zeigte, hinter einer Glasscheibe, aber das wollte man mir partout nicht geben. Vielleicht hätte ich später, nachdem ich meine Loyalität bewiesen hatte und die Partnerschaft mit Neuss herstellte, auf mehr Verständnis stoßen können. Aber für eine nächste Reise blieb mir keine Zeit mehr. Bullen machten mir einen Strich durch die Rechnung.[1] Wie gesagt, die Begrüßung in Dönschten 1954 fiel nicht so herzlich aus, wie die 1990.
Bald war allen bekannt, dass mit mir nicht gut Kirschen essen war.
Von Weißwasser nach Dresden. Von Dresden nach Dippoldiswalde. In Dippoldiswalde in die Bimmelbahn Richtung Zinnwald. Es war ja ganz romantisch, die Fahrt mit dieser Bahn. Ich hätte unterwegs aussteigen, Blumen pflücken und wieder zusteigen können. Natürlich wurde ich mit Argusaugen bewacht. Also machte ich erst gar nicht den Versuch. Außerdem fand ich damals schon, dass Blumen am schönsten anzusehen waren, wenn man sie in der Natur bewundern konnte. Es gab nur eine Ausnahme. Das freudige Aufleuchten der Augen meiner Mutter, wenn ich ihr einen Strauß schenkte, dafür frevelte ich schon mal an der Natur. In Schmiedeberg[2] wurden wir nebst meiner paar Sachen, die auf eine Handkarre geladen wurden, vom Bahnhof abgeholt. Etwa drei Kilometer Fußmarsch lagen vor uns. Diese Berge und eben dieser Wald, der hier wuchs, waren schon etwas anderes als das Flachland der Niederlausitz. Ein Fuchs schnürte über unseren Weg. Ich nahm mir vor, diesen bei passender Gelegenheit zu jagen. Aber dieser Fuchs war noch etwas schlauer als ich. Er ließ sich nie wieder in meiner Nähe blicken. Mein Begleiter zog sich mit dem Heimleiter ins Büro zurück, wo sicherlich über mich hergezogen wurde. Ich wurde als 27stes Mitglied der Gruppe vorgestellt. Mir wurde das ungeliebte Bett direkt an der Tür zugeteilt. Die einzelnen Räume und deren Funktionen wurden vorgezeigt. Einige Typen wollten mir auch gleich erklären, wo und wie es hier lang ging. Wer das Sagen hatte. Mit der Zurückhaltung eines Neulings, ließ ich deren Gequatsche über mich ergehen, nickte auch zustimmend zu allem, was sie so sagten. Die Einführung hatte schon bald ein dazu bestimmter Junge übernommen, weil der Erzieher ebenfalls im Büro erscheinen musste. Bei seiner Rückkehr sah er mich schon mit ganz anderen Augen an.
Beim Abendbrot, wir nahmen es an drei langen Tischen ein, am mittleren saß der Erzieher, am Kopfende, wo sonst? Ein anderer Junge musste seinen angestammten Platz für mich räumen. Ich konnte mir schon denken, warum. Mit der Redefreiheit wurde es hier im Gegensatz zu Weißwasser nicht so genau genommen. Dafür hatte der Erzieher, Herr K., ein anderes Faible. Wo es hier lang ging und um seine Macht zu demonstrieren, nehme ich jedenfalls an, machte ich auch recht bald mit seiner Vorliebe Bekanntschaft. Ohne dass ich es bemerkt hatte: Herr K. hatte die Angewohnheit, seine Befehle mit den Augen zu geben, schon hatte sich einer seiner „Radfahrer“ von hinten an mich herangeschlichen, mein Handgelenk gepackt, den Arm kurz angehoben und mir somit den Ellenbogen auf die Tischkante gestoßen. Waau! Das war ein Gefühl wie Weihnachten und Ostern zusammen genommen. Herrn K.’s Methode, seinen Kindern abzugewöhnen, mehr als nur das Handgelenk auf den Tisch zu legen. Beim Essen zumindest! Danke mochte ich für die freundliche Erziehungsbeihilfe nicht sagen, dafür ließ ich bei passender Gelegenheit im Wald einen starken Zweig unverhofft zurückschnellen, als sich der Spezi dicht hinter mir befand. Ich glaube, dass er immer noch eine interessante Narbe auf der Wange hat. Er könnte sie ja so erklären, dass er in seiner Studentenzeit einer schlagenden Verbindung angehört hätte. Als er mich nach der ärztlichen Behandlung bezichtigte, dies mit Absicht getan zu haben, habe ich ihn vom Geländer in den damals noch vorhandenen und fließenden eiskalten Bach geschubst. So, jetzt konnte er seinem Mentor ruhig erzählen, dass ich etwas mit Absicht getan hätte. Bloß, er fand keinen Zeugen dafür.
Inzwischen hatte ich schon Einige auf meiner Seite. Das kam daher, dass in der heimeigenen Schule alle sechs Häuser zusammenkamen. Auf die anderen Häuser verteilt waren wiederum einige ehemalige Waldheim-Kameraden aus guten alten Zeiten. Bald war allen bekannt, dass mit mir nicht gut Kirschen essen war. Eigenartig, dass in der Welt, auch bei den Kindern, die Gewalt am meisten akzeptiert wird. Ansonsten könnten die Erwachsenen ja auch kaum Macht über sie ausüben. Militär und Justiz übernehmen wiederum das Machtmonopol den Erwachsenen gegenüber ein. Tja, so ist die Welt, in der wir nun mal leben müssen! Müssen?
