Dierk Schaefers Blog

Hat sich die Kirche dem Missbrauchsbeauftragten unterworfen?

Auf den ersten Blick schon: Die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) stimmt einem Verfahren zu, in dem sie überstimmt werden kann. Nur „weniger als 50 Prozent der Mitglieder [der Kommission] dürfen dem Kreis der Beschäftigten der katholischen Kirche oder eines diözesanen Laiengremiums angehören.“

Schon die Reihenfolge macht aufmerksam: Sowohl in den Logos[1] als auch im Wortlaut des Dokuments steht die DBK an zweiter Stelle.DBKGemeinsame Erklärung über verbindliche Kriterien und Standards für eine unab­hän­gige Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs[2] und der Deutschen Bischofskonferenz, vertreten durch den Beauftragten der Deutschen Bischofs­konferenz für Fragen des sexuellen Missbrauchs im kirchlichen Bereich und für Fragen des Kinder- und Jugendschutzes[3]

Die DBK weitet auch den Bereich möglicher Täterkreise entgegenkommend aus: In Fußnote eins heißt es: „Beschäftigte im kirchlichen Dienst im Sinne dieser gemeinsamen Erklärung sind insbesondere Kleriker und Kandidaten für das Weiheamt, Ordensangehörige, Kirchen­beamt_innen und Arbeitnehmer_innen. Darüber hinaus gilt diese gemeinsame Erklärung auch bei Fällen sexuellen Missbrauchs durch Ehrenamtliche, sofern dieser im Kontext der ehren­amtlichen Tätigkeit begangen wurde.

Inbegriffen sind also sämtliche Missbrauchstäter im weitgefassten kirchlichen Raum.

Nicht geklärt ist, ob das auch für Täter oder gar auch Vertuscher gilt, wenn die Fall-Akten zentral im Vatikan[4] liegen? [5] Nicht geklärt ist auch, ob man Verdächtigungen nachgehen sollte und kann, die in Zusammenhang mit dem Wirken des emeritierten Papstes in deutschen kirchlichen Räumen genannt werden.

Doch da bin ich schon bei Details, in denen bekanntlich der Teufel steckt.

Das Sprichwort Wer mit dem Teufel aus einem Napf essen will, muss einen langen Löffel haben gilt für vertragliche Regelungen mit stärkeren Partnern, so auch für die Kirche (beide Großkirchen), die dafür bekannt ist, dass ihre Juristen unnachsichtig sogar unpopuläre Rechtspositionen verteidigen.[6]

Schon „der Begriff sexueller Missbrauch im Sinne dieser gemeinsamen Erklärung“ lässt Fragen offen. Er „umfasst sowohl strafbare als auch nicht strafrechtlich sanktionierbare sexualbezogene Handlungen und Grenzverletzungen…“[7] Sind damit auch nicht mehr strafrechtlich sanktionierbare Handlungen in begriffen, also Taten unter Täter-Verjährungs­schutz?

Zunächst zur Zusammensetzung der Kommission.

Aus den Erfahrungen mit dem Runden Tisch Heimerziehung hat man offensichtlich gelernt, dass man nicht wieder eine dermaßen asymmetrische Machtverteilung institutionalisieren sollte. Das ging jetzt im Unterschied zu damals problemlos, weil der Staat in diesen Fällen nur selten als mitverantwortlich anzusehen ist.

Die Kommissionen[8] bestehen aus einer ungeraden Anzahl an Mitgliedern. Eine Kommis­sion­größe von in der Regel sieben Mitgliedern wird empfohlen. Bei einer Anzahl von sieben Kommissionsmitgliedern sind zwei der Mitglieder aus dem Kreis der Betroffenen auszuwäh­len, die übrigen Mitglieder sollen Expert_innen aus Wissenschaft, Fachpraxis, Justiz und öffentlicher Verwaltung sowie Vertreter_innen der (Erz-)Diözesen sein. Sie alle sollen über persönliche und/oder fachliche Erfahrungen mit Prozessen der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in Institutionen verfügen.“[9]

Also zwei irgendwie Betroffene; über die Anzahl der anderen Mitglieder ist nichts gesagt. Nehmen wir einmal an: dazu zwei kirchliche Vertreter und drei unabhängige mit fachlichem Hintergrund. Man kann also von einer Gruppenverteilung von 2:2:3 ausgehen, dann wären es jeweils zwei Interessenvertreter[10]; ob die übrigen drei neben ihrer Fachkunde auch parteiliche Präferenzen haben könnten, wird nicht thematisiert, auch über deren mögliche kirchliche Bindung oder nicht-Bindung wird nichts gesagt.

