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Es klebt wie Hundedreck unter den Schuhsohlen,
man kann sich noch so sehr bemühen, ihn am Bordstein abzustreifen, – wenn man wieder ins Auto steigt, riechen es die Mitfahrer.[1]
So ging es mir, als ich den Beitrag von Landesbischof Meyns im Pfarrerblatt[2] las. Er hat sich wirklich Mühe gegeben, doch warum stinkt es weiterhin?
Mag ja sein, dass ich eine besonders empfindliche Nase habe. Mein Unterordner „Missbrauch“ umfasst 997 Dateien und acht Ordner. Dazu kommen noch 299 Dateien und ein Ordner im Ordner Kriminalität. Ich kann ins Detail gehen, will mich aber auf die große Linie beschränken.
Falls das mit dem Hundedreck zu anrüchig sein sollte, will ich einem anderen Vergleich folgen. „Es steht ein Elefant im Raum“ nennt man neuerdings das Phänomen, wenn ein Phänomen wie in geheimer Übereinkunft nicht wahrgenommen wird.[3] Ich werde also die Elefanten (Plural) benennen, wobei sich der Tiervergleich nicht durchgängig bewährt.
Der erste Elefant ist die Verjährung,
der zweite die Kirche als Richter in eigener Sache,
der dritte die Entschädigung und schließlich
der vierte, die biologische Lösung.
Zum ersten Tierle, die Verjährung:
Es hat zweierlei Natur, eine juristische und eine theologische und beide haben ein Aber.
Zur juristischen Natur schrieb ich vor einiger Zeit (der Elefant steht ja schon länger im Raum):
„Kurz zur Verjährung: Sie ist eigentlich dazu gedacht, Rechtsfrieden zu schaffen für Uraltfälle. Eine nicht befriedigende aber letztlich befriedende Lösung.“-
Und nun das Aber: „Doch hier hilft sie nicht. Die Verbrechen an den ehemaligen Heimkindern, den Misshandelten und den Missbrauchten stellen das wohl größte Verbrechen in der bundesrepublikanischen Geschichte dar. Prof. Kappeler: „Mitten im Kern des eigenen Gesellschaftssystems geschieht solches Unrecht in unvorstellbarem Ausmaß und sämtliche – verfassungsrechtlich, staatsrechtlich, verwaltungsrechtlich! – vorhandenen Kontrollsysteme versagen; nicht zufällig!“[4] Die Zahl der Opfer ist kaum überschaubar, die „Qualität“ der Verbrechen reicht von deutlicher Benachteiligung und Ausbeutung bis hin zu Monstrositäten grundlegender Menschenrechtsverletzungen. Hier kann nicht gesagt werden: „Schluss jetzt, Schwamm drüber.“ Wir werden – Verjährung hin oder her – keinen Rechtsfrieden bekommen, allenfalls Friedhofsruhe, wenn die Opfer gestorben sind – doch ihre Geschichten leben weiter.[5] Zur Monstrosität und dem verweigerten Rechtsfrieden:[6]
Ob man den Staat gewinnen kann, eine richterliche Untersuchungskommission zu installieren, die staatsanwaltliche Befugnisse hat und allen Fällen auf den Grund geht, auch den schon verjährten[7], bezweifele ich, denn der Staat hat in der Heimkindersache auch „Dreck am Stecken“ und wird sich seiner Mitverantwortung nicht stellen wollen. Die Verjährung wurde geschaffen, damit Streit auch gegen den Willen Betroffener ad acta gelegt werden kann. Wir haben es mit der Behandlung von Heimkindern mit dem größten „flächendeckenden“ Verbrechen seit 1945 zu tun. In einem solchen Fall braucht es andere Maßnahmen, um Rechtsfrieden wieder herzustellen. Das gilt auch für die nun als endemisch anzusehenden sexuellen Verbrechen an Kindern in Familien und Institutionen. … Die Frage nach den Kosten will ich nicht unterschlagen. Am Runden Tisch saßen drei weitgehend unbedarfte Heimkinder einem Gremium von ganz und gar nicht unbedarften Interessenvertretern gegenüber. Die einen hatten keinen Etat und keine Rechtsberatung, die anderen saßen in ihrer Dienstzeit am Runden Tisch und hatten einen Apparat im Hintergrund. (Über Frau Vollmer schweige ich mich jetzt aus.) Wer an der Unabhängigen Kommission teilnimmt, wird – da sie ja unabhängig sein soll – dies nicht in seinen dienstlichen Verpflichtungen unterbringen können. Das heißt: Alle brauchen neben den Spesen ein angemessenes Sitzungsgeld, auch die Betroffenen, selbst wenn sie keinen Verdienstausfall haben. Die Betroffenen sollten sich auf eine angesehene Anwaltskanzlei einigen, die sie berät. All diese Kosten müssen zulasten der Landeskirche gehen. – (Kommentar von Uwe Werner: „Dem habe ich nichts hinzuzufügen!
Jeden Satz kann ich unterschreiben und ist bezeichnend für unseren jahrelangen Kampf mit Staat und Kirchen,“)[8]
Die Stärke der Stellung kirchlicher Einrichtungen wurde in einem juristischen Gutachten deutlich: »Der Träger ist im Übrigen natürlich frei von den Empfehlungen der örtlichen und belegenden Jugendämter.«[9]
Zur theologischen Natur des Tieres
Auch diese Natur des Elefanten wird beschwiegen[10], dabei wäre es gerade für Theologen angemessen, darauf einzugehen. Doch Meyns steht damit nicht allein[11]. Auch Bischof Bätzing fand „Kein Wort dazu, dass eine Kirche, die mit ewigen Werten unterwegs ist, sich nicht auf Verjährung berufen sollte.“[12] Dazu ein Comic.[13]
Wenn ich von „Theologen“ schreibe, meine ich auch unsere Fakultäten. Mir ist nicht bekannt, dass Misshandlung und Missbrauch in kirchlichen Zusammenhängen dort thematisiert würde.[14] An der evangelischen Fakultät Tübingen zeigte man sich desinteressiert an den Aufzeichnungen von Johannes Lübeck über den „Bodelschwingh Clan und seine unrühmliche Geschichte“, zu der ja immerhin in unserem Zusammenhang das Lager Freistatt zählt.[15]
Der zweite Elefant: Richter in eigener Sache
Herr Kronschnabel twittert: „DAS Thema fehlt bei Meyns völlig, wird aber von allen Opfern als Sauerei empfunden.“ Stimmt. Meyns umgeht den Elefanten. [16]
„Sieht man sich die Vita der Mitglieder der „Unabhängigen Kommission“ an, dann stellt man fest, dass jedes Mitglied engstens mit der Kirche verbandelt ist! Wo findet man da die angebliche Unabhängigkeit?: Mitglied der Landessynode, Richter beim kirchlichen Disziplinargericht, Pfarrer i.R.! Und alle Drei unabhängig … aber nicht von der Kirche!“[17]+[18]
„Soweit es um einen Betroffenenbeirat geht, ist festzustellen, dass Aufgabe der Kommission ist, die Frage von Anerkennungsleistungen zu prüfen. Die Ordnung, die von der Konföderation dafür verabschiedet wurde, sieht einen Betroffenenbeirat nicht vor. Wenn es darum gehen soll, unabhängig über die Frage der Betroffenheit einzelner Personen hinsichtlich sexualisierter Gewalt in der Kirche zu entscheiden und die Höhe der Anerkennungsleistung festzulegen, sehe ich keine Notwendigkeit eines Beirates[19]“ … „Zunächst ist festzustellen, dass es nicht in der Entscheidungsmacht eines Mitgliedes der Unabhängigen Kommission, sei es auch deren Vorsitzender, steht, wie eine solche Kommission zusammengesetzt wird“.[20]
„Wenn Sie mit der Entscheidung nicht einverstanden sind, können Sie sich innerhalb eines Monats an den Kirchensenat, Rote Reihe 6, 30161 Hannover, wenden. Der Kirchensenat entscheidet abschließend.“[21]
Uns fehlt eine staatliche, staatsanwaltschaftliche Aufklärungskommission wie anderswo.
„Schön und gut, wenn die Kirchen den sexuellen Missbrauch durch ihre Mitarbeiter aufklären wollen; besser wäre es, sie würden das den Staatsanwälten für Sexualdelikte ermöglichen. Schön und gut auch, wenn die Kirchen von „schmerzhafter“ Aufarbeitung sprechen, die sie jetzt betreiben würden; besser wäre es, die zuständigen Institutionen des Rechtsstaats könnten sich dazu ihre eigene Meinung bilden.“[22]
„Das Wichtigste wäre eine Kommission, die wirklich und nach außen erkennbar unabhängig ist. Die Mitglieder dürfen keine besondere Verbindung zur Kirche haben, dürfen nicht im Dienst der Kirche stehen/gestanden haben, sollten auch kein kirchliches Ehrenamt bekleiden. Mitglied sollte eine externe Fachperson sein, die sich mit Traumata und Retraumatisierung auskennt und Erfahrungen im Umgang mit traumatisierten Menschen hat. Diese Person sollte bei der Zusammensetzung der Kommission beteiligt sein, insbesondere bei der Auswahl der Betroffenen, die für Beschlüsse ein Veto-Recht bekommen. Die Sitzungen sollten protokolliert werden und die Protokolle der Zustimmung aller bedürfen. Protokolle müssen öffentlich einsehbar sein unter Beachtung des Datenschutzes für die Opfer. Die berufliche Rolle der Täter bedarf keines allgemeinen Datenschutzes. [Der externen Fachperson sind] Täternamen zur Kenntnis zu geben, diese wiederum muss über ihre daraus folgende Aktivität/Nichtaktivität der Kommission berichten. Diese Berichte müssen der Öffentlichkeit zugänglich sein, mit Schwärzung der Namen, nicht der Funktion der beschuldigten Personen. So viel zur Transparenz.
Ich empfehle, für interne Beratungen eine erfahrende Person aus der Notfallseelsorge auszuwählen oder einen Traumatherapeuten, insbesondere, wenn es darum geht, in Kontakt zu weiteren Betroffenen zu treten und von ihnen Auskünfte über Tatvorgänge einzuholen. Das darf man keinem Juristen überlassen. Die kommen aus einer anderen Denkschule. Ich habe das oft erlebt, wenn ich Juristen mit Sozialarbeitern oder Psychologen zusammenbrachte, so auch in meinem Kriminologiestudium. Da saß ich Ruheständler unter lauter angehenden Juristen, die sich wunderten, dass man einen Sachverhalt (es ging um Stalking) „auch so“ sehen kann; schon meine Sprache war für sie „ungewöhnlich“.
Wir haben in der Kirche zwar die erforderliche Seelsorgeerfahrung, dürfen sie aber nicht anbieten, denn wir sind die Täterseite. Das gilt auch für unsere Beratungsstellen. Solche Hilfsangebote müssen von außen kommen.“[23]
Die umfassende Aufklärung der im Raum stehenden Vorwürfe sei „selbstverständlich Aufgabe der Justiz und nicht der Kirche“, erklärte die Justizministerin Havliza daraufhin verärgert – und verlangte Akteneinsicht. Es irritiert Havliza, so sagt sie, wenn der Eindruck entstehe, es liege an der Kirche, für die Aufklärung dieser Straftaten die richtigen Maßstäbe zu entwikkeln. Und nicht etwa am Rechtsstaat, die Maßstäbe anzulegen, die längst entwickelt sind und für alle Straftatverdächtigen gelten, egal ob mit Soutane, Mönchshabit oder ohne: nämlich Strafprozessordnung und Strafgesetzbuch. „Für die Staatsanwaltschaften macht es keinen Unterschied, ob die Beschuldigten Priester, Feuerwehrleute oder Lehrer sind.“ Keine Berufsgruppe habe das Recht, die Aufklärung von Straftaten in Eigenregie zu regeln.[24]
Zum dritten Elefanten: Entschädigung
Dieser Elefant ist interessant. Denn die meisten Medien berichten bei allen Finanzleistungen an Geschädigte von „Entschädigungen“, dabei sollen es explizit keine sein, sondern nicht einklagbare Anerkennungsleistungen, ohne jeden Rechtsanspruch. „Dazu ist es notwendig darauf hinzuweisen, dass es sich nicht um einen Schadensersatz handelt, sondern um eine Anerkennungsleistung, über die die Kommission zu entscheiden hat. Dies mag ihnen spitzfindig erscheinen, ist aber insoweit schon ein Unterschied. Denn beim Schadensersatz wären alle, materiellen wie immateriellen, Schäden zu ersetzen.“[25]
„Während der Abschlusspressekonferenz stellte ein Journalist dann auch die Frage, die wahrscheinlich allen auf der Zunge liegt: Warum es nach zehn Jahren nicht möglich sei, Entschädigungen zu zahlen und es nun weiterhin bei Anerkennungszahlungen bleibe.