Zwei oder gar drei Bengels hatten ihn missbraucht.
Ich war nie suizidgefährdet, glaube ich zumindest. Ein Junge unserer Gruppe, der eher als Mädchen durchgegangen wäre mit seinen femininen Gesichtszügen, war es aber im höchsten Maße. Nur, es merkte keiner. Noch nicht einmal die dafür zuständigen Erzieher. Bei den wenigen Versuchen es den Erziehern beizubringen, was ihn bedrückte, wurde er abgewiesen. So etwas gab es nicht. Hatte es einfach nicht zu geben! In Dresden hatte ich ja die gleiche Erfahrung in dieser Beziehung machen müssen. Weiß der Himmel, wo der Bengel die Schlaftabletten her hatte, aber als man sie bei ihm fand, da war es bereits zu spät. Ich dachte von Schlaftabletten schläft man ganz fest? Der Bengel musste sie wohl im Baderaum geschluckt haben und sich danach in Bett gelegt haben, wie immer. Da er aber etwa 30 Minuten später die restlichen 16 Jungen im Schlafsaal damit aufweckte, als er sich wie wild im Bett herumwarf, konnte keiner ahnen, dass er das Betäubungsmittel eingenommen hatte. Wir dachten schon, dass er genau so ein Epileptiker war, wie wir einen im anderen Schlafsaal hatten. Der herbeigerufene Erzieher, der direkt über unserem Schlafsaal sein Zimmer hatte, meinte deshalb auch nur, nachtschlafend mürrisch, „Ach der, der soll sich nur nicht so anstellen. Vielleicht täte ihm eine kalte Dusche ganz gut!“ Damit begab er sich wieder in seine Furzmolle. Am nächsten Morgen wollte der Junge überhaupt nicht aufstehen und am Frühstück teilnehmen. Wutentbrannt riss der Erzieher und Vorturner dem Jungen die Bettdecke, die er sich über den Kopf gezogen hatte, weg. In der Bettdecke blieben aber die Zähne des Jungen haften und sein Kopf wurde mit der Bettdecke hochgerissen. Da erst dämmerte es dem Erzieher und uns, die wir wie neugierig in der Türe standen, was wirklich los war. Sein Gesicht, das des Erziehers, das des Jungen war es bereits, nahm die Farbe des Bettlakens an. Frühsport fiel aus. Frühstück gab es verspätet. Die Schule fiel ganz aus. Es waren doch tatsächlich ein paar neugierige Zivilisten gekommen, die von UNS wissen wollten, was geschehen war!? Ja, was war geschehen? Zwei oder gar drei Bengels hatten ihn missbraucht, das war sicher. Doch wer genau, das erfuhr auch die schlaue Polizei nicht. Ohne genaue Angaben, die sie nur noch zu notieren brauchten, den Täter festnehmen und die Lorbeeren einheimsen, lief gar nichts. Nicht umsonst hat die Sendung XY[3] sich solange auf dem Bildschirm behaupten können. Der Polizei muss unter die Arme gegriffen werden, damit sie auf die Beine, sprich auf den Täter kommt. Die mögen zwar jedweden Mist auf der Polizeischule lernen, logisch denken auf keinen Fall. Entweder man hat’s, oder hat’s nicht. Ohne Mithilfe der Bevölkerung sind sie machtlos wie ein Schnullerbaby. Wir alle wussten auch nichts Genaues. Die Bengels hatten es natürlich nicht an die große Glocke gehängt. In Frage, das war uns allen klar, kamen eigentlich nur unsere „Spritzer“. Die etwas größeren, älteren, die durch Sitzenbleiben immer noch die 7. Klasse durchliefen. Auf diese Idee, die Verursacher des Selbstmordes in diesem relativ kleinen Kreis zu suchen, kamen diese geistigen Tiefflieger von Bullen nicht. „Also tschüß dann, und haltet immer schön die Augen offen!“ Wir, wir Kinder sollten uns deren Augen verderben?