Die Mitglieder des Betroffenenrates sind auf der Webseite zu finden.[11] Sie stellen sich dort vor. Nicht bei allen ist eindeutig zu erkennen, dass sie über selbsterlebte Missbrauchs­erfahrungen verfügen.

Nun zu den Fallstricken

Als gemeinsames Ziel wird genannt, sexuellen Missbrauch im Raum der katholischen Kirche unabhängig aufzuarbeiten. Dazu gehören: Aufklärung, Prävention, Anerkennung und Analyse von sexuellem Missbrauch im Raum der katholischen Kirche in Deutschland. Partizipation von Betroffenen.“[12]

Dabei unterstützt …und engagiert sich [Rörig] für die weitere notwendige politische Unterstützung. … Die Unterzeichnenden streben an, dass die in dieser gemeinsamen Erklärung getroffenen Vereinbarungen bundesweit im Raum der katholischen Kirche Anwendung finden. Das ist löblich, sie streben an.

Wie sieht es mit den Kompetenzen aus?

Die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs ist genuine Aufgabe des jeweiligen Ortsor­di­narius. Aufgrund dieser Verantwortung verpflichtet sich der Ortsordinarius zur Gewähr­leistung einer Aufarbeitung[13], die unabhängig erfolgt und über deren Ablauf und Ergebnisse Transparenz hergestellt wird. Gleiches gilt für eine verbindliche und institutionalisierte Beteiligung Betroffener, ohne die wirkliche Aufarbeitung nicht möglich ist.“[14]

Auch die Ordensangehörigen werden genannt[15], doch auf die religiösen Orden haben die Ortskirchen rechtlich/disziplinarisch keinen Einfluss. Dabei richten sich auch besonders massive und belegte Vorwürfe zum Teil an Orden.

„Die Aufarbeitung soll das geschehene Unrecht und das Leid der Betroffenen anerkennen“, anerkennen ist nicht viel, klingt aber honorig. Die Betroffenen sollen „an diesen Prozessen [beteiligt werden] und ihnen [soll] im Rahmen der rechtlichen Möglich­keiten Zugang zu den sie betreffenden Informationen und Unterlagen [ermöglicht werden]“.[16]  „Die Prozesse zur Aufarbeitung werden von Betroffenen begleitet. Hierzu wird durch die (Erz-)Diözese zur Mitarbeit aufgerufen.“[17]Ein Aufruf zur Mitarbeit. Mehr nicht.

Wie viele Möglichkeiten tun sich da auf, das Unternehmen in manchen Punkten im Sande verlaufen zu lassen? Nötig wäre die Einrichtung einer bundesweit zuständigen Sonderstaatsanwaltschaft mit dem Recht zur Beschlagnahme von Akten oder ein umfassend bevollmächtigter Unter­suchungsausschuss.

Jeder Diözesanbischof kann diese gemeinsame Erklärung durch Gegenzeichnung als für seine (Erz-)Diözese verbindlich erklären.[18] Er kann – oder auch nicht.

Resümee

Der Löffel von Rörig war nicht lang genug. Er hat der DBK zu viele Schlupflöcher gelassen.

Die Presserklärung, mit der die „Gemeinsame Erklärung“ angekündigt wurde, war etwas vollmundiger. Dort sprach man allgemein davon, die Geschichte der Heimkindheiten aufzuarbeiten, nun sind lediglich Missbrauchshandlungen gemeint. Damit sind immerhin auch die Fälle von Missbrauch im Beichtstuhl, in der Sakristei und in Schulen inbegriffen, [19]

Auch das angekündigte Problem, dass Heimkinder für sich andere Lösungen als Alters- oder Pflegeheime fordern ist in der Gemeinsamen Erklärung nicht angesprochen.[20]

Wo bleibt das Thema Entschädigung? – Wohl der Willkür der Kirche überlassen. Die Diözesen wollen ja in dieser Frage eine Gleichbehandlung der Opfer – auf dem Niveau, der am wenigsten zahlungskräftigen Diözese.