„Das hängt damit zusammen, dass wir im Rechtsrahmen unseres Landes bleiben und die Hürde für die Betroffenen eben so gering halten wollen wie möglich. Entschädigung bedeutet Schadensersatz, dafür gelten Standards, die sind in unserem Land sehr hoch, da braucht es eine Beweispflicht, da braucht es Verfahren, da braucht es gerichtliche Festlegungen, das alles wollen wir nicht, wir wollen es den Betroffenen nicht zumuten. Und viele könnten ein solches Beweisverfahren ja niemals antreten, weil die Täter verstorben sind, weil die Unterlagen nicht zugänglich sind oder gar nicht vorhanden sind. Also, das ist der Grund, weshalb wir sagen, wir bleiben in diesem System von Anerkennungsleistungen und können nicht in ein – sozusagen – Schadenssystem einsteigen.“[26]
Und so sucht man den Begriff Entschädigung/Entschädigungen im Text von Meyns vergeblich. Doch wer Klartext spricht, hat Erfolg: „Wird ja noch schöner, wenn man mir ständig die zu verwendende Tonart vorschreiben will. OHNE meine Tonart wären alle mit den lumpigen 5000,- abgefickt worden, die ausgereicht wurden! ‚Was würden Sie verlangen, wenn Ihr Sohn von Ihren Betbrüdern gefickt worden wäre, Bischof?‘ Meister hielt schlauerweise seine Fresse, aber ‚meine‘ Männer … bekamen 14.500,- und mehr. Und ihr lallt mich wegen lieber Töne voll? Was ist mit euch los? Mein Ton sorgte für 14.500,- bis 31.000,-!“[27]
„Die Sexualopfer im Bereich des katholischen Konzerns mit dem Kreuz im Logo erfuhren jetzt, dass sie in „Anerkennung des Leids“ bis zu 50.000 € erhalten können. Und wieso hielt sich die evangelische Konkurrenz so bescheiden zurück und zahlte lediglich einem Opfer lausige 31.000 € ??? … Der höchste von der Landeskirche Hannovers bezahlte Betrag belief sich auf 31.000 Euro. Eine lächerliche Summe als Wiedergutmachung für zerstörtes Leben!“[28]
Der vierte Elefant Ist ein Abkömmling vom dritten, die biologische Lösung.
Nur die Opfer sehen ihn: „Hier hilft keine Entschuldigung egal von welcher Stelle … Es muss geholfen werden und das sehr schnell. Keiner von den Opfern hat Zeit noch länger abzuwarten, sie benötigen jetzt Hilfe auch in Form einer mehr als angemessenen Entschädigung, die zwar das Leid nicht ungeschehen machen kann, aber den letzten Lebensabschnitt dieser Menschen erheblich verbessert.
Da werden einerseits Therapiekosten in Aussicht gestellt, um diese Kosten aber ganz schnell wieder zu streichen, weil sich herausstellt, dass eine Therapie ja nicht nur ein halbes Jahr dauert, sondern Jahre. Da stellt man das lieber um und machte daraus eine kleine Summe auf Anerkennung des Leids, … An anderer Stelle wird versprochen, dass in aller Kürze Hilfe erfolgt, an dieser Stelle wird „in Kürze“ wohl verwechselt mit monatelanger Wartezeit. Wieder an anderer Stelle verweigert man den Betroffenen einfach weitere Hilfe.
Es wird dies und das versprochen. Es ist unmenschlich zu erwarten, dass die Opfer sich immer wieder von selbst bei Ihnen melden müssen, damit es vorangeht. Sie kommen sich wie arme „Bettelleute“ vor und ich finde das einfach würdelos im Hinblick auf das große Leid, das sie ihr Leben lang herumtragen und für das sie nichts können, denn sie waren unschuldige Kinder die u.a. unfassbar grausamen ‚Kirchendienern‘ wehrlos ausgeliefert waren.
Die Warterei muss doch endlich ein Ende haben. Für was so viele Kommissionen und Aufarbeitungsstellen gründen? Das hilft Ihnen, nicht aber den armen Menschen. Tun Sie das ruhig, aber geben Sie endlich! Hilfe.
Keiner kann sich nur ansatzweise vorstellen wie es ist, ein Leben lang unter dem Missbrauch der Kirche und anderen Einrichtungen zu leiden. Und nicht nur die Betroffenen leiden, auch die Angehörigen. Diese Lebensqualität ist keine.“[29]
Schon vor 12 Jahren habe ich die „lange Bank“ genannt. Ich schrieb über ein abzuschließendes „Freeze-Abkommen“ „Was ist das? Die ehemaligen Heimkinder bangen, ob sie ihre Entschädigung noch erleben werden. Dies wird genährt durch die Verfahrensdauer und manche kolportierten Äußerungen, man wolle durch die biologische Lösung so mancher Fälle Geld sparen. „Freeze“ wäre das Einfrieren der Ansprüche (wenn nicht der juristischen, so doch der moralischen nach Recht und Billigkeit) auf den Zeitpunkt des Beginns des Runden Tisches. Damit geht der Entschädigungsanspruch im Fall des Todes des Betroffenen auf seine Erben über. Dann wäre wenigstens das Mißtrauen aus dem Verfahren draußen, zügiges Vorgehen aber dennoch geboten – und möglich, wie meine Verfahrensvorschläge vom April 2009 belegen.
Doch ich fürchte, die Sache der Kindesmißhandlungen in den Heimen wird weiter auf die lange Bank geschoben werden.[30]
Und hier legen die Elefanten verständnisvoll ihre Rüssel übereinander.
Doch noch kurz zum Runden Tisch, den Meyns erwähnt: Er schreibt von einem langen Lernweg: „Die breite Auseinandersetzung mit dem Thema ‚sexualisierte Gewalt begann 2009. Damals beteiligten sich EKD und Diakonie Deutschland gemeinsam mit der katholischen Kirche, der Caritas, anderen Wohlfahrtsverbänden, Bund, Ländern, Wissenschaftlern und Betroffenen an dem von der Bundesregierung initiierten Runden Tisch ‚Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren‘. Auf Grundlage der 2010 beschlossenen Empfehlungen wurden 2011 mehrere Fonds gebildet, an die ehemalige Kinder und Jugendliche in Kinderheimen, Heimen der Behindertenhilfe und stationären Einrichtungen der Psychiatrie Anträge für Anerkennungs-, Rentenersatz-, Unterstützungs- und Hilfeleistungen stellen konnten. Im Ergebnis wurden auf diesem Wege bis zum Auslaufen der Antragsfrist Ende 2018 knapp 500 Mio. € an 40.000 ehemalige Heimkinder in West- und Ostdeutschland vergeben. Die Kirchen beteiligten sich mit einem Drittel an den Kosten.“
Eine Erfolgsgeschichte? Ganz wie man‘s nimmt. Wenn man die Geschichte verfolgt hat, kann man die Frage bejahen. Für Staat und Kirche war sie sicherlich ein Erfolg. Doch der Runde Tisch Heimerziehung war ein von Beginn an eingefädelter Betrug.[31] Untrennbar verbunden ist dieser Erfolg mit dem Namen einer Pfarrerin: Antje Vollmer. Meine Beurteilung ihrer Rollenperformance mag verdeutlichen, wie ich die Verhandlungs- und Hinhaltetaktik der Kirchen sehe, den Beitrag von Landesbischof[32] Meyns inbegriffen.[33]
So viel zu den Elefanten.
Ganz am Beginn schrieb ich: „Es klebt wie Hundedreck unter den Schuhsohlen“. Wie bekommt man in los? „Die Kirche braucht Hilfe, um wieder ehrlich zu werden. Allein schafft sie es nicht. Sie hat zwar die Verbrechen gestanden, die Misshandlungen, die Missbräuche und die Demütigungen, die in kirchlichen Einrichtungen durch kirchliche Mitarbeiter verübt wurden, sie ist aber nicht willens, in den Stand der tätigen Reue zu treten. Außerdem verhindert sie durch die Einrede der Verjährung eine gründliche Aufklärung der Verbrechen und ihrer Folgen. Der Staat folgt diesem Prozesshindernis, indem er Verfahren erst gar nicht eröffnet, da sie – strafrechtlich – keine Folgen haben würden.“[34]
Es wird wohl weiter stinken.[35]
Fußnoten
[1] Dieser Beitrag erschien gekürzt im Deutschen Pfarrerblatt in der Augustausgabe als „Leserbrief“ auf den Seiten 507ff. Hier lesen Sie die vollständige Version.
Für unlogische Schriftgrößendifferenzen, auch für unmotivierten Fettdruck, bitte ich um Entschuldigung und verweise auf die unzulängliche Software.
[2] https://www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/aktuelle-beitraege?tx_pvpfarrerblatt_pi1%5Baction%5D=show&tx_pvpfarrerblatt_pi1%5Bcontroller%5D=Item&tx_pvpfarrerblatt_pi1%5Bitem%5D=5444&cHash=695ff21a4cb9495d4c4674207973cccc
[3] Christian Meier gebraucht in der FAZ vom 5. Juli 2022 auf Seite 1 den treffenden Begriff vom „großen anwesenden Abwesenden“. Ich will beim so schön bildhaften Elefanten bleiben.
[4] http://heimkinderopfer.blogspot.com/
[5] Beide Zitate aus: https://dierkschaefer.wordpress.com/2020/04/26/wir-insider-wundern-uns/
[6] „Es ist ein Netzwerk weltlicher und klerikaler Pädokriminalität. Der Staat hat sich bis heute nicht zu einem Ermittlungsausschuss mit staatsanwaltlichen Vollmachten durchringen können. … Wann kommt endlich der Staat seiner Aufgabe nach, Rechtsfrieden herzustellen, auch über Verjährungsgrenzen hinweg?“ https://dierkschaefer.wordpress.com/2021/01/29/das-netzwerk-nicht-nur-klerikaler-kinderschander/
[7] Wie in anderen Ländern, z.B. Irland.
[8] https://dierkschaefer.wordpress.com/2021/06/11/sehr-geehrter-herr-landesbischof/
[9] [Das Gutachten] stellt die Machtkonstellation in aller Schärfe vor: Fast alle Macht den Einrichtungen über ihre Schutzbefohlenen.
Das gilt nicht nur für die Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, sondern auch für alle anderen „Heime“, für Alten- und Pflegeheime, für Krankenhäuser für Kindergärten und Kitas, von „geschlossenen“ Einrichtungen gleich welcher Art gar nicht zu reden.
Der Liga der Wohlfahrtseinrichtungen wird man kaum entkommen können. Ihre Mitglieder definieren für die Betroffenen den passgenau individuellen Bedarf, immer unter Berücksichtigung der Konzeption der Einrichtung.
Die Heimaufsicht ist zahnlos – oder schlimmer: Ein Etikettenschwindel. Nur wenn eine schwere Grundrechtsverletzung zum Skandal hochkocht, kommt es – nach langem Widerstand der Träger – vielleicht zu Konsequenzen.