Aber Kinder lernten nun mal schnell … von den Erwachsenen
Verdorben wurden wir ja schon von den Erziehern genug. Die Parole: Wer beim Onanieren erwischt wird, bekommt Kollektivkeile!, trug manchmal sogar Früchte. Jeder tat es. Ließ er sich aber dabei erwischen, schrie mit Sicherheit einer der „Radfahrer“ Zeter und Mordio. Es fanden sich dann immer welche, die mit Gürteln und dem bereits bekannten „Ochsenschwanz“ auf dieses arme Würstchen eindroschen. Der so Verdroschene revanchierte sich dann postwendend bei nächster Gelegenheit mit vermehrter Wut. Wenn die Erzieher zu etwas Pfui sagten und dafür die Jagd freigaben, fanden sich immer welche, die Pluspunkte sammeln wollten. Durch vieles Petzen und Arschkriechen glaubten sie, Lobenswertes in ihren Akten vermerkt zu bekommen, was eine baldige Rückkehr in den Schoß der Familie bedeutete. Ohne Rücksicht auf Verluste. Von solchen Typen lebte der sozialistische Staat DDR. Die Aufarbeitung der Ex-DDR Geschichte beweist dies wohl am besten. Nicht dass ich dem Erzieher oder gar der Polizei die Arbeit abnehmen wollte, um somit diesem System zu dienen; ich setzte alles daran einem der Verdächtigen auf die Schliche zu kommen. Ich fand nur, dass die Schuldigen einfach zu wenig, bzw. keine Reue zeigten. Zumindest hatten sie eine kleine Aufmische nötig. Um wenigstens ein paar überzeugte Helfer auf meiner Seite zu haben, musste ich zu einer List greifen. Ich wusste ja schon längst, dass ER einen viel größeren als ich hatte. Er zeigte IHN mir ja bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Glaubte dieses Arschloch etwa, dass er mich damit hinter dem Ofen hervor locken konnte? Davon dem Erzieher überhaupt Mitteilung zu machen, widerstrebte mir aus vorgenannten Gründen. Hilf dir selbst, so hilft dir Gott, pflegte meine Mutter oft zu sagen. Ich hatte mir diese Devise eingeprägt. Wie jeder andere, so half auch ich mir selbst. Aber nicht mehr so vorsichtig, wie es eigentlich geboten schien. Ganz bewusst benutzte ich ein paar Tage lang mein Bettlaken und kein Taschentuch. Oh ja, Betten bauen hatte ich gelernt. Da ohnehin alle gleich akkurat auszusehen hatten, fiel es dem Betroffenen auch gar nicht weiter auf, dass er sich eines Abends auf meinem präparierten Laken zu Ruhe legte. Jeder hatte sich seine eigene Atemtechnik zurechtgelegt, sofern er das vor dem Einschlafen betrieb, was eigentlich gesundheitsschädlich sein sollte. Seine Atemtechnik hatte ich bald raus. Ich hatte inzwischen auch das Bett getauscht. Von der Türe weg, in das, welches der „Abgänger“ freigemacht hatte. So lag ich nun direkt neben meiner Zielperson, die ich zu observieren hatte. Um auch ganz sicher zu sein, dass er auch „mit was in der Hand “ erwischt wurde, ließ ich ihn eine Weile gewähren. Er hätte es wohl am liebsten gehabt, wenn ich dies für ihn erledigte. Nach wenigen Abenden schon gab er sich keine allzu große Mühe mehr es vor mir zu verbergen, wenn er es mit sich selbst trieb. Er glaubte wohl, weil ich so klein und mickrig auf der Brust war, könnte ich einen Beschützer gebrauchen. Durch die Blume hatte er es mir ja schon angeboten. Ich ließ ihn aber links liegen. Auf der linken Seite lag er nun an diesem bewussten Spätabend und hatte sein Gesicht zu mir gedreht. So urplötzlich, wie ich losschrie, dass die meisten Schlafgenossen beinahe aus den Betten fielen, so schnell bekam der Bursche vor Schreck gar nicht seine Hand von seiner Stromleitung. Ich hoch, Bettdecke zur Seite reißen und mit dem Finger auf seine Erektion weisend war alles eins. Ein gehorsamer Schüler unseres Erziehers wusste nun sofort, was seine Pflicht war. Gegen die Masse, die auf ihn einstürmte, hatte der Bengel nichts einzusetzen. Ich machte die Jungs auch noch so richtig schön scharf auf ihn, indem ich auf das Bettlaken wies, wo ja noch mehr Beweise vorlagen. Durch den Lärm geweckt kam dann auch der eigentliche Anstifter solcher nächtlichen Ruhestörungen in den Schlafsaal. Einer seiner Lieblinge war in flagranti erwischt worden, das Bettlaken erbrachte den eindeutigen Beweis. Er konnte und wollte einem seiner besten „Radfahrer“ nicht beistehen. Da gerade dieser Bursche sich jedes Mal besonders hervor getan hatte, wenn es darum ging, andere ertappte Sünder zu züchtigen, fielen seine eigenen Prügel besonders schön aus. Aus meiner Sicht gesehen. Von einem längeren Krankenhausaufenthalt kam er nicht wieder in dieses Heim zurück. Vorn am Eingang unseres Hauses war ein Schild angebracht, darauf stand: Kinderheim für schwererziehbare Kinder, Haus 1. Ich glaube kaum, dass die Behörden ihn nach Hause geschickt haben in der Meinung, dass diese Prügel ihn hinreichend erzogen hätten. Schade! Ich hätte mich gerne noch weiter mit seiner Erziehung beschäftigt. Ja, so grausam können Kinder untereinander sein.