Wesentlich ist das Fehlen der Verjährungsfrage. Etliche Missbrauchte wurden abgewimmelt, vertröstet, bedroht als sie ihre Klagen innerhalb der Frist vorbrachten.[21] Bei der Anzahl der Verbrechen und ihres zum Teil horrenden Ausmaßes kann kein Rechtsfriede durch Rechts­verweigerung hergestellt werden. Hier muss eine Möglichkeit geschaffen werden, unabhängig von Verjährungsfristen untersuchungsgerichtlich aufzuklären, selbst wenn ein Strafprozess nicht mehr geführt werden kann, sei es wegen der Verjährungsfrist, sei es, dass der/die Täter verstorben sind und längst in der Hölle schmoren, – doch wer glaubt schon noch daran?

Oder will man sich, sofern die Täter noch leben, auf Selbstjustiz verlassen?[22]

PS: Herr Rörig verkauft die Gemeinsame Erklärung als Erfolg. Wer Erfolg hat, zeigt sich für seine Aufgabe qualifiziert. Das gilt auch, wenn man erfolgreich einen Erfolg vorspiegeln kann.

Fußnoten

[1] Da wir von links nach rechts lesen, kommt das DBK-Logo nach dem des Unabhängigen Beauftragten.

[2] Mit dieser Bezeichnung handelt es sich um ein Amt, im Folgenden kurz nach seinem Leiter „Rörig“ genannt. Am 12. Dezember 2018 wurde das Amt einer/eines Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs durch das Bundeskabinett dauerhaft eingerichtet und Johannes-Wilhelm Rörig zum 1. April 2019  für die Dauer von weiteren fünf Jahren erneut zum Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs berufen. https://beauftragter-missbrauch.de/der-beauftragte/das-amt – Dort auch das Organigramm.

[3] Das komplette Dokument ist als PDF beigefügt: 2020-074a-Gemeinsame-Erklaerung-UBSKM-Dt.-Bischofskonferenz-1 Ein Betroffener schickte mir die Datei. Ich weiß nicht, ob er seinen Namen hier lesen will.

[4] https://kritisches-netzwerk.de/forum/missbrauchsakten-aus-dem-vatikan-zurueckholen

[5] Dann dürfte man wohl rund 80 Jahre warten müssen, bis die Akten vom Pontifikat Benedikts XVI freigegeben werden. – Das ist nichts gegen die Versuche des Verfassungsschutzes, der eine 120-Jahresfrist angepeilt hatte – zu wessen Schutz? Man reiche mir eine Zeitmaschine.

[6] https://dierkschaefer.wordpress.com/2019/12/14/eine-kirche-die-solche-juristen-hat-braucht-keine-feinde/

[7] S. Fußnote 1

[8] Es soll pro Diözese eine geben und eine Gesamtkommission

[9] S. 2.3

[10] Die Erklärung macht die Gegenspieler deutlich, wenn sie schreibt, dass der/die Kommissionvorsitzende „weder der Gruppe der Betroffenenver­tre­tungen noch der im arbeitsrechtlichen Sinne Beschäftigten der katholischen Kirche angehören oder zu einem früheren Zeitpunkt angehört haben“ [darf]. S. 2.5

[11] https://beauftragter-missbrauch.de/betroffenenrat/der-betroffenenrat#e105311

[12] Seite 1f

[13] Lediglich aufgrund dieser Verantwortung – eine verbindliche Anordnung für die Ortsordinarien ist nicht vorgesehen, wäre auch nicht möglich.

[14] Der Ortsordinarius, der Bischof also wohl. (Die Erzbischöfe mögen mir verzeihen, dass sie nur mitgemeint sind.)

Ob da wohl alle konstruktiv mitmachen? Die zum Teil massiv unterschiedlichen Positionen der Bischöfe sind bekannt. „Bereits bestehende Regelungen bezüglich der Aufarbeitung und Aufklärung von sexuellem Missbrauch im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz bleiben von dieser gemeinsamen Erklärung unberührt.“ Hoffentlich sind diese Regelungen mit der Gemeinsamen Erklärung konform.