[10] Zum Schweigen der Hirten https://dierkschaefer.wordpress.com/2021/11/26/das-schweigen-der-hirten1/ gesellt sich das Schweigen der Herde https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/oldenburg_ostfriesland/Kommentar-Schweigen-der-Hirten-Schweigen-der-Herde,missbrauch2330.html und auch die Kirche hüllt sich in Schweigen https://www.publik-forum.de/Leben-Kultur/das-lange-schweigen-der-kirche . Das Schweigen begegnete mir zum ersten Mal als Schweigen der Kollegen. Auf meinen Essay „Die Kirchen und die Heimkinderdebatte, Scham und Schande“ im Pfarrerblatt, Heft: 5/2010, hat keiner von ihnen reagiert. https://www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/archiv?tx_pvpfarrerblatt_pi1%5Baction%5D=show&tx_pvpfarrerblatt_pi1%5Bcontroller%5D=Item&tx_pvpfarrerblatt_pi1%5Bitem%5D=2812&cHash=c4b8ff246ada75f62f33c0149af7be98
[11] Ohnehin: Die Elefanten werden „ökumenisch“ übersehen, sie stehen nicht nur im Meyns‘chen Darkroom. Ich unterscheide hier also nicht systematisch zwischen katholischen und evangelischen Missetaten und deren Vertuschung.
[12] https://dierkschaefer.wordpress.com/2020/10/04/ein-abgrund-von-perfidie/
[13] https://www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/archiv?tx_pvpfarrerblatt_pi1%5Baction%5D=show&tx_pvpfarrerblatt_pi1%5Bcontroller%5D=Item&tx_pvpfarrerblatt_pi1%5Bitem%5D=4977&cHash=e704d52f21fe48b54a7b6ecd00ae2b31
[14]„Die @WWU_Muenster hat diese Woche eine Studie zu sexuellem #Missbrauch im Bistum #Münster vorgestellt. Ich habe mir die Studie angeschaut. Mir fiel auf, dass auf 594 Seiten die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Münster mit keinem Wort erwähnt wird.“ https://eulemagazin.de/beistand-oder-bystander-die-latdh-vom-19-juni/
[15] https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2021/03/text-blog.pdf
[16] Hier muss ich nachträglich einen Link einfügen. Er verdeutlicht den kirchlich-hoheitlichen Umgang mit den Geschädigten. Landesbischof Meyns wird auch erwähnt: https://www.br.de/nachrichten/kultur/ekd-gruendet-forum-zur-missbrauchsaufarbeitung-in-kirche-und-erntet-kritik,T4BpqZr
[17] https://dierkschaefer.wordpress.com/2020/10/28/gastkommentar-von-erich-kronschnabel/
[18] „Sehr geehrter Herr Teetzmann, … Die Mitglieder der UKO sind (teils mehrfach) ehrenamtlich in kirchlichen Gremien tätig! Dann von unabhängigen Personen zu sprechen ist abenteuerlich. So werden das auch alle Betroffenen weiterhin sehen; werden die Kommissionsmitglieder als Richter in eigener Sache ansehen.“ Mail an uko.konfoederation@evlka.de
[19] Meyns schreibt: „nach dem Rücktritt von fünf Mitgliedern und unlösbaren Konflikten zwischen den übrigen sieben wurde deutlich, dass die Konzeption des Betroffenenbeirates nicht funktioniert hat.“
Wie unabhängig die von der Kirche ernannten Mitglieder sind, dürfte schon deutlich geworden sein. Dazu noch einige Zitate:
„Die Mitteilung verweist auf Rücktritte aus dem Beirat und interne Konflikte zwischen dessen Mitgliedern. Zudem sei in Gesprächen zwischen dem Beauftragtenrat, dem leitende Geistliche und Kirchenjuristen angehören, und dem Betroffenenbeirat kein Konsens über das weitere Vorgehen erzielt worden.“ „Der Beauftragtenrat hatte eine Weiterarbeit des Gremiums schließlich als nicht möglich angesehen“, heißt es in der Mitteilung.“ Die Betroffenen sehen das anders: „Mit der einseitigen Aussetzung der Betroffenenbeteiligung versucht sich die EKD der Kritik von Betroffenen an ihren unzureichenden Prozessen der Aufarbeitung zu entziehen“, heißt es in einer Erklärung von vier Beiratsmitgliedern. Sie wehren sich gegen eine Darstellung, die interne Konflikte als Ursache benennt und damit den Betroffenen selbst eine Schuld am Scheitern des Gremiums gibt. Die Mitglieder seien mehrheitlich für die Fortsetzung der gemeinsamen Arbeit gewesen. Ein „gangbarer Weg“ wäre eine externe Prozesssteuerung gewesen, heißt es in der Mitteilung, die von Katharina Kracht, Detlev Zander, Henning Stein und einem weiteren ehemaligen Beiratsmitglied mit dem Pseudonym NKD unterzeichnet wurde. … Der badische Landesbischof Jochen Cornelius-Bundschuh, der auch Mitglied im Beauftragtenrat der EKD ist, sieht Fehler der evangelischen Kirche bei der Betroffenenbeteiligung zur Aufarbeitung von Missbrauch und hält einen Neustart für notwendig.“
[20] Mail von uko.konfoederation@evlka.de
[21] Mail von uko.konfoederation@evlka.de vom 13. Mai 2013
[22] https://www.sueddeutsche.de/panorama/katholische-kirche-missbrauch-strafverfolgung-justiz-1.4339753
[23] https://dierkschaefer.wordpress.com/2021/06/11/sehr-geehrter-herr-landesbischof/
[24] https://www.sueddeutsche.de/panorama/katholische-kirche-missbrauch-strafverfolgung-justiz-1.4339753
[25] Mail von uko.konfoederation@evlka.de
[26]https://hpd.de/artikel/katholische-kirche-uebertrifft-sich-ihrem-zynismus-selbst-18532
[27] Aus einem Mail an mich vom 24.11.2021
[28] https://dierkschaefer.wordpress.com/2020/10/28/gastkommentar-von-erich-kronschnabel/
[29] Mit Hinweis auf: Mittwoch, 16.06.2021, Bayerisches Fernsehen, Name der Sendung: Kontrovers, Uhrzeit: 21:15 Uhr.
[30] Auf der langen Bank? Freeze now! 3. Januar 2010, https://dierkschaefer.wordpress.com/2010/01/03/auf-der-langen-bank-freeze-now/
[31] https://dierkschaefer.wordpress.com/2015/01/03/der-runde-tisch-heimerziehung-ein-von-beginn-an-eingefadelter-betrug/
[32] Wer über den „LANDESbischof“ stolpert: Tempi passati, aber nicht für kirchliche Träume: „Das Gebiet der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig umfasst den Hauptteil des ehemaligen Freistaates Braunschweig, der bis 1946 bestand und danach im Land Niedersachsen aufging.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Evangelisch-lutherische_Landeskirche_in_Braunschweig
[33] https://dierkschaefer.wordpress.com/2011/01/31/der-runde-tisch-heimkinder-und-der-erfolg-der-politikerin-dr-antje-vollmer/
[34] https://dierkschaefer.wordpress.com/2020/05/05/die-kirche-braucht-hilfe-um-wieder-ehrlich-zu-werden/
[35] Lauter Zuständigkeiten, welch ein Zustand! Der Anstand bleibt auf der Strecke.
„Sehr geehrter Herr Landesbischof,
für das anregende und konstruktive Gespräch von vorhin möchte ich mich bedanken. Es hat mir gut gefallen.“
Zwischenbemerkung für die Leser meines Blogs. Nach einem Vorlauf auf Twitter rief mich ein Landesbischof vor ein paar Tagen an. Den Termin hatte sein Büro mit mir abgesprochen. Terminiert war eine halbe Stunde. Der Zeitrahmen wurde leicht überzogen, obwohl ihn der nächste Termin drängte. Ich will kurz über dieses wirklich angenehme Gespräch berichten und hier mein Mail posten, das ich ihm noch am selben Abend schickte. Dabei habe ich alle Hinweise auf die Identität des Bischofs entfernt, denn ich möchte nicht, dass er sich öffentlich unter Druck gesetzt fühlt.
Der Landesbischof erwies sich als guter Zuhörer, der auch an den passenden Stellen nachfragte.
Ein anderer Landesbischof, so eröffnete ich, habe im Gespräch mit einem Betroffenen gesagt: „Wir hätten mehr auf unsere Leute hören sollen“. Insofern habe ich mich über seinen Anruf gefreut. Ich sprach dann vom Vertrauensverlust der Kirchen, dessen Beginn ich in den Vorgängen am Runden Tisch der Frau Vollmer sehe, der nachweislich von Beginn an Betrug gewesen sei. Ich sei schon lange mit dem Thema befasst. (Ich muss das hier nicht ausführen; die Leser meines Blogs kennen das.) Es habe leider keine glaubwürdigen Versuche seitens der Kirchen gegeben, Vertrauen wiederherzustellen. Ein Betroffener habe das Verhalten der Kirche auf die Formel gebracht: Kinder schänden, Zeit schinden, Kassen schonen. Ich konnte ihm auch Details benennen.
Die Zeit wurde dann aber doch knapp. Zum Schluss sprach ich noch ein paar Punkte für das weitere Prozedere an, die ich, falls sie untergegangen sein sollten, im Mail an den Bischof wiederholt und etwas ausgebaut habe.
Im Mail ist auch von der Unabhängigkeit der berufenen Kommissionen die Rede. Wenn man schon solche Kommissionen hat, deren Unabhängigkeit begründet bezweifelt werden kann, wird man nicht einfach die problematischen Mitglieder entfernen können, aber man muss offen die vorhandenen Abhängigkeiten diskutieren – und mancher wird dann seinen Platz freiwillig räumen und Nachrückern Platz machen.
Nun zum Mail[1] mit den genannten Einschränkungen:
Was tun?
Das Wichtigste wäre eine Kommission, die wirklich und nach außen erkennbar unabhängig ist. [2]Die Mitglieder dürfen keine besondere Verbindung zur Kirche haben, dürfen nicht im Dienst der Kirche stehen/gestanden haben, sollten auch kein kirchliches Ehrenamt bekleiden.[3] Mitglied sollte eine externe Fachperson sein, die sich mit Traumata und Retraumatisierung auskennt und Erfahrungen im Umgang mit traumatisierten Menschen hat. Diese Person sollte bei der Zusammensetzung der Kommission beteiligt sein, insbesondere bei der Auswahl der Betroffenen, die für Beschlüsse ein Veto-Recht bekommen. Die Sitzungen sollten protokolliert werden und die Protokolle der Zustimmung aller bedürfen. Protokolle müssen öffentlich einsehbar sein unter Beachtung des Datenschutzes für die Opfer. Die berufliche Rolle der Täter bedarf keines allgemeinen Datenschutzes. Täternamen zur Kenntnis zu geben, die wiederum muss über ihre daraus folgende Aktivität/Nichtaktivität der Kommission berichten. Diese Berichte müssen der Öffentlichkeit zugänglich sein, mit Schwärzung der Namen, nicht der Funktion der beschuldigten Personen. So viel zur Transparenz.
Ich empfehle, für interne Beratungen eine erfahrende Person aus der Notfallseelsorge auszuwählen oder einen Traumatherapeuten, insbesondere, wenn es darum geht, in Kontakt zu weiteren Betroffenen zu treten und von ihnen Auskünfte über Tatvorgänge einzuholen. Das darf man keinem Juristen überlassen. Die kommen aus einer anderen Denkschule. Ich habe das oft erlebt, wenn ich Juristen mit Sozialarbeitern oder Psychologen zusammenbrachte, so auch in meinem Kriminologiestudium. Da saß ich Ruheständler unter lauter angehenden Juristen, die sich wunderten, dass man einen Sachverhalt (es ging um Stalking) „auch so“ sehen kann; schon meine Sprache war für sie „ungewöhnlich“.
Wir haben in der Kirche zwar die erforderliche Seelsorgeerfahrung, dürfen sie aber nicht anbieten, denn wir sind die Täterseite. Das gilt auch für unsere Beratungsstellen. Solche Hilfsangebote müssen von außen kommen.