Aber Kinder lernten nun mal schnell … von den Erwachsenen. Das waren ja der Kinder Vorbilder. Woher sollten sie für ihren weiteren Lebensweg sonst ihr Rüstzeug erhalten?[4] Für den zweiten, den wir im Verdacht hatten, der aber im anderen Schlafsaal lag, musste ich mir etwas anderes ausdenken. Man konnte mir einige Schlechtigkeiten nachsagen, aber nicht, dass ich kein Kämpferherz hätte. Der zweite Aspirant hatte doch tatsächlich den Nerv, obwohl er sich seiner Größe und Stärke vollkommen bewusst war, mich Wurzelzwerg an einem der Schlechtwettertage, an denen wir dann im Haus Tischtennis oder andere Spiele, sowie auch Ringen veranstalteten, zu einem Ringkampf herauszufordern. Er mochte mich anscheinend nicht besonders, was übrigens auf Gegenseitigkeit beruhte, weil ich einfach nicht nach seiner Pfeife tanzen wollte. Endlich, so glaubte er, wollte er mir mal vor versammelter Mannschaft zeigen, wie stark er war und mich demütigen. Mit Verwunderung hörten die anderen, dass ich seine Herausforderung annahm. Ich hatte nicht nur in meinem Schwager einen guten Lehrmeister gehabt, was das Lernen von Tricks beim Nahkampf anging, sondern auch meine Freunde, die russischen Soldaten, hatten mir einiges gezeigt. Was viel später erst durch die Filmindustrie allgemein zugänglich gemacht wurde, das wurde bei jeder guten Soldatenausbildung schon längst praktiziert. Wenn man sich nicht unbedingt an die olympischen Regeln hielt, konnte man den stärksten Mann aufs Kreuz legen. ICH nahm mir vor, IHN zu demütigen. Immer das Gleiche. Meistens hielten die Jungs es schon für einen Ringkampf, Kampf überhaupt, wenn sie sich nur kräftig genug an den Klamotten zerrten. Davon gab es doch zu jener Zeit wirklich nicht in Hülle und Fülle. Gab es nichts an den Klamotten zu zerren, wie in unserem Fall, weil wir nur Turnzeug anhatten, versuchte man es mit dem Schwitzkasten. Das kennen wir ja schon. Ich erdreistete mich ihm in die Weichteile zu fassen, was er bei dieser Gelegenheit anscheinend gar nicht als sehr angenehm empfand. Oder hatte ich einfach nur nicht zärtlich genug zugegriffen? Er verzichtete zunächst einmal auf den Schwitzkasten. Mich wild anstierend kam er mit Armen, die wie Dreschflegel in der Gegend rumfuchtelten, auf mich zu. Einer der Russen hatte mir mal ganz plastisch vorgeführt, wie die menschliche Hand beschaffen war. Durch ihn wurde mir erst bewusst, dass der Mittelfinger immer weiter herausragte, als die übrigen. Wenn man die Hand also mit etwas Anstrengung ganz ausstreckte, ein einigermaßen gutes Augenmaß hatte (hatte ich beim Schießen bewiesen), und diesen Mittelfinger mit der übrigen Hand dran, versteht sich, blitzschnell dem Gegner auf den Solarplexus (den Ausdruck habe ich nicht von den Russen, der soll nur meine Weiterbildung anzeigen) platziert, dann haut es den stärksten Mann um. Wovon ich mich in diesem Falle überzeugen konnte. Ich hatte mich ganz genau an die Anweisungen gehalten. So bekam kaum einer mit, wie ich dieses Großmaul auf die Matte geschickt hatte. Besorgt tuend beugte ich mich zu ihm herunter. Es war ihm vorläufig nicht möglich ein Wort herauszubringen, zuhören, dass wusste ich, konnte er aber. „Paß auf mein Freund, ich habe gehört, du sollst nachts schnarchen und mit offenem Mund schlafen. Wenn du mich auch nur noch mal schief anguckst, werde ich eines Nachts kommen und dir ins offene Maul scheißen! Ist dir das verständlich genug?“ Um ihn von meiner Fähigkeit zur Brutalität dieser Art zu überzeugen, drückte ich dem Burschen zwei meiner Finger auf seine beiden Augenlider und drückte nur ein ganz wenig zu. Von da an brauchte er bei mir seine Kraft nicht mehr unter Beweis stellen. Kraft haben und sie auch richtig einsetzen, dass sind zwei verschiedene Schuhe. Nur einmal noch versuchte er seine Scharte bei mir auszuwetzen. Als ich Anfang Februar mit Peter H. von unserer Flucht zurückkehrte und er dabei war, als die Meute auf uns losgelassen werden sollte. Er sah darin wohl seine Chance, sich für seine Niederlage rächen zu können. Er war einer von denen, die dann dafür auch das Stuhlbein küssen durften. Für den Rest meiner dortigen Anwesenheit (August) hatte er dann wirklich seine Lektion gelernt.
„Was glaubst du, was es uns kostet, dich immer wieder einzufangen?“
Von der Heimleitung her war für die Heimkinder Beschäftigungstherapie angesagt. Es begann damit, dass nach dem Mittagessen nur Schulaufgaben, von denen es immer reichlich gab, gemacht wurden. Ein Tintenklecks oder gar liederlich geschrieben bedeutete alles noch einmal von vorne. Jede Matheaufgabe wurde nachgerechnet. Man kam erst gar nicht dazu, falsche Hausaufgaben überhaupt in der Schule vorzuzeigen. Die Schüler, die in einem Fach besonders gut waren, waren verpflichtet, den schwächeren zu helfen. Der Erzieher saß vorne an der Tür und ließ nichts durchgehen, was nicht seine Billigung fand. Gehen durfte nur der, der auch seine Aufgaben zu dessen Zufriedenheit gemacht hatte. Die Freizeit hing also im Wesentlichen von den schulischen Leistungen ab. Die Schule selbst hatte sich anscheinend ein Soll gesetzt. Jeder Lehrer gab in seinem Fach eine gewisse Anzahl von Nachhilfestunden für diejenigen, die nicht alles restlos begriffen hatten. Somit schaffte es auch keiner in dieser Heimschule sitzen zu bleiben.