[15] Fußnote 1

[16] S. 1.3

[17] 5.2  .

[18] 7.1

[19] Ich nehme nicht an, dass Herr Rörig sich meine Problemanzeige ( https://dierkschaefer.wordpress.com/2020/04/26/wir-insider-wundern-uns/ ) zu Herzen genommen und deswegen auf den großen Wurf der Geschichte der Heimkindheiten verzichtet hat.

[20] https://dierkschaefer.wordpress.com/2010/03/02/noch-einmal-ins-heim-von-den-letzten-dingen/

[21] https://dierkschaefer.wordpress.com/2012/09/06/alexander-homes-ein-pionier/

[22] https://dierkschaefer.wordpress.com/2020/04/23/singe-o-goettin-vom-zorn-der-geschaendeten-knaben/

Am Aschermittwoch ist alles vorbei

Posted in Christentum, Geschichte, Kirche, Kultur, Leben, Religion, Theologie, Tod, tradition by dierkschaefer on 8. Februar 2018

Karneval – Fasching – Fasnet[1]

Die Landkarte der schwäbisch-alemannischen Fasnet, auch die des rheinischen Karnevals, ist stark konfessionell strukturiert. In den meisten evangelischen Gebieten ist die Fasnet nicht heimisch, auch wenn es seit den letzten Jahrzehnten dort die eine oder an­dere Veranstaltung geben mag, vielleicht sogar einen Umzug. Noch in den 80er Jahren konnte man auf dem Weg von Tübin­gen nach Rottenburg schon vom Auto aus die Konfessionalität des Ortes erkennen, bis Kilchberg ist alles evangelisch, ab Bühl ist man im katholischen Bereich, denn ab dort waren bunte Wimpel über die Straße gezogen und die Kinder in irgendeiner Weise verkleidet. Mir ist noch der heftige Streit in Erinnerung[2], als Eltern im von Grund auf evan­gelischen Gomaringen forder­ten, im Kindergarten solle Fasching gefeiert werden dürfen – alle Kindergärten des Ortes waren in evangelischer Träger­schaft. Der Streit kehrte jedes Jahr wieder. Der damalige Ortspfarrer wollte in kirchlichen Kindergärten, wie er sagte keinen heidnischen Brauch, teuflisch sei der ganze Mummenschanz.[3] Wenn inzwischen auch die ganz harten Fronten abgebaut sind, so bleibt doch auf evangelischer Seite bis heute weitge­hendes Un­verständnis für das Phänomen der Fastnacht, denn der Fasching ist weithin nicht ver­standen worden, weder von denen, die ihn feiern, noch von de­nen, die ihn verachten oder gar bekämpfen. Ich halte mich hier im wesentlichen an die Forschungsergebnisse der neueren Brauchtumsforschung, insbesondere an Prof. Werner Mezger aus Rottweil, der den Volkskundelehrstuhl in Freiburg innehat.[4]hexe

Schon der sprachliche Unterschied zwischen Karneval und Fast­nacht ist kein inhaltlicher. Viele Menschen, so schreibt Mezger, leiten die Ursprünge des Karnevals direkt von den römischen Fe­sten der Bacchanalien oder Saturnalien her, die Wurzeln der Fastnacht, ale­mannisch: Fasnet, lägen dagegen in »grauer Vorzeit«, nämlich in den Winteraustreibungs- oder gar den Totenkulten der Germanen. Die gesamte neuere Forschung ist sich jedoch darüber einig, dass beide Brauchtumsformen, Fastnacht und Karneval, keineswegs aus vor­christlicher Zeit stammen, sondern dass sie ihren gemeinsa­men Ausgangspunkt voll und ganz im christlichen Jahreslauf ha­ben, wo sie von Anfang an das Schwellenfest vor dem Anbruch der vierzigtägigen Fastenzeit vor Ostern bildeten, die mit dem Aschermittwoch beginnt.