Schwierig wird die Bemessung von Entschädigungen, gerade bei sexuellem Missbrauch. Ein Verweis auf Schadensregelungen im staatlichen Bereich hilft nicht, denn dieser Staat ist beim Thema Entschädigung sehr hartleibig. Mit Sachschäden kommt er klar. Aber seelische Schäden – kennt er die überhaupt? – (Ich wollte eigentlich nicht aus meinem Blog zitieren, hier tue ich‘s doch: „Selbstsicher und verantwortungsbewusst sollen unsere Kinder ins Leben gehen – Manchmal geht das schief. [„Eigenstandsschaden“], https://dierkschaefer.wordpress.com/2020/11/20/selbstsicher-und-verantwortungsbewusst-sollen-unsere-kinder-ins-leben-gehen-manchmal-geht-das-schief/) – Dem kann man zwar keine „Gliedertaxe“ wie im Versicherungsrecht entnehmen, doch hier wird der Horizont für Schädigungen und ihre Auswirkungen aufgezeigt. Das könnte helfen, zu angemessenen Einschätzungen zu kommen. Dafür braucht man dann eine separate Kommission: unabhängig, fachkundig, empathisch.
Soweit ich weiß, hat die Landeskirche Berichte derer, die einen Antrag auf Anerkennungsleistungen gestellt haben. Die Auswertung dieser Berichte könnte/sollte man wissenschaftlich aufarbeiten, dokumentieren, und die Ergebnisse anonymisiert zugänglich machen. Sie könnten einen Anhalt für Entschädigungsfragen geben.
Ob man den Staat gewinnen kann, eine richterliche Untersuchungskommission zu installieren, die staatsanwaltliche Befugnisse hat und allen Fällen auf den Grund geht, auch den schon verjährten, bezweifele ich, denn der Staat hat in der Heimkindersache auch „Dreck am Stecken“ und wird sich seiner Mitverantwortung nicht stellen wollen. Die Verjährung wurde geschaffen, damit Streit auch gegen den Willen Betroffener ad acta gelegt werden kann. Wir haben es mit der Behandlung von Heimkindern mit dem größten „flächendeckenden“ Verbrechen seit 1945 zu tun. In einem solchen Fall braucht es andere Maßnahmen, um Rechtsfrieden wieder herzustellen. Das gilt auch für die nun als endemisch anzusehenden sexuellen Verbrechen an Kindern in Familien und Institutionen.
Die Frage nach den Kosten will ich nicht unterschlagen. Am Runden Tisch saßen drei weitgehend unbedarfte Heimkinder einem Gremium von ganz und gar nicht unbedarften Interessenvertretern gegenüber. Die einen hatten keinen Etat und keine Rechtsberatung, die anderen saßen in ihrer Dienstzeit am Runden Tisch und hatten einen Apparat im Hintergrund. (Über Frau Vollmer schweige ich mich jetzt aus.) Wer an der Unabhängigen Kommission teilnimmt, wird – da sie ja unabhängig sein soll – dies nicht in seinen dienstlichen Verpflichtungen unterbringen können. Das heißt: Alle brauchen neben den Spesen ein angemessenes Sitzungsgeld, auch die Betroffenen, selbst wenn sie keinen Verdienstausfall haben. Die Betroffenen sollten sich auf eine angesehene Anwaltskanzlei einigen, die sie berät. All diese Kosten müssen zulasten der Landeskirche gehen.
So viel, sehr geehrter Herr Landesbischof, zum Abschluss unseres Gespräches. Ich hatte gesagt, ich könnte Sie mit meinem Material „totwerfen“. Der Versuchung bin ich wohl nicht erlegen.
Ich wünsche Ihnen „ein gutes Händchen“ im Umgang mit dem höchst komplexen Problem und würde mich freuen, wenn Ihre Landeskirche eine glaubwürdige Vorreiterrolle einnehmen könnte.
Mit herzlichem Gruß
Dierk Schäfer, Freibadweg 35, 73087 Bad Boll, Tel: 0 71 64 / 1 20 55
[1] Von diesem Blog-Eintrag habe ich den Landesbischof informiert. Das Photo ist ein Beispielsphoto.
[2] Nicht im Mail enthalten: Ein Kommentar erwähnt „unabhängige Wahrheits- und Versöhnungskommissionen“. Das sollte man nicht vermengen. Der Weg zur Versöhnung ist noch viel weiter, als der zur Wahrheit – und auch dort sind wir noch lange nicht angelangt. FAZ, Donnerstag, 10. Juni 2021, Print, https://zeitung.faz.net/faz/seite-eins/2021-06-10/805736e074e898e4d15ba4aa00177925/?GEPC=s3
[3] Auch nicht im Mail enthalten: Mertes fragt: „Wie ist es möglich, dass in Betroffenenbeiräten Personen sitzen, die in einem Angestellten-, das heißt wiederum in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Kirche sind, die ihr Arbeitgeber ist?“ https://www.deutschlandfunk.de/missbrauchsaufarbeitung-im-erzbistum-muenchen-gruppenbild.886.de.html?dram:article_id=498260
Selbstsicher und verantwortungsbewusst sollen unsere Kinder ins Leben gehen – Manchmal geht das schief.
Zunächst eine Vorbemerkung.
Ich habe hier einen 29seitigen Essay[1] auf gut fünf Seiten „eingedampft“. Ziel ist, dem Leser, der mit Entschädigungsfragen infolge staatlich zu verantwortender „Erziehungsfehler“ zu tun hat, einen ersten Überblick über die Kausalzusammenhänge und die rechtlichen Möglichkeiten zu geben. Eine Vertiefung in die Materie ist nach diesem Überblick erleichtert. Man folge den Hinweisen auf den Originalartikel.
Zu beachten ist auch das erste sozialgerichtliche Urteil, das in der Logik der hier dargestellten Erkenntnisse steht.[2] Dieses Urteil liegt mir vor. Es ist noch nicht veröffentlicht. Es ist eine Sternstunde deutscher Gerichtsbarkeit. Hier hat eine Richterin – wohl ohne entsprechende Vorbildung – in einer unübersichtlichen Situation juristisch „ins Schwarze“ getroffen. Ich habe eine pseudonymisierte Arbeitsfassung erstellt, die ich als PDF beifüge.[3]
Wenn meine Kurzfassung des Essays ehemaligen Heimkindern und ihren Rechtsvertretern Zugang zu einer juristisch erfolgreichen Argumentation eröffnet, werde ich meine Mühe für sinnvoll investiert betrachten.
Nun zum Sachverhalt
Wenn wir auf die Welt kommen, sind wir noch lange nicht „fertiggebacken“. Aber wir haben es erlebt, das Paradies, die Rundumversorgung im Mutterleib: In wohliger Wärme kam rund um die Uhr alles, was wir brauchten.
Erst später lernten wir, dass schon dieses Paradies bedroht war. Doch wenn unsere Mutter nicht trank[4] oder Drogen nahm, wenn sie nicht selber – warum auch immer – unter Dauerstress stand, kam von ihr nur Gutes zu uns rein. Und wenn wir nicht vorzeitig abgetrieben wurden, wuchsen wir heran, bis uns das Paradies zu eng wurde. Wir mussten da raus. Und dann wurde es kritisch. Da war der enge Geburtskanal – und danach?
Danach wurde es unerwartet kalt und viel zu hell. Die Hebamme gab uns einen Klaps auf den Po, damit wir schreien und sich unsere Lungen entfalteten. Nun waren wir in der Welt. Wir wurden abgetrocknet, da wars schon nicht mehr so kalt, in ein Kissen gewickelt und jemandem in den Arm gelegt. Keine Ahnung, wer das war. Später sagte man mir, es war mein Vater. Der trug mich im Kreissaal im Kreis herum, und die Hebamme sagte: Jetzt haben wir die Nachgeburt noch vor dem Kind gewogen. Die hatte Sorgen. Ich hatte andere. Die ganze Welt stürzte auf mich ein, fremd. Erst einmal: Augen zu!
Das Neugeborene ist mit einer Art „Notfallset“ ausgestattet, da ist nur ein Tool drin: Es kann schreien und seine Umwelt unter Druck setzen. Ganz egoistisch fordert es sein Recht auf Nahrung und Geborgenheit, von Rücksichtnahme keine Spur. Normalerweise spuren „seine“ Leute, meist die Mutter. Sie versorgt das Baby, nimmt es in den Arm und spricht mit ihm in einer Tonlage, die sie sonst nicht „drauf“ hat. Zwar nicht mehr im Paradies lernt das Baby: Wenn ich schreie, kommt jemand, und dann ist alles wieder gut. Dank „mothering“ ist eine Bindung entstanden, ein Band des Vertrauens. Dann kann das Baby ja bald die Welt erkunden, runter vom Schoß, krabbeln! Stößt es sich irgendwo und bekommt Angst, dann nichts wie zurück in den sicheren Hafen, die Mutter nimmt es hoch und tröstet es. Alles wieder gut! Auf ein Neues – und die Mutter ermuntert es. Wenn es dann so weiter geht, ist alles gut.
Wenn nicht, wird es schwierig.
Der Essay zielt auf nicht so gut.[5]
Die Autoren nehmen die ehemaligen Heimkinder in den Blick und zeigen auf, welche nachhaltigen negativen Einflüsse die Heimerziehung[6] auf das sich entwickelnde Gehirn der Heimkinder gehabt hat. Die Auswirkungen führten zu einer Beeinträchtigung des Selbstbildes und zur deutlichen Verschlechterung der Lebens-Chancen. Was dort geschah, so schreiben die Autoren, seien Menschenrechtsverletzungen, die auch gegen das Grundgesetz verstoßen. Darum hätten diese Heimkinder einen rechtlichen Anspruch auf finanzielle Kompensation – gegen den Staat, der seine Aufsichtspflicht sträflich verletzt habe. Diese Kompensation könne aus juristischen Gründen nur über OEG-Verfahren (OEG=Opferentschädigungsgesetz) erfolgen. Soweit in Kürze.
Nun etwas detaillierter[7].
Der Eigenstandsschaden
Die Autoren gehen von einem Eigenstandsschaden aus. Dies ist ein ungewöhnlicher Begriff. Sie bemühen ihn, um die schädigenden neurologischen und psychologischen Wirkungen der Heimerziehung in den 50er bis 70er Jahren als Verletzung von Art. 1 I, 2 I GG und damit kompensationspflichtig darzustellen.
Was ist mit Eigenstand gemeint?
Gemeint ist die Stärkung der Persönlichkeit des Heranwachsenden, der im Sinne des GG frei – eigenständig – seinen Platz in dieser Gesellschaft einnehmen und behaupten können soll.
- „Psychologisch operationalisiert beschreibt Eigenstand die schrittweise zu entwickelnde Fähigkeit des Menschen, überhaupt verantwortliche Entscheidungen im Sinne der Ausgestaltung seines Persönlichkeitsrechtes zu fällen.“
Dazu gehört die Sozialverpflichtung.
- „Sozialverpflichtung beschreibt die schrittweise zu entwickelnde Fähigkeit des Menschen, soziale Verantwortung für den Eigenstand und das Persönlichkeitsrecht anderer Menschen zu übernehmen.“
Der Mensch, eine physiologische Frühgeburt
Davon ist der neue Weltbürger noch weit entfernt, so „unfertig“ wie er auf die Welt kommt.[8]
Seit Portman[9] sehen wir den Menschen als physiologische Frühgeburt. Die Autoren differenzieren: „Der Mensch [kommt] als neuronale Frühgeburt zur Welt. Zur neuronalen Reifung und zur darauf basierenden Teilhabe an der menschlichen Gemeinschaft bedarf er der unmittelbaren Fürsorge und Sozialisation. Diese beiden Bedürfnisse [sind] Voraussetzungen erzieherischer Verantwortungsübernahme. Diese Verantwortungsübernahme liegt darin begründet, dass beim Menschen eine stark verzögerte Gehirnentwicklung nach der Geburt (stattfindet), die erst im dritten Lebensjahrzehnt in den Zielzustand einer neuronal ausgereiften Person einmündet: Über vielfältige Umbauprozesse des Gehirns … wird die vollständige Reifung des Gehirns beim Menschen erst ab dem 25. Lebensjahr erreicht.“
Der Staat ist in der Pflicht
Der Staat trägt qua Grundgesetz die Verantwortung für die Erreichung des Eigenstandes. Im Normalfall liegt die Verantwortung bei den erziehungsberechtigten Eltern[10], doch in seiner Wächterfunktion (Jugendamt) übergeordnet beim Staat. Wenn er Gründe sieht, das Kind aus der Familie zu nehmen, tritt er direkt in die Verantwortung für die Erziehung ein und wird haftbar für Eigenstandsschäden. Er stellt sich außerhalb des Grundgesetzes und handelt damit verfassungswidrig,[11] wenn er seine Pflicht zur Heimaufsicht nicht wahrnimmt und es infolge dieser Pflichtverletzung nicht zu pädagogisch-wissenschaftlich fundierter Erziehung und zur Unterbindung von Misshandlungen und kommt.