Dann gab es von der Heimseite her noch die Altpapier-, Altglas- und Buntmetall-Sammelaktionen. Alles für die Gemeinschaftskasse. Wie es aussah finanzierte sich das Heim fast selbst damit. Schon kurz nach meiner Ankunft in Dönschten wurde damit begonnen für den weihnachtlichen „Striezelmarkt[5]“ in Dresden zu produzieren. Von Krippenspielen, die mit Kerzenlicht angetrieben wurden, über Laubsägearbeiten und Hirsch- und Rehgeweihen, deren Rosetten zu Zierknöpfen oder ganze Stücke zu Messergriffen und ähnlichem verarbeitet wurden, reichte die Palette, die wir anfertigten. Die aber auch reißenden Absatz in Dresden fanden. Es kam nichts davon zurück. Das Weihnachtsfest, bzw. die Feier fiel dagegen recht dürftig aus. Ich habe auch nicht einmal drei Mark Taschengeld erhalten, die mir zugestanden hätten. „Was glaubst du, was uns das Einfangen immer kostet, wenn du mal auf Reisen gehst? Willst du das alles bezahlen?“ hielt man dagegen, als ich mal danach fragte. Na, wenn das so war, dachte ich schon im Oktober 1954 dran, dann würde es aber wieder mal höchste Zeit, dass ich auf Reisen ging. G. und M. hatten so etwas schon vermutet, dass ich mit der alten Tour weitermachen würde. Sie hatten mich sogar danach gefragt, und ich hatte ebenso ehrlich geantwortet, dass es mich nicht lange an einem Ort mehr halten würde. Sie gaben mir zu verstehen, dass ich bei ihnen in Leipzig jederzeit einen Anlaufpunkt hätte, und gaben mir sogar 50 Mark Reisegeld. Mit dem, was ich noch von den Russen aus Weißwasser hatte, kamen über 100 Mark zusammen. Ich hatte aber keineswegs vor, das Polizistenpaar in Gewissenskonflikte mit ihrem Berufsstand zu bringen. So weit ging mein Vertrauen zu der Polizei nun auch wieder nicht.
Längst hatte ich mein Herz an Monika verloren. Ich schmachtete danach, sie auch nur aus der Ferne sehen zu können. Ihre Schillerlocken, ihre sanften Augen, die feine Röte, die ihr Gesicht jedes Mal zeigte, wenn ich sie mal aus der Nähe ansehen konnte, und sie meinen Blick bemerkte. Ihre Grübchen, wenn sie lächelte, all das wollte ich erst gar nicht aufgeben.
Außer zu den Sammelaktionen kamen wir ja kaum vom Heimgelände. Vielleicht einmal in der Woche der Aufstieg in 800 Meter Höhe, wo die einzige einigermaßen ebene Fläche war, wo wir dann meist nur Handball spielen durften, weil die eine Seite so steil abfiel, dass das Ball-Zurückholen das eigentliche Spiel um mehrere Minuten unterbrach. Eines der schönsten Täler des Osterzgebirges, wie uns gesagt wurde. Wir durften stundenlang Blüten an den Hängen der Berge sammeln. Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, aber ich glaube, es war Fingerhut, der getrocknet von einer Pharmafirma abgeholt und auch gut bezahlt wurde. Von der gleichen Firma wurden auch die Kreuzottern aufgekauft, die wir gefangen hatten. Man zeigte uns sogar, wie man ihnen das Gift aus den Zähnen holte, und erklärte auch, dass es zu einem bestimmten Serum verarbeitet wurde, das Kranken zugute kam. Uns kam nichts davon zugute. Das einzig bleibende Andenken an meine Arbeiten dort habe ich bereits erwähnt. Der Daumennagel. Wie ich mich also so umhörte und erfahren musste, dass es mit großen Schwierigkeiten verbunden war, überhaupt aus dem Bannkreis des Heimes zu kommen, obwohl noch nicht einmal der kleinste Zaun ein Hindernis darstellte, sondern die geographische Lage des Heims, machte ich mir so meine eigenen Gedanken. Und mir fiel auch wieder etwas ein. Das einzige kulturelle Ereignis, zu dem wir geführt wurden, war ein Fußballspiel in Schmiedeberg. Klein Kleckersdorf gegen Schienbein 04, oder so ähnlich. Jetzt war ich schon 3 km von Dönschten entfernt, auch in der richtigen Richtung reichte dieser Ausflug aber nur dazu aus, wenigstens schon mal was für die Fluchtvorbereitungen zu tun. Peter H. und noch zwei andere hatten sich für meinen Plan schon erwärmt. Alleine auf Wanderschaft gehen machte keinen Spaß. So hatte ich die drei also eingeweiht. Vor dem eigentlichen großen Spiel trat eine Schülermannschaft an. Diese Schülermannschaften zogen sich nach dem Spiel um und wollten anschließend von ihren größeren Vorbildern das Kicken noch besser erlernen. Bei der ungeheuren Zuschauerkulisse von mindestens 100 Personen, wovon die Hälfte unser Heim stellte, fiel es gar nicht weiter auf, dass wir uns an die Beutel der Gastschüler ranmachten, die so schön abseits auf einem Haufen lagen. Die erbeuteten Trikots unter unsere Sachen ziehend hatten wir die beiden Toiletten einige Zeit in Beschlag genommen. Jeder von uns war beim Abmarsch vom Heim mit einem Brotbeutel versehen worden. In diesen Beuteln konnten wir die Schuhe unterbringen. So ausgestattet gelang es uns dann wenige Tage später, weil die Trikots auch noch so schön schmutzig waren, auch den Busfahrer zu täuschen, der uns gegen seine Vorschrift aus diesem Gebiet rausbrachte.