Trauma und Erinnerung
Es ist inzwischen allgemein bekannt und anerkannt, dass Traumatisierungen oft erst erheblich zeitverzögert erkannt werden, wenn entsprechende Symptome auftreten und zugeordnet werden können. „Ohne Kenntnis dieser Tatsachen ist schlechterdings keine Rechtsbeanspruchung durch die Betroffenen denkbar. Die Kausalitätsbestimmung der aktuell bei den Betroffenen vorliegenden Symptome zur jahrzehntelang zurückliegenden Heimunterbringung ist nicht ohne Spezialkenntnisse bzw. psychologischer Beratung möglich: der Verlauf der Erkrankungen ist schleichend und nicht ohne spezielle Kenntnisse auf die – teilweise den Betroffenen nicht mehr bewussten bzw. verdrängten – Misshandlungen und Vernachlässigungen zurückzuführen.[12] Vielmehr sind [diese] den Betroffenen erst [durch] eine Aufarbeitung der Geschehnisse durch psychologische Hilfestellung möglich. Daher ist dem Gebot der Effektivität des Rechtstaatsprinzips und dem mit wirkenden Schutzgedanken der staatlichen Wächterrolle nach Art. 6 II GG gegenüber den Schädigern Geltung zu verschaffen.“
Worin bestehen diese Schäden?
„Als neuronale Frühgeburt braucht der Mensch adäquat verantwortete entwicklungsfördernde Umwelten, damit sich Eigenstand und Sozialverpflichtungspotential schrittweise entfalten können. Werden ihm diese entwicklungsfördernden Umwelten verwehrt, kommt es zu neurowissenschaftlich und psychotraumatologisch feststellbaren Verletzungen und Beeinträchtigungen des inneren Milieus und damit zu einer Beschädigung der inneren Voraussetzungen erwachsener Freiheit und Sozialverpflichtung. Dem Betreffenden wird damit die Möglichkeit genommen, die Voraussetzungen des Persönlichkeitsrechts zu nutzen. Ihm wird die lebensgeschichtliche Möglichkeit erschwert oder genommen, seine Grundrechte geltend zu machen und damit an der Kontinuität der Verfassungsordnung mitzuwirken.“ – „Die Heimerziehung der 1950er bis 1970er Jahre war in dem Sinne bei der Zerstörung der Voraussetzungen des Eigenstandes sehr effektiv: ein beständiger Zustrom von affektiv negativ konnotierten Reizen (Zurückweisung, Bedrohung, Demütigung, Entwürdigung) legten das Fundament für das gestörte Denken, Fühlen und Handeln der Heiminsassen in ihrem späteren Leben.“ [13]
Anpassung als Überlebensprinzip
Diesen Mechanismus muss man verstehen: „Aus der Perspektive des Heranwachsenden kommt es zu einer optimalen Anpassung an die Umwelt der Erwachsenen. Das neuronale System entfaltet sich also in Richtung auf eine optimale Anpassung an die Stimuli auslösende Umwelt. Das Prinzip ist die für die Lebenssicherung und Arterhaltung optimale Adaption. D.h. auch die menschenunwürdigsten Sozialisationsbedingungen wirken neuroplastisch adaptiv und damit normativ für die Anpassung an eine gegebene Umwelt. Sie befähigen das kindliche System je früher dies geschieht und je länger dies andauert, desto nachhaltiger sich optimal an jede, mit dem Überleben irgendwie vereinbare Umwelt anzupassen. Diese Adaption hat allerdings zur Folge, dass eine spätere Umstellung auf andere, z.b. lebenswertere Lebensbedingungen, wenn nicht verunmöglicht, doch in jedem Fall aber erschwert wird, je früher und zeitlich ausgedehnter die negativen Lebensbedingungen bestanden hatten.“ – Ehemalige Heimkinder tragen „ein epigenetisches Erbe ihrer leidvollen Lebensgeschichte mit sich: bei entsprechenden Stimuli im späteren Leben werden dysfunktionale Netzwerkstrukturen aktiviert, die im Sinne einer früheren Anpassung an das neuronal destruktive Heimsystem einmal überlebensnotwendig waren.“ – „Der Organismus des Kindes [wurde] dauerhaft für Stressreaktionen wie Kampf, Flucht, Angst und Erstarrung vorbereitet. … Die dabei sich entfaltende Hyperaktivität und Hyperreagibilität des Stresshormonsystems sind in Hinblick auf die dauerhafte Auslieferung an die Gewalt als hoch adaptive und funktional Anpassungen an eine … Ausnahmezustandssituation zu werten. … Diese mittel- bis langfristigen neuropsychologischen Folgen einer solchen seriellen Gewalt-Exposition führen zu massiven psychischen Symptomen, die innerhalb des Heimsystems zwar funktional, außerhalb des Heimsystems hoch dysfunktional und daher als Folge eines hier neuropsychologisch aufgeschlüsselten Eigenstandsschadens gewertet werden müssen und die gesellschaftliche Teilhabe massiv behindern.[14] Im Besonderen sind zu nennen: Bindungsstörungen, erlernte Hilflosigkeit, mangelnde Affektregulation, Selbstwertstörungen, Mangel an emotionaler Berührbarkeit, Unfähigkeit zur sozialen Perspektivenübernahme, Störung der Mentalisierungsfähigkeit, Unfähigkeit Wünsche, Impulse und Bedürfnisse auszudrücken, Impulsivität, soziales Vermeidungsverhalten, fragile Selbstwertregulation, posttraumatische Belastungsstörung, erhöhtes Risiko für Depressionen und Suizide, Angststörungen und auch Persönlichkeitsstörungen als heimintern adaptive, gesellschaftlich aber dysfunktionale Verhaltens- und Erlebensformen. Diese Störungsmuster verflechten sich mit der Persönlichkeitsentwicklung vieler ehemaliger Heimkinder. so dass nun nach den dafür ursächlichen Stimuli gefragt werden soll.
- Stimuli, deren Mangel zu bestimmten Zeiten die Entwicklung beeinträchtigen, die also in einem bestimmten vulnerablen Zeitfenster gegenwärtig sein müssen
- Stimuli, die unabhängig von kritischen/sensiblen Phasen auf die Entwicklung neuronaler Netze des Gehirns wirken
- In diesen sensiblen bzw. kritischen Phasen der Entwicklung sind bestimmte Stimulustypen in ausreichender Intensität, Dauer und Menge erforderlich, damit sich eigenstands- und sozialverpflichtungsrelevante neuronale Funktionen entwickeln können, wie z.b. Stressinhibition, Selbstwertregulation, Affektregulation und Mentalisierungsfähigkeiten.
- In diesen Phasen ist das kindliche bzw. jugendliche Rechtssubjekt einerseits neuronal hochgradig geöffnet für soziales und umweltbezogenes Lernen. Andererseits sind Kinder und Jugendliche in diesen Phasen aber auch besonders empfänglich für schädigende Einflüsse. … Es können sich neuronale Dispositionen bilden, die, wenn im späteren Leben weitere ungünstige Faktoren hinzutreten, dann den Ausbruch einer manifesten psychiatrischen Erkrankung bedingen.“
„Der schädliche Habitus dem Heimkind gegenüber verunmöglichte die gelingende Ausdifferenzierung genetisch vorgegebener kognitiver und emotionaler Potenzen von Säuglingen, Kleinkindern und Heranwachsenden. Dieser hat damit das Recht auf Erziehung nicht nur konterkariert, sondern muss darüber hinaus als direkter Angriff auf die neuronalen Voraussetzungen des humanen Freiheitsgebrauchs und der damit verbundenen Potentiale sozialer Verantwortungsübernahme gewertet werden. Damit stellt dieser einen direkten Angriff auf den Eigenstand des Menschen dar.“
Staatlich installierte Kindeswohlgefährdung begründet Anspruch auf staatliche Entschädigung
„Zusammenfassend kam es im Einflussbereich der Heime bei den ehemaligen Heimkindern zu einer „Einformung traumatisierender Erfahrungen in die neuronale Struktur des menschlichen Gehirns …. Die damit verbundenen Schädigungen des Eigenstandes dürften umso höher zu veranschlagen sein, je früher diese Erfahrungen gemacht werden. …
Die trauma- oder deprivationsbedingte Verhinderung sozialen Lernens und zwischenmenschlicher Empathie bricht das Recht auf Erziehung … und kann auch heute als neurowissenschaftliche Basis jugendamtlicher Kriterien für die Gefährdung des Kindeswohls gelten. Auf Grundlage dieser Kriterien tritt man dem deutschen Heimsystem nicht zu nahe, wenn man in ihm Vorgänge einer staatlich installierten Kindeswohlgefährdung erblickt. …
[Sie] begründen bei den Betroffenen sowohl Ansprüche auf Schmerzensgeld als auch weitere Schadensersatzansprüche. … Die Verantwortung des Schädigers ist daher weit für sämtliche Folgeschäden, die adäquat in Zusammenhang mit dem schädigenden Ereignis stehen, gefasst.“
„Sämtliche Voraussetzungen für die tatsächliche Ersatzpflicht erfüllen daher Träger und Staat gleichermaßen durch die damalige Praxis der Heimunterbringung.
Einer gerichtlichen Durchsetzung der vorgenannten Ansprüche der Heimkinder steht jedoch die Einrede der Verjährung gem. § 214 BGB seitens der damaligen, heute noch in Form der Träger rechtlich und tatsächlich fortbestehenden Schädiger entgegen. … Zum anderen gilt dies auch für Ansprüche gegen den Staat aus Amtshaftung nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG aufgrund unterlassener effektiver Kontrolle und Unterbindung der Misshandlungen in den Trägereinrichtungen.“
„Eine rückwirkende gesetzliche Bestimmung zur Aufhebung der Verjährung für bereits eingetretene Verjährungen ist nicht zulässig.“
Die Autoren schlagen eine Änderung des geltenden OEG [vor.] [Es] „dürfte … bei einem staatlichen Verschulden legislativ geöffnet werden für die Leistung von Schadensersatzansprüchen und Zahlung von Schmerzensgeld. Daher wäre im OEG eine Erweiterung der Beweiswirkung von ärztlich festgestellten psychischen Schäden im Rahmen einer gesetzlichen Kausalitätsvermutung bei nachweislichen Heimaufenthalten in den Jahren 1950-1975 anzustellen.“
[1] Operationalisierbarkeit des Eigenstandsschadens – Begründung von Schadensersatzpflichten durch Verletzung von Art. 1 I und Art. 2. I GG Prof. Dr. Jürgen Eilert*, Prof. Dr. Jan Bruckermann**, Dr. Burkhard Wiebel***
Die Originalfassung kann abgerufen werden unter: https://docplayer.org/169226626-Sozialrecht-4-jahrgang-seiten-operationalisierbarkeit-des-eigenstandsschadens-abhandlungen.html Hier auch die Querverweise und Quellenangaben. Um gezielt auf die Suche zu gehen, kann man auch mein Arbeitsexemplar im WORD-Format anfordern: ds@dierk-schaefer.de
Zitate, soweit nicht anders ausgewiesen, sind dem Essay entnommen.
[2] Sozialgericht Darmstadt, Az: S 5VE25117
[3] https://dierkschaefer.wordpress.com/2020/11/20/oeg-urteil/ Diese Version ist als Vorabmitteilung ausschließlich zum persönlichen Gebrauch bestimmt. Abzuwarten ist die zitierfähige Veröffentlichung durch das Sozialgericht.
[4] In der Schule wurde das Thema Alkohol durchgenommen. Von da an wollte Kevin, ein Pflegekind, nicht mehr zu seiner leiblichen Mutter, denn nun wusste er, warum er behindert war.
[5] Ich folge im Wesentlichen dem Verlauf und gebe den Essay in ausgewählten Auszügen wieder.