Geldkatzen angeln
Einer der Jungen, der mitreiste, hatte ebenfalls Verwandte im Westen. Sein brennenster Wunsch war es nach „Drüben“ zu gehen. In Dresden besserten wir wie ein eingespieltes Team unser Reisegeld einigermaßen auf. Was die Frauen aber auch für einen Mist in ihren Handtaschen hatten! Die Portemonnaies enthielten meistens auch nicht viel. Das lag anscheinend daran, dass wir immer erst zu spät an diese Dinger rankamen. Die Einkaufstaschen mussten schon etwas voller sein, wo die Frauen ihre Geldkatzen drauflegten und wir sie uns dann besser angeln konnten. Dementsprechend wie die Einkaufstasche voller wurde, wurde aber auch das Portemonnaie leerer. So mussten wir schon ziemlich oft zugreifen, um eine zufriedenstellende Summe zusammen zu bekommen. Drei von uns schirmten das Opfer mit ihren Körpern ab, während der Vierte seine Finger spielen ließ. Nicht dass jetzt immer nur einer zulangen durfte. Jeder von uns wollte und konnte auch seine Geschicklichkeit unter Beweis stellen. Opfer waren ja genügend vorhanden.
Ein einziges Mal mussten wir die Beine unter die Arme nehmen und zeigen, dass wir auch gut laufen konnten. Aber bevor die Frau noch genau erklärt hatte, was ihr widerfahren, und wer ihr das angetan hatte, waren wir schon längst weg. Beim Überschlagen unserer Ausbeute kamen wir zu dem Schluss, dass es ruhig etwas mehr sein könnte. Frech wie Rotz suchten wir die Markthalle wieder auf. Wir hatten dann auch noch das unverschämte Glück eine Frau mit einem Hunderter bezahlen zu sehen. Bevor der Verkäufer das Geld aus der Hand der Kundin nehmen konnte, hatte ich ihm die Arbeit schon abgenommen. Ich kenne die rechtlichen Verhältnisse nicht so genau. Hatte die Kundin nun schon bezahlt? Oder trug sie den Verlust, weil der Geldschein noch nicht in der Kasse des Verkäufers geklingelt hatte? Wie auch immer. Wir waren für’s erste saniert. Sollten sich doch die Köpfe zerbrechen, die die Schuld daran trugen, warum wir Kriegsopferkinder unsere Kriegsopfer eintrieben.
Über die grüne Grenze in den Westen? „Wir werden euch schon noch weich kochen!“
Wir kamen gut in Leipzig an. In Dresden hatten wir fünf Lauben aufbrechen müssen, bis wir die passende für uns gefunden hatten. Schließlich wollte jeder seinen eigenen Schlafplatz haben. So trugen wir Sofas und Decken zusammen und verbrachten eine geruhsame Nacht.
Ich konnte in Leipzig ja wohl schlecht mit der ganzen Gesellschaft bei meiner Schwester auftauchen. So kümmerten wir uns zunächst um neue Laubenschlafplätze, bevor ich über meine Schwester Verbindung zu meiner Mutter aufnahm. Die erste Nacht verbrachten wir gemeinsam wach bleibend und Pläne schmiedend, wie wir am besten über die Grenze kommen könnten. In Schönebeck bei Magdeburg hatte Mutter eine Schwester wohnen, eine von 17, wovon nur vier den Krieg überlebt hatten. Ich war schon mal mit dort gewesen. Mein Cousin wurde, glaube ich, konfirmiert, es kann aber auch schon die Jugendweihe gewesen sein, so genau erinnere ich mich nicht mehr. Zu diesem Anlass waren wir dort zu Besuch gewesen. Wir hatten hinten im Garten zusammen unsere erste Zigarre gepafft und waren auch sonst ganz gut zurecht gekommen. Aus Platzmangel hatten wir Jungs in einem Bett geschlafen. Er war ja bereits drei Jahre älter als ich und meinte mir beweisen zu müssen, dass er zu Recht aus der Kindheitsphase ausgetreten sei, indem er diese Weihe, welche es auch immer war, erhalten habe. Er zeigte mir im Bett seine Männlichkeit und auch das Produkt, was daraus entstehen konnte, wenn man es nur richtig anstellte. So gute Freunde waren wir also geworden. Vom Schwager selbst hatte Mutter erfahren, dass er sich ein Zubrot dadurch verdiente, indem er einige Male im Monat, die „Grüne Grenze“ überschreite und Dinge herüber holte, die hier Mangelware wären. Dieser Onkel nun, da er ja die Grüne Grenze so gut kannte, sollte uns Bengels dazu verhelfen, nach „Drüben“ zu kommen. Um alle unsere Mäuler zu stopfen und auch gut mit Reisegeld ausgestattet zu sein, nahm ich wieder meine Geschäftsverbindungen in Leipzig in Anspruch. Gut abgeschirmt durch das Frühwarnsystem meiner Kumpane begab ich mich wieder in das Viertel, wo ich meine Geschäfte zu machen pflegte. Nach zwei Tagen schon hatten wir mehr als genug. Jeder musste sich seine Geheimtasche am Hosenschlitz anfertigen und einen Teil des Geldes verstecken. Nach herzzerreißendem Abschied von Mutter und Schwester bestiegen wir den Zug gen Magdeburg. Mitten in der Nacht trafen wir in Schönebeck ein. Mag es sein, dass wir zu nachtschlafender Zeit kamen, und einen gar nicht gutgelaunten Onkel antrafen, oder konnte es sein, dass er zum „Wendehals“[6] geworden war?
Ich bekam es nie so genau heraus. Ich wurde noch an der Türe abgefertigt. Mir wurde, nach Vortragen meiner Bitte um Fluchthilfe unter Vorzeigen eines Briefes meiner Mutter rundweg abgeschlagen, diese Bitte zu erfüllen. Onkel P. hätte damit längst aufgehört und wir sollten lieber zusehen, dass wir nach Hause kämen. Peng! Da war die Türe auch schon vor der Nase zugeschlagen. Ratlos schauten wir uns an, wir, die wir alle Hoffnungen auf diesen Onkel gesetzt hatten. Noch nicht einmal auf die eigenen Verwandten konnte man sich in solchen Zeiten verlassen. Wir trotteten wieder in Richtung Schönebecker Bahnhof. Ich erkannte noch nicht einmal meinen eigenen Cousin wieder, der uns auf der anderen Straßenseite folgte. Ich beging den Fehler die Person, die uns zu beobachten schien, nicht zu beachten. Wenn wir mal stehen blieben und diskutierten, blieb auch die Person auf der anderen Straßenseite stehen oder versteckte sich sogar in einem Hauseingang. Es mag meiner Erregung zugute gehalten werden, dass ich damals solche „Kleinigkeiten“ übersah. Wieso das so war weiß ich nicht, aber der kleine Bahnhof hatte einen Wartesaal, der die ganze Nacht über geöffnet zu haben schien. Wir gingen dort hinein. In dem Mitropa[7]-Restaurant befanden sich nur wenige Gäste. Beim Ober bestellten wir vier Hühnersuppen mit Brötchen. Wir bekamen je eine Tasse mit etwas Heißem drin, worauf ein paar Fettaugen schwammen. Das war aber auch die einzige Ähnlichkeit, die die Suppe mit einer Hühnerbrühe hatte, wie sie auf der Karte angeboten worden war. Wir brauchten der Sache auch gar nicht erst weiter auf den Grund zu gehen, den Boden der Tasse zu erforschen, ob sich da etwas Hühnerfleisch abgelagert haben könnte; der Mühe wurden wir enthoben. Aus dem Nichts waren plötzlich vier uns bekannte Uniformen aufgetaucht. Wir saßen an einem runden Tisch in einer Ecke (das Flüchtlinge sich aber auch immer in eine Ecke setzen müssen!). Ohne dass wir ihre Annäherung bemerkt hatten waren sie plötzlich vor uns aufgetaucht. „Eins, zwei, drei, vier, aufstehen und mitkommen!“ Das war unmissverständlich. Die grimmigen Gesichter machten es ganz deutlich. Uns war ohnehin der Appetit vergangen. Also standen wir folgsam auf und ließen uns in die Mitte nehmen. Unmissverständlich hatten die Ordnungshüter auch ihre Hände auf die bereits geöffneten Pistolentaschen gelegt. Beim Rausgehen dann erkannte ich die Person wieder, die uns auf dem Weg hierher gefolgt war. Es war niemand anders als mein lieber Cousin. Im Vorbeigehen zuckte er bedauernd die Schulter und sagte, dass sein Vater ihm aufgetragen hätte, uns zu verfolgen und bei passender Gelegenheit die Polizei zu verständigen. Das war das letzte Mal, dass ich diesen und die andere Schönebecker Verwandtschaft zu Gesicht bekam.
Wieder lernte ich ein neues Heim kennen. Wobei es im Prinzip doch immer das Gleiche blieb. Nur das Geld, das wir in den Taschen hatten, konnte man uns abnehmen. Einer der Beamten, der einigermaßen menschlich vernünftig dachte, gab Anweisung uns für diese Nacht mit Vernehmungen zu verschonen, da wir ziemlich geschafft aussahen. In einem Kellerverlies auf eingebauten Betonpritschen verbrachten wir den Rest der Nacht. Es war klar, dass keiner die Vorgeschichte unserer Flucht, und wie wir es bewerkstelligt hatten, preisgab. Nicht einmal unsere richtigen Namen erfuhren sie. „Wir werden euch schon noch weich kochen!“ Mit dieser Drohung im Rücken wurden wir in einem Heim abgeliefert. Ein Heim von einer hohen Mauer umgeben. Auch so etwas kannte ich schon von Leipzig und Rummelsburg her. Parterre und in der ersten Etage waren schon die größeren Burschen untergebracht, die draußen entweder einer Arbeit nachgingen oder aber eine Lehrstelle hatten. Wir wurden in die zweite Etage verfrachtet, damit wir nicht so leicht wegkämen, wie wir erfahren durften. Dabei stand für mich schon nach dem ersten Blick aus dem Fenster fest, wie wir hier wieder wegkommen würden. Ich sah die Mauer, das Tor darin, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, etwas schräg links eine Brücke und einen Bahnhof. Keine blasse Ahnung, welchen Stadtteil von Magdeburg wir die Ehre gaben. Aber auch der Rest, den ich gesehen hatte, machte mich zuversichtlich, dass wir hier auf keinen Fall bis zum nächsten Bettwäschetausch verbleiben würden.
Fußnoten
[1] Dazu später im Kapitel zu Eisenhüttenstadt
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Schmiedeberg_(Dippoldiswalde)
[3] Aktenzeichen XY … ungelöst https://de.wikipedia.org/wiki/Aktenzeichen_XY_%E2%80%A6_ungel%C3%B6st
[4] Bertolt Brecht, Flüchtlingsgespräche, Der Schüler lernt alles, was nötig ist, um im Leben vorwärts zu kommen. Es ist dasselbe, was nötig ist, um in der Schule vorwärts zu kommen. Es handelt sich um Unterschleif, Vortäuschung von Kenntnissen, Fähigkeit, sich ungestraft zu rächen, schnelle Aneignung von Gemeinplätzen, Schmeichelei, Unterwürfigkeit, Bereitschaft, seinesgleichen an die Höherstehenden zu verraten usw. usw.