[6] Soweit es allgemein um Hirnentwicklung geht: Schädigende Einflüsse kommen auch außerhalb der Heimerziehung vor. Nur dann dürfte es noch schwieriger sein, Ansprüche auf finanzielle Kompensation durchzusetzen. Dasselbe gilt für die pränatalen Schädigungen in der Kriegskindergeneration (hoch stressbelastete Schwangerschaften bei Bombardierungen).
[7] Wer es noch detaillierter haben will: Elisabeth B. Binder, Folgen früher Traumatisierung aus neurobiologischer Sicht, https://link.springer.com/article/10.1007/s11757-017-0412-9 Doch ich warne. Dieser Text ist nur mit einschlägigen Vorkenntnissen verständlich.
[8] „Primaten kommen mit einem besonders unfertigen Gehirn zur Welt. Je langsamer es sich anschließend entwickelt und je länger es dauert, bis alle Verschaltungen endgültig geknüpft und festgelegt sind, desto umfangreicher sind die Möglichkeiten, eigene Erfahrungen und individuelle Nutzungsbedingungen in seiner Matrix zu verankern“
[9] 1941 veröffentlichte Portman erstmals einen Beitrag zur Sonderstellung des Menschen in der Natur aus ontogenetischer wie phylogenetischer Sicht. In den folgenden Jahren veröffentlichte Portmann kontinuierlich weitere Beiträge zur Sonderstellung des Menschen in der Natur und behandelte verstärkt die ersten Lebensjahre des Menschen aus entwicklungsgeschichtlicher Sicht. Diese Sonderstellung des „physiologisch völlig unspezialisierten“, in seiner Entwicklung offenen Menschen unterscheide ihn als „ewig Werdender“ von allen anderen physiologisch höchst spezialisierten, „so-seienden“ Lebewesen. Er prägte die Begriffe der „physiologischen Frühgeburt“ und „Nesthocker“ bzw. „Nestflüchter“, welche auch heute noch Verwendung finden. Der Mensch ist einer späteren Arbeit von ihm zufolge ein „sekundärer Nesthocker“ mit einer offenen Präge- und Lernphase im „sozialen Uterus“ der Familie. https://de.wikipedia.org/wiki/Adolf_Portmann#Wissenschaftliche_Themen
[10] Einer meiner Tagungstitel: Eltern sind Schicksal – manchmal auch Schicksalsschläge.
[11] Der Mensch bleibt „unter den ihm von der Verfassung garantierten Möglichkeiten zurück: Grundrechtlich höchstgradig geschützte Rechtsgüter bleiben ungelebt oder können wegen der umfassenden neuropsychischen Störungen nicht oder nur beschädigt geltend gemacht werden, wie z.B. die Fähigkeit andere Menschen als gleichwertig zu erleben (Art. 3 GG), eine Religion zu haben (Art 4. GG), seine Meinung angstfrei frei zu äußern (Art. 5 GG), Ehe- oder Familienleben verantwortlich zu gestalten und Kinder zu erziehen (Art. 6 GG), eine erfolgreiche Schullaufbahn zu bewältigen (Art. 7 GG), öffentlich angstfrei zu demonstrieren (Art. 8 GG), sich in Vereinen zu organisieren (Art. 9 GG), private Kommunikation zu gestalten (Art. 10 GG), sich frei im öffentlichen Raum bewegen zu können (Art. 11 GG), berufstätig sein zu können (Art. 12 GG), sich mit dem Verfassungsstaat identifiziert und sozialverpflichtet zu fühlen (Art. 13 GG), eine eigene Wohnung zu gestalten (Art 14 GG), Eigentum zu erhalten und für die Erben zu sichern (Art. 15 GG).
[12] Eine Verstehenshilfe stellt die „Trauma-Zange“ nach Dr. L. Besser dar: https://dierkschaefer.wordpress.com/2018/11/25/wenn-die-seele-zuckt-trigger/
[13] Leser, denen die damaligen Erziehungsmethoden in Heimen fremd sind, mögen diesen Link anklicken: http://gewalt-im-jhh.de/Erinnerungen_KD/erinnerungen_kd.html
[14] Aus meiner Adoptionsarbeit: Ein Kind, das längere Zeit erfolgreich auf der Straße gelebt hat, ist kaum umzupolen.
Wir Insider wundern uns
„Die Geschichte der Heimkindheiten endlich konsequent aufarbeiten!“ fordert die „Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs zur Situation Betroffener der Heimerziehung in der Bundesrepublik und der DDR“[1], im Folgenden Rörigkommission genannt.
Nanu? Hat Frau Vollmer nicht am „Runden Tisch Heimerziehung“ die Aufarbeitung längst besorgt? So richtig begann es 2006 mit dem Buch „Schläge im Namen des Herrn“ [2]. 2008 wurde der Runde Tisch eingerichtet[3], ich selber habe dort bei der „2. Anhörung“ am 2. April 2009 referiert[4] und Verfahrensvorschläge vorgestellt.[5] Mein Blog hat sich in der Folgezeit hauptsächlich mit den Heimkindern beschäftigt, so auch andere Plattformen im Netz.[6] In der Folge begannen manche Heime ihre Vergangenheit in umfangreichen seriösen Studien aufarbeiten zu lassen. Hier seien nur zwei der vielen Publikationen von Hans-Walter Schmuhl und Ulrike Winkler genannt[7]. Dazu kommen noch die Berichte über die Ergebnisse des Runden Tisches von Prof. Kappeler, ein überaus kompetenter Fachmann, der vom Runden Tisch wohlweislich ausgegrenzt wurde.[8]
Was will die Kommission mehr?
Kann sein, dass auch sie mit den Ergebnissen des Runden Tisches nicht zufrieden ist. Da werden ihr viele, so auch ich, beipflichten. Der Runde Tisch hatte zwar auch ein paar wissenschaftliche Arbeiten in Auftrag gegeben, doch es handelte sich bei dem Runden Tisch um einen von Beginn an eingefädelten Betrug.[9] Dort wurden die ehemaligen Heimkinder gekonnt von Antje Vollmer über den Tisch gezogen.[10] In quasi mafiöser Verbindung konnten Staat und Kirchen das für sie Schlimmste verhindern: Eine echte Entschädigung und eine Anerkennung der Arbeit der Kinder in Fabriken und Landwirtschaft als Zwangsarbeit. Medikamententests an Kindern kamen nicht zur Sprache, für Säuglingsheime, Behinderteneinrichtungen und psychiatrische Unterbringungen zeigte man sich nicht zuständig. Durch ganz andere Problemlösungen im Ausland, zb gerichtliche Untersuchungsausschüsse ließ man sich nicht irritieren. Die Rechtsnachfolger der Misshandler traten in die Fußstapfen der Täter. Es hätte eine Lösung gegeben: Der Staat (die Länder und ihre Jugendämter) übernehmen die Verantwortung, zahlen Entschädigungen und refinanzieren sich bei den kirchlichen Einrichtungen. Hätte – aber genau das wollte man nicht.[11]
Wenn die Rörigkommission diese Fälle, ergänzt durch die hinzugekommenen Missbrauchsfälle, die damals kaum Thema waren, neu aufrollen will, muss sie die Erfahrungen der Heimkinder berücksichtigen: all die Untersuchungen haben für sie nichts gebracht. Ihre Berichte waren nur das Rohmaterial für Wissenschaftler, die damit ihr Geld verdienten und ihr Karriere beflügelten. Gewiss, sie gaben den Opfern Anerkennung, ihre Ergebnisse riefen bei den Rechtsnachfolgern „Betroffenheitsgestammel“[12] hervor, doch die waren damit glimpflich davongekommen und die Heimkinder fühlten sich abermals missbraucht. Wenn Herr Rörig mit seiner Kommission die Lage dieser Gruppe nachhaltig verbessern will, ist er herzlich willkommen. Das Beweismaterial liegt vor. Neue Untersuchungen sind unerwünscht. Sie würden nur als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme gesehen. Auch schon lange fordern die Heimkinder für sich andere Lösungen als Alters- oder Pflegeheime. Alles längst bekannt.[13]
Es mag sein, dass die Kommission vornehmlich die Missbrauchsfälle sieht, weil sich bei ihr dieser Personenkreis gemeldet hat, der zuvor nicht so sehr im Blickpunkt stand. Das Meldeaufkommen nach Bekanntwerden der Missbrauchsfälle im Piusheim macht deutlich, dass dieser Bereich noch ein großes Dunkelfeld bergen dürfte. Ich weiß, dass wir in nächster Zeit noch einiges über klerikale Pädokriminalität hören werden einschließlich der wirtschaftlichen Nutzung der Missbrauchsopfer. Das wird noch spannend. Aber …
Aber das interessiert die Öffentlichkeit nur vorübergehend. Die Heimkinder fanden sogar persönliche Beachtung in ihrem jeweiligen Lokalblatt, das sich die Gelegenheit nicht entgehen ließ, Opfer aus der näheren Umgebung präsentieren zu können. Es ist den Medien nicht vorzuwerfen, dass sie immer eine neue Sau durch ihre Blätter jagen müssen, denn der Skandal von heute verdrängt den von gestern. Die Leute wollen im Grunde nichts wissen, sondern nur unterhalten werden – und das ist der eigentliche Skandal.
Wenn die Rörigkommission einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss mit all den erforderlichen Vollmachten durchsetzt, wenn diese Untersuchungen die Staatsanwaltschaften nötigen, die einschlägigen Archivakten in Jugendämtern, Kirchen, Klöstern und Jugendhilfeeinrichtungen zu beschlagnahmen, und das unabhängig von der Verjährungsfrage[14], dann dürfte sie auch Unterstützung von den Opfern erwarten.
Kurz zur Verjährung: Sie ist eigentlich dazu gedacht, Rechtsfrieden zu schaffen für Uraltfälle. Eine nicht befriedigende aber letztlich befriedende Lösung. Doch hier hilft sie nicht. Die Verbrechen an den ehemaligen Heimkindern, den Misshandelten und den Missbrauchten stellen das wohl größte Verbrechen in der bundesrepublikanischen Geschichte dar. Prof. Kappeler: „Mitten im Kern des eigenen Gesellschaftssystems geschieht solches Unrecht in unvorstellbaren Ausmaß und sämtliche – verfassungsrechtlich, staatsrechtlich, verwaltungsrechtlich! – vorhandenen Kontrollsysteme versagen; nicht zufällig!“[15] Die Zahl der Opfer ist kaum überschaubar, die „Qualität“ der Verbrechen reicht von deutlicher Benachteiligung und Ausbeutung bis hin zu Monstrositäten grundlegender Menschenrechtsverletzungen Hier kann nicht gesagt werden: „Schluss jetzt, Schwamm drüber.“ Wir werden – Verjährung hin oder her – keinen Rechtsfrieden bekommen, allenfalls Friedhofsruhe, wenn die Opfer gestorben sind – doch ihre Geschichten leben weiter.
Hinzu kommt, dass in vielen Fällen der Rechtsweg von Beginn an schuldhaft versperrt blieb: Wer sich über seine Misshandlungen beklagte, (sei es in der Einrichtung oder bei der Polizei, den Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft,) wurde nicht nur abgewimmelt, sondern zuweilen auch noch geprügelt, weil er „Lügen“ erzähle. Wer, mündig geworden, auspackte, wurde bedroht. Beispielhaft sei hier Alexander Markus Homes genannt. Sein Buch „Prügel vom lieben Gott“ erschien erstmals 1981, also vor inzwischen 39 Jahren. Und die Kirche versuchte, ihn mundtot zu machen.[16] 1999 erschien das Buch MUNDTOT.[17]von Jürgen Schubert, ein weiterer Pionier. Schließlich ist noch an Paul Brune zu erinnern. Es geht dabei nicht um das Unrecht während der Nazi-Zeit (er wurde in eine der Tötungsstationen der Kindereuthanasie eingewiesen), sondern um das in der Bundesrepublik.[18]
Mich würde auch interessieren, mit welchen Methoden die Organisatoren der Kinderbordell-Einrichtungen gearbeitet haben, um die Heimkinder für den Sexmarkt gefügig zu machen und wer abkassiert hat.
Aber: welche Bedeutung haben Opfer angesichts der mächtigeren Interessenvertreter?
Es ist gut, sehr geehrter Herr Rörig, dass Sie sich nun über die Missbrauchsfälle hinaus auf breiterer Front eingeschaltet haben. Schließlich umfasst das Spektrum missbräuchlicher Behandlung von Schutzbefohlenen weitaus mehr als nur den sexuellen Bereich; die menschliche Bosheit ist bodenlos.[19]
Wir sind nun einer neuen(?) Form des sexuellen Missbrauchs auf der Spur, der Bordellisierung von Heimkindern. Ansätze dazu gab es bereits in der Korntal-Sache; die konnten aber m.W. nicht ausreichend belegt werden. Nun hören wir von ähnlichen Vorwürfen aus Mallorca und aus dem Piusstift. Es wäre ein Fortschritt, wenn Sie in Sachen Piusstift Beweismaterial beschaffen könnten.
Eine andere Investigativgruppe ist mit ihren Recherchen schon weiter. Eine erste fundierte Anzeige läuft bereits. Doch wie Sie wissen sind Staatsanwälte weisungsgebunden und die Schutzlobby der Täter ist mächtig. Haben Sie einen Draht „nach oben“?
Wenn dieser Kinderbordell-Fall demnächst, wie ich vermute, in die Medien kommt, müssten Sie mit Ihrem Material bereitstehen. Denn für „Kinderkram“ ist die Aufmerksamkeitsspanne des Publikums wie auch die der Politiker nicht so groß wie für Corona. Dann sollten Sie in Ihrer Funktion dafür sorgen können, dass ein Staatsanwalt mit seinem Team direkt ins Archiv marschiert, bevor dort die Akten vernichtet werden. Wie weit geht Ihre rechtliche Kompetenz? Sind Sie befugt, Klage zu erheben und werden Sie es tun?
Sollte Ihnen bei der Sichtung des Materials, das ich Ihnen jetzt präsentiert habe, der Kopf schwirren, empfehle ich zur Entspannung ein Kapitel aus den Aufzeichnungen des Heimkindes Dieter Schulz. „Von Auerbachs Keller in den Venusberg“.[20]
Fußnoten
[1] Stellungnahme vom 23. April 2020,https://www.aufarbeitungskommission.de/meldung-23-04-2020-stellungnahme-aufarbeitung-heimkindheiten/
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Schl%C3%A4ge_im_Namen_des_Herrn.Heimkinder waren vorher schon einmal Thema gewesen. https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/02/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-x/ Fußnote 1.
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Runder_Tisch_Heimerziehung_in_den_50er_und_60er_Jahren
[4] https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2009/04/runder-tisch-bericht-ds.pdf
[5] https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2009/04/verfahrensvorschlage-rt.pdf
[6] Beispielhaft sei hier nur die umfangreiche Öffentlichkeitsarbeit der Freien Arbeitsgruppe JHH aus Volmarstein genannt. http://www.gewalt-im-jhh.de/Grundung_der_Freien_Arbeitsgru/grundung_der_freien_arbeitsgru.html Nicht zu vergessen die stupende Aktivität von Martin Mitchell in Australien, ehemaliger Zwangsarbeiter im Moor von Freistatt bei Bethel. https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2017/01/freistatt_kappeler.pdf
[7] Rezensionen: Himmelsthür:https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2015/01/rezension-himmelsthc3bcr.pdf und Volmarstein: https://dierkschaefer.wordpress.com/2010/03/21/im-herzen-der-finsternis/
[8] http://gewalt-im-jhh.de/hp2/Kritischer_Ruckblick_2011.pdf Interessant ist, dass hier die Autoren eine mythisch-literarische Sprache verwenden: „Sie schreiben: »Öffnete man in den 1950er und 1960er Jahren die Tür zum Johanna-Helenen-Heim, so sah man in einen Abgrund der Willkür, der Zerstörung, der Gewalt, der Angst und der Einsamkeit. Man blickte in das ‚Herz der Finsternis‘« So heißt der Roman von Joseph Conrad, in dem er eine (fiktive) Expedition zum Oberlauf des Kongo, der Privatkolonie des belgischen Königs Leopold II beschreibt. Der „Freistaat Kongo“ stand außerhalb jeglichen Völkerrechts. Seine Bevölkerung wurde millionenfach zur Arbeit gezwungen, verstümmelt, versklavt, getötet. https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/6864476092/in/photolist-bss87h-bsAdtW-bstBdj-bFv4Nz-bFoukV-bFmU1D-brHiv7-bFmHZK-bFn3fv-bFn4MD-bss62f-bsAbz7-bsAeA5-bstGNY-bsAd8N-bstK9w-bFoDuR-bFmSHB-bFmPwD-bFmMWB/ Das Ganze unter dem „Deckmantel eines wortreichen humanitären Missionseifers“.
Auch ich griff – eher unbewusst – auf solch ein mythisch-literarisches Vorbild zurück, als ich meinem geplanten Essay über die Klerikale Pädokriminalität dieses Motto voranstellte:
„Willkommen im Reich des Bösen!
Lasst, die ihr reinkommt, alle Hoffnung fahren!
Ach so, nur zu Besuch …
Auch Kinder dabei? Nein? Schade.“
Hier regiert die Phantasie von de Sade, der nicht nur wegen seiner Phantasien viele Jahre seines Lebens eingekerkert war. https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/49821171961/in/dateposted-public/ Ein Schmankerl: de Sades Schädel von Dr. Ramon nach den Methoden der Phrenologie untersucht: „Sades Schädel glich in jeder Hinsicht dem eines Kirchenvaters.“ https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46407841.html
[9] https://dierkschaefer.wordpress.com/2015/01/03/der-runde-tisch-heimerziehung-ein-von-beginn-an-eingefadelter-betrug/
[10] https://dierkschaefer.wordpress.com/2011/01/31/der-runde-tisch-heimkinder-und-der-erfolg-der-politikerin-dr-antje-vollmer/
[11] Photo: https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/8409300786/in/photostream/
[12] Helmut Jacob, Volmarstein, prägte diesen zutreffenden Begriff.
[13] https://dierkschaefer.wordpress.com/2010/03/02/noch-einmal-ins-heim-von-den-letzten-dingen/
https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/07/14/wer-will-ins-heim-ins-altenheim-vom-stephansstift/
[14] https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/03/28/schindluder-mit-dem-heiligen/
[15] http://heimkinderopfer.blogspot.com/
[16] https://dierkschaefer.wordpress.com/2012/09/06/alexander-homes-ein-pionier/
https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/11/27/prugel-vom-lieben-gott-neu-aufgelegt-2/
https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/11/06/prugel-vom-lieben-gott-neu-aufgelegt/ dort: „Hintergrund“
https://dierkschaefer.wordpress.com/2013/09/22/man-hat-uns-die-religion-mit-prugeln-implantiert/
https://dierkschaefer.wordpress.com/2013/07/15/das-system-schlug-mit-wucht-zuruck/
Hier ein sehr erhellender Auszug aus dem Buch von Homes: https://dierkschaefer.wordpress.com/2013/07/13/wir-haben-den-kindern-immer-wieder-gesagt-dass-wir-sie-im-namen-von-jesus-christus-erziehen/
[17] http://www.heimkinder-ueberlebende.org/Nachkriegsbiographie_MUNDTOT_bei_Aachener_Juergen_Schubert.html
https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/04/06/merkwurdig-die-vinzentinerinnen/
[18] https://dierkschaefer.wordpress.com/2010/12/26/der-fall-paul-brune/
https://www.lernzeit.de/lebensunwert-der-weg-des-paul-brune/
[19] 1 Weihnachtsfest mit 2 Diakonissen, https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/12/21/1-weihnachtsfest-mit-2-diakonissen/
Kinder als Versuchskaninchen
Arzneimittelstudien an Heimkindern kamen angeblich nur selten vor. Das sieht aber anders aus. Die Studie[1] nennt es „ein Versäumnis des Runden Tisches Heimkinder“ und fragt, „warum es der RTH abgelehnt hat, sich mit diesem Thema näher zu befassen.“
Als pauschale Antwort bietet sich an, dass der Runde Tisch unter Vorsitz von Antje Vollmer offensichtlich bemüht war, die Verantwortlichkeiten nicht ausufern zu lassen. Die staatlichen und kirchlichen Heime und ihre Schwarze Pädagogik[2] konnte man schlecht aussparen, dafür aber deren finanzielle Risiken gering halten. Doch für die Medikamentation waren nicht nur die verabreichenden Mitarbeiter der Einrichtungen verantwortlich, sondern große Firmen, die in den Heimen Versuchsreihen starten konnten,[3] Versuchsreihen, die von Medizinern geplant wurden, deren Berufsbiographien in zahlreichen Fällen bruchlos in die Zeit zurückreichten, in denen sie für NS-Verbrechen verantwortlich waren.[4] – Damit hätte man die Pharma-Firmen belastet. Das wollte Frau Vollmer wohl nicht.
Auch im Falle der Zwangsarbeit[5] hat sie abgeblockt und damit heute noch bestehende und renommierte Firmen unter ihren Schutzmantel[6] genommen. [7] [8]
Mir fallen keine unverfänglichen tiefer schürfenden Antworten auf die Frage ein, warum es der RTH abgelehnt hat, sich mit diesen Themen näher zu befassen.
Die Sache mit den Medikamententests an nichteinwilligungsfähigen Personen ist leider ein aktuelles Thema geworden.[9]
Fußnoten
[1] http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-42079/04_Wagner_Heime.pdf
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Schwarze_Pädagogik
[3] https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/02/03/demenz-die-medikamente-dafuer-wurden-an-heimkindern-getestet/
[4] Die „Moderatorin“ des Runden Tisches, die den Begriff Zwangsarbeit nur für Nazi-Zwangsarbeit verwendet sehen wollte. Sie sah darüber hinweg, daß die „Arbeitstherapeuten“ in den Heimen vielfach ehemalige SA-Leute und die Gutachter einschlägig belastet waren. In den Heimen – kirchlich wie staatlich – hatten wir die Fortsetzung des Nazi-Systems. Frau Vollmer in ihrer grün-christlichen Bigotterie hat das nicht bekümmert. Sie sprach zwar von erzwungener Arbeit, bat jedoch die Profiteure nicht zur Kasse und sah völlig darüber hinweg, daß es Zwangsarbeit nicht nur für Jugendliche gab, sondern auch für Kinder. https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/06/17/zwangsarbeit-in-ost-und-west-was-sind-die-unterschiede/
[5] https://dierkschaefer.wordpress.com/2012/05/05/zwangsarbeit-nicht-nur-fur-ikea/
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Schutzmantelmadonna
[7] Die Zwangsarbeit. Eine geringe Pauschalentschädigung als Rentenersatz gibt es, anders als in Irland, bei uns nur für Jugendliche, die Zwangsarbeit leisten mußten, wobei der Begriff Zwangsarbeit peinlichst vermieden wird. Es gibt keine Lohnnachzahlung, weder von den kirchlichen, noch von den staatlichen Einrichtungen, die von der Zwangsarbeit profitiert haben. Auch nicht von der Privatwirtschaft, die gut an den Kindern verdient hat. Es schien wohl nicht opportun, die Betriebe, darunter Firmen mit großer Bedeutung, zwangszuverpflichten. Zwangsarbeit ja, Zwangsentschädigung nein.
Und für die Zwangsarbeit von Kindern gibt es GAR NICHTS. https://dierkschaefer.wordpress.com/2013/07/09/er-ist-ein-priester-du-must-ihm-gehorchen/
[8] Antje Vollmer, Moderatorin des westdeutschen Runden Tisches für ehemalige Heimkinder, mied wie der Teufel das Weihwasser die Anwendung des Begriffs Zwangsarbeit auf die Ausbeutung der ehemaligen Heimkinder (West!) durch respektable Industriebetriebe und einzelne Bauern. Sie wollte den Begriff ausschließlich für die Zwangsarbeit für Nazi-Deutschland gelten lassen. Und so tauchten weder der Begriff noch der Sachverhalt im Abschlußbericht des Runden Tisches auf. Die Nutznießer der Zwangsarbeit wurden nicht nur nicht am Fonds beteiligt, sondern blieben unerwähnt. https://dierkschaefer.wordpress.com/2013/09/29/zwangsarbeit-ost-und-zwangsarbeit-west/
[9] https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/05/25/medikamententests-und-nicht-einwilligungsfaehige-personen-ein-ideales-menschenmaterial/
Ist es legitim, die Obszönitäten von Kronschnabel mit Bonhoeffer in Verbindung zu bringen?