[5] Striezelmarkt, https://de.wikipedia.org/wiki/Dresdner_Striezelmarkt
[6] Schulz verwendet den Wendehals, bevor dieser seine später bekannte Bedeutung bekam. https://de.wikipedia.org/wiki/Wendehals_(DDR)
[7] Mitropa
Was gab’s bisher?
Editorische Vorbemerkung – https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/06/25/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt/ https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2016/06/00-editorische-vorbemerkung.pdf
Kapitel 1, Die Ballade von den beschissenen Verhältnissen – oder – Du sollst wissen, lieber Leser: Andere sind auf noch ganz andere Weise kriminell – und überheblich.
Kapitel 2, In Dönschten, am Arsch der Welt … ach Monika!
Kapitel 3, Weiter im Kreislauf: Heim, versaut werden, weglaufen, Lage verschlimmern.
Kapitel 4, 17. Juni 53: Denkwürdiger Beginn meiner Heimkarriere
Kapitel 5, von Heim zu Heim
Kapitel 6, Wieder gut im Geschäft mit den Russen
Kapitel 7, Lockender Westen
https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/01/04/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-vii/ PDF 07-lockender-westen
Kapitel 8, Berlin? In Leipzig lief’s besser.
https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/01/09/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-viii/ PDF: 08-berlin-in-leipzig-liefs-besser
Kapitel 9, Aber nun wieder zurück nach Berlin
https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/01/17/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-ix/ PDF: 09-aber-nun-wieder-zuruck-nach-berlin
Kapitel 10, Bambule
https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/02/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-x/ PDF: 10-bambule
Kapitel 11, Losgelöst von der Erde jauchzte ich innerlich vor Freude
https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/06/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xi/ PDF: 11-losgelost-von-der-erde
Kapitel 12, Ihr Lächeln wurde um noch eine Nuance freundlicher. Süßer!
https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/07/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xii/ PDF: https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2017/02/12-sc3bcc39fer.pdf
Kapitel 13, Von Auerbachs Keller in den Venusberg
https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/19/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xiii/ PDF: 13-von-auerbachs-keller-in-den-venusberg
Kapitel 14, Ein halbes Jahr Bewährungsprobe. Wo? Im Heim!
https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/21/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xiv/ PDF: ein-halbes-jahr-bewahrungsprobe
Kapitel 15, Spurensuche – und der Beginn in Dönschten
https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/22/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-xv/ PDF: 15-spurensuche
Wie geht es weiter?
Kapitel 16, Was also blieb uns übrig, als aufs Ganze zu gehen?
Kapitel 17, War es den Aufwand wert, dieses beschissene Leben vor den Bomben zu retten?!
Kapitel 18, Ich war doch der einzige „Mann“ in der Familie …
Kapitel 19, Überhaupt, in der DDR gab es keine Kriminalität.
Kapitel 20, Wie schnell sich doch die Weltgeschichte ändert!
Allein schon das Kürzel UBSKM ersetzt eine ganze Ordensspange
Gemeint sind die Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs
Ein sehr sachkundiger Kommentar zu dieser Fehlgeburt ist im netzwerkB unter dem Titel Betroffenenrat ein Rohrkrepierer nachzulesen und sei hiermit empfohlen.
Wie sich doch die verordneten Runden Tische gleichen.
»Der Betroffenenrat – so wie er jetzt sich darstellt – ist nur eine Maßnahme um die Betroffenen zu beschwichtigen, ihnen eine Teilnahme am politischen Prozess vorzugaukeln (die wirklichen Entscheidungen werden wo ganz anders getroffen) und die dann brav Teilnehmenden auch noch dafür zu instrumentalisieren, dass man behaupten kann, man tue doch etwas in dieser Problematik und die Betroffenen hätten es ja abgesegnet.«[1]
[1] http://netzwerkb.org/2014/11/03/betroffenenrat-ein-rohrkrepierer/
Drei Jahre nach Ende des Runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch“
»Drei Jahre nach Ende des Runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch“ wird Betroffenen jetzt die Möglichkeit gegeben, ihre Anliegen durch einen Betroffenenrat einzubringen und kontinuierlich an den Prozessen auf Bundesebene mitzuwirken.«
3, in Worten: drei Jahre danach. Die Betroffenen dürfen sich ernstgenommen fühlen.
Immerhin: Es gibt Sitzungsgeld und Fahrtkostenersatz.
»Ein Bewerbungsbogen sowie weitere Informationen zum Verfahren und dem Auswahlgremium können unter
www.beauftragter-missbrauch.de abgerufen werden. Bewerbungsschluss: 21. November 2014«
Pressemeldung – Deutsche Bischofskonferenz zum Umgang mit sexuellem Missbrauch im kirchlichen Bereich
„Wir deutschen Bischöfe machen uns zu eigen, was Papst Franziskus den Opfern sexuellen Missbrauchs im Jahre 2013 sagte, als er betonte, seine ‚Gedanken allen jenen zuzuwenden, die unter Missbrauch gelitten haben und leiden. Ich möchte ihnen versichern, dass ich sie in meine Gebete einschließe, aber ich möchte auch eindringlich betonen, dass wir alle uns klar und mutig dafür einsetzen müssen, dass jeder Mensch, vor allem die Kinder, die zu den verwundbarsten Gruppen gehören, immer verteidigt und geschützt werden.‘
Das ist für uns ebenfalls eine Verpflichtung.“[1]
Weitere links[2]
[1] http://www.dbk.de/presse/details/?presseid=2558
[2] http://www.dbk-shop.de/media/files_public/cjvmmvupwo/DBK_5246.pdf
http://www.dbk.de/themen/thema-sexueller-missbrauch/
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