Ja – aber warum?
Die Leser meines Blogs werden aufgemerkt haben, als ich erstmals und ohne weiteren Kommentar einen Text von Erich Kronschnabel auf die Ebene eines förmlichen Blog-Artikels gehoben habe. Lediglich von „Gossensprache“ schrieb ich warnend für empfindliche Gemüter.[1]
Die Obszönität ist bei Kronschnabel die Methode, mit der er die eigentlichen Obszönitäten geißelt: 1. Die Verbrechen an Kindern in kirchlichen Einrichtungen und 2. der Betrug und Heuchelei bei der Verweigerung einer realistischen Entschädigung.
Heinrich Bedford-Strohm, derzeit Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland schreibt über Bonhoeffer:
»Wer fromm ist, muss auch politisch sein: So wie bei Bonhoeffer lassen sich die Aufgaben der Kirche gegenüber Staat und Öffentlichkeit auch heute zusammenfassen. Die erste von Bonhoeffer genannte Aufgabe verstehen wir heute als Kultur der Einmischung. Wenn die Kirchen mit Denkschriften in die demokratische Zivilgesellschaft hineinsprechen, dann geht es genau um das, was Bonhoeffer als „Verantwortlichmachung des Staates“ bezeichnete. Die zweite Aufgabe, der diakonische Dienst an den Bedürftigen, bleibt ohnehin. Dass er heute geleistet wird, zeigt sich, wenn etwa Gemeinden mit großer öffentlicher Zustimmung für den Schutz von Flüchtlingen eintreten. Und die dritte Aufgabe? Was heißt dem Rad in die Speichen fallen? Für Bonhoeffer rückte dies zunehmend ins Zentrum seines Denkens und Handelns. Dass der Imperativ keineswegs nur in der Diktatur gilt, sondern auch in demokratischen Gesellschaften eine Option sein kann, zeigte schon in den frühen achtziger Jahren die Diskussion um gewaltfreien zivilen Ungehorsam gegen die Stationierung von Massenvernichtungswaffen.«[2]
Was hat das mit der Heimkinderfrage zu tun?
Es geht zunächst nicht um die Frage, ob man „dem Rad in die Speichen fallen“ soll. Dieser Wagen, von Staat und Kirchen gesteuert, hat längst seine Opfer hinter sich gelassen. Nun ist das dran, was Bedford-Strohm so kurzweg die zweite Aufgabe nennt: der diakonische Dienst an den Bedürftigen, der ohnehin bleibe. Das ist allzu simpel.
Hier setzt Kronschnabel ein und kommt, sprachlich völlig realistisch, auf die für die Kirchen unbequeme Gegenwart. Es geht eben nicht um Bonhoeffers „Verantwortlichmachung des Staates“, sondern um die der Kirche. Die aber kümmert sich lieber um die „kirchliche Außenpolitik“ und verdeckt damit die interne Fäulnis. Das mit dem Frieden und den Flüchtlingen ist ja richtig und wichtig, doch wenn’s nur zur Camouflage dienen soll, ist’s Heuchelei, naiv oder absichtlich.
Bonhoeffer kann man als Blutzeugen leicht auf den Denkmalsockel stellen, – gut für Sonntagsreden. Doch im Alltag gerät Bonhoeffer der Kirche zur Peinlichkeit. „Von guten Mächten wunderbar geborgen …“ Mir wird so kannibalisch wohl, wenn ich an diesen wohlfeil gebrauchten Trost denke, für den die Kirchen im Unterschied zu Bonhoeffer nicht habhaft einstehen wollen.[3]
Herrn Kronschnabel sei Dietrich Bonhoeffer an Herz gelegt[4] und der Gedanke, dass organisierte Mitmenschlichkeit über die gleichen Probleme stolpern kann, wie sie vielen Organisation eigen sind, die sich am Markt behaupten müssen. Die Organisation läuft und läuft und läuft – zuweilen bis ihre kriminellen Methoden publik werden – und sie läuft dennoch weiter. Oder glaubt irgendjemand, dass VW vom Markt verschwindet?
[1] https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/06/27/wie-unfein-erich-spricht-klartext-ueber-die-diakonie-konzentriert-und-schlagkraeftig/
[2] http://www.zeit.de/2015/15/dietrich-bonhoeffer-todestag-protestantismus-widerstand/komplettansicht
[3] https://dierkschaefer.wordpress.com/2011/09/13/das-war-spitze-herr-ratsvorsitzender/
Der Staat und der Protestantismus
Der Auftakt ist überzeugend: »Religionen können in der freiheitlich-demokratischen Verfassungsordnung nur dann eine produktive öffentliche Rolle spielen, wenn sie sich die Ideen von Menschenrechten und Demokratie theologisch anverwandeln. Diese Konzeption öffentlicher Religion, die Jürgen Habermas in den vergangenen Jahren entwickelte, hat viel für sich. Die Religionen müssen sich „die normativen Grundlagen des liberalen Staates … unter eigenen Prämissen aneignen“, so Habermas. Wie mühsam sich dieser Prozess der Aneignung gestalten kann, lässt sich am Beispiel des deutschen Protestantismus zeigen. Sein Verhältnis zur Demokratie ist von Ambivalenzen geprägt. Die Kirche der Reformation hat sich theologisch und kirchenpolitisch erst nach 1945 mühsam mit dem westlichen Verfassungsstaat arrangiert.«[1]
Der mühsame Prozess der Aneignung wird in diesem Artikel gut und kenntnisreich beschrieben. Für Menschen, die in den späten 60er Jahren zum politischen Bewusstsein gekommen sind, ist es durchaus erhellend, die eigene Vergangenheit einmal von außen nüchtern seziert präsentiert zu bekommen. Dem Autor ist auch beizupflichten, wenn er schreibt: »In der Langzeitbeobachtung über die vergangenen 70 Jahre zeigt sich, dass stark politisierte und im Gestus der moralischen Dauerempörung agierende Strömungen des bundesrepublikanischen Protestantismus im politischen Prozess stets in der Minderheit blieben und dann dazu tendierten, demokratische Legitimationsleistungen anzuzweifeln und zivilen Ungehorsam zu idealisieren.« Denn zugegeben: Im Vergleich zu manchen anderen Staaten funktioniert dieser Staat grosso modo doch recht ordentlich und wir müssen uns fragen, ob dem monierten Gestus der moralischen Dauerempörung metaphysische Dignität gebührt und sich der Protestantismus die nachmetaphysischen Begründungsfiguren einer säkularen liberaldemokratischen politischen Ordnung als solche zu eigen machen sollte.
Die Anerkennung einer Ordnung, die demokratischen Verfahrensregeln entspricht, scheint aber doch eher einem Rechtspositivismus verpflichtet und lässt beiseite, dass im Staate Deutschland auch manches faul ist. Muss man daran erinnern, dass sich der Gesetzgeber vielfach beharrlich verweigert, Entscheidungen des Verfassungsgerichts eine gesetzliche Form zu geben? Oder an die Nebeneinnahmen der Abgeordneten, den Einfluss der Lobby oder den basso continuo des Parteienegoismus[2]? Nur zähneknirschend mag ich dem Autor zustimmen, wenn er schreibt: »Der demokratische Verfassungsstaat bleibt in theologischer Perspektive eine gute Gabe Gottes und wird als Teil Gottes Willens und Wirkens in der noch nicht erlösten Welt beschrieben.« Auch ohne den Schaum des Fanatikers vorm Mund bleibt festzustellen, dass Widerstand gegen manche Fehlsteuerungen der Politiker nötig und auch theologisch gut begründbar ist.« Selbstverständlich können und sollten »solche Deutungsangebote … dazu beitragen, dass die Gläubigen eine säkular begründete Verfassung akzeptieren.« Richtig ist auch, dass es »zu den Paradoxien ausdifferenzierter Gesellschaften gehört, dass Politik und Religion einander nicht loswerden und doch nicht ineinander aufgehen. Demokratie ist auch eine Weise, diese dauerhafte Grundspannung auszuhalten«. Sein Wort in Gottes Ohr.
[1] Professor Dr. Hans Michael Heinig, Der Protestantismus in der deutschen Demokratie: FAZ-Print, Montag, 24. August 2015, S. 6
[2] Hier wäre Hans Herbert von Arnim zu empfehlen: Das System – Die Machenschaften der Macht
Ein Nachtrag als Warnung vor zuviel Staatsgläubigkeit: http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-08/abweichende-meinung-rechtskultur-fischer-im-recht/komplettansicht
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und die staatliche Verantwortung für Schutzbefohlene in privaten (kirchlichen) Einrichtungen
Das nun auch auf Deutsch vorliegende Urteil dürfte wegweisend sein in zweierlei Hinsicht:
Rückwirkend sollte es Klagemöglichkeiten eröffnen für die Unterlassung staatlicher Aufsicht in verschiedenen Einrichtungen für Kinder und Jugendliche (Kinderheime, Psychiatrien).
Wird man einen Rechtsanwalt finden, der das für deutsche Verhältnisse aufarbeitet und durchsetzt?
Prospektiv warnt dieses Urteil alle staatlichen Behörden, die die Einweisung von Kindern und Jugendlichen in solche Einrichtungen veranlassen oder anordnen.
Angesichts der föderativ-gesplitterten Zuständigkeiten des Staates in Kinder- und Jugendlichenangelegenheiten wird man wohl vergeblich darauf warten, dass eine entsprechende Information über die Aufsichtspflicht der Jugendämter[1] über die Träger von Jugendhilfemaßnahmen zentral ergeht. Diese Lektion werden die Jugendämter jedes für sich lernen müssen. Die „Kunden“ der Jugendämter werden diesen Bewußtseinswandel erkämpfen müssen. Im Krieg bei der Eroberung einer Stadt würde man von Häuserkampf sprechen. Der ist aufwendig und fordert viele Opfer auf beiden Seiten.
Hier ist das PDF des Urteils, von mir teilweise gelb unterlegt, sonst unverändert. Der irische Fall Luise O´Keeffe
Mein Dank geht wieder einmal an Martin Mitchell/Australien für den Hinweis auf das Urteil.
[1] die selber keinerlei Aufsicht unterliegen
Kirchenasyl – Der eiskalte Innenminister
»Nur ein Bruchteil der 200.000 Flüchtlinge, ein paar Hundert Menschen, findet derzeit in deutschen Kirchen Asyl und damit für eine Zeit Schutz vor Abschiebung. Etwa die Hälfte von ihnen sind Kinder.
Weil diese Zahl höher ist als in den vergangenen Jahren, streitet jetzt die Politik darüber. Innenminister Thomas de Maizière (CDU), selbst Protestant, hat die Kirchen gerügt und die Praxis sogar mit der Scharia verglichen. Und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) will den Kirchen die Praxis nun erschweren, indem es Flüchtlinge, die dort beherbergt sind, als untergetaucht betrachtet.«[1]
Es knirscht zwischen Kirche und Staat.[2] Es ist gut, dass es Organisationen gibt, die unseren Politikern auf die Finger schauen – und notfalls auch klopfen. Warum Kirchenasyl? »Diese Menschen sind da, weil Gemeindemitglieder von ihren Einzelschicksalen erfahren haben, sie für glaubwürdig halten und die Not für groß. Solches Mitgefühl und Engagement machen eine gute Gesellschaft aus – und sind ein Korrektiv. Denn Behörden sind nicht unfehlbar, wenn sie über Abschiebung entscheiden. Härtefälle werden oft gar nicht mehr bearbeitet.«[3]
[1] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/warum-thomas-de-maiziere-beim-kirchenasyl-falsch-liegt-kommentar-a-1017876.html
[2] https://dierkschaefer.wordpress.com/2015/02/04/kirchenasyl-es-knirscht-zwischen-kirche-und-staat/
[3] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/warum-thomas-de-maiziere-beim-kirchenasyl-falsch-liegt-kommentar-a-1017876.html
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