Die deutsche Bezeichnung erklärt sich ohnehin von selbst: Eben­so wie der Abend vor dem Geburtsfest Christi »Weihnacht« heißt, meint »Fastnacht« nichts anderes als den Vorabend der Fastenzeit … aber auch der romanische Begriff »Karneval« stellt einen inhaltlich nicht minder klaren Sinnbezug zum Fasten her. Das Kirchenlatein nannte den Eintritt in die Abstinenzperiode nämlich »carnislevamen«, »camisprivium« oder »cametollendas«, zu übersetzen etwa mit »Fleischwegnahme«.

Untersagt war nämlich, übrigens unter Androhung empfindlicher Strafen, in den sechs Wochen zwischen Aschermittwoch und Ostern nicht nur der Konsum des Fleisches von warmblütigen Tieren, sondern auch der Genuß aller weiteren aus Großvieh- und Geflügel­haltung gewonnenen Nahrungsmittel wie Schmalz, Fett, Milch, Butter, Käse und Eier. Dies hatte für die Gestaltung der letzten Tage vor der Periode der Enthaltsamkeit zur Folge, dass eigens noch mal geschlachtet und in großen Mengen Fleisch verzehrt wurde, was spätestens seit dem 13. Jahrhundert im Rahmen großer öffentlicher Gelage geschah. Zudem suchte man nach Wegen, die verderblichen Vorräte sämtlicher übrigen unters Fastengebot fallenden Spei­sen vollends aufzubrauchen. Aus der Notwendigkeit solcher Resteverwertung entstanden unter ande­rem die traditionell schmalzgebackenen, reichlich eierhaltigen Fastnachtsküchlein oder –krapfen, meist Berliner genannt.

Vertreter der weltlichen und der geistlichen Obrigkeit begegne­ten dem ausgelassenen Treiben am Vorabend der Fastenzeit in der Regel mit Toleranz, legten aber seine Grenzen durch peni­ble Fastnachtsordnungen genauestens fest. Punktuelle Kritik an allzu großer Zügellosigkeit in den Tagen vor Aschermittwoch hatte es vonseiten der Geistlichkeit schon immer gegeben, aber dahinter stand zunächst noch kein geschlossenes ideengeschichtliches Konzept.

Doch etwa ab 1400 setzte eine Entwicklung ein, die man schlagwortartig als Diabolisierungs­prozeß bezeichnen könnte. Wäh­rend nämlich der Festtermin Fastnacht an sich von den Theo­lo­gen anfangs noch weitgehend wertneutral gesehen und von ein­zelnen Klerikern je nach persönlicher Gestaltung sogar mit my­stiknahen Bildern in Verbindung gebracht wurde, trat an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit eine regelrechte »Verteufelung« ein. So konnte etwa um 1360 ein Dominikanermönch in Rottweil noch völlig unbefangen eine Predigt »von vasnaht krap­fen« formulieren, in der er Christus selbst als »geistlichen »vas­naht buoln« der gottgefälligen Seele schilderte[5], während knapp anderthalb Jahrhunderte später Sebastian Brant in seinem Er­folgsbuch »Das Narrenschiff«[6] die Fastnacht mit der wenig freundlichen Feststellung charakterisierte: »Der tüfel hat das spil erdacht.« Damit war alles gesagt, was die führenden Gelehrten seiner Generation von der Fastnacht hielten.

Besonders interessant aber ist, woher die dafür nötigen Schreckmasken und Kostüme häufig stammten. Sie wurden näm­lich offenbar bevorzugt aus den kirchlichen Requisitenkammern für geistliche Schauspiele und Prozessionen entliehen, wo zur Darstellung des Bösen in der Regel ein reicher Bestand an Dä­monenverkleidungen lagerte. In Überlingen etwa sind solche Ausleihvorgänge von Teufelsgewändern aus dem Kostümfundus der Pfarrkirche Sankt Niko­laus zur fastnächtlichen Nutzung gut dokumentiert. Dort heißt es in einer Fastnachtsordnung, wer vor Aschermittwoch das »tewfel häs« [= Teufelskleid] vom Kir­chenpfleger entlehnt habe, der solle dies anschließend wieder vereinbarungsgemäß zurückgeben; und wer umgekehrt sich extra für die Fastnacht auf eigene Kosten ein solches Teufelshäs ma­chen lasse, der möge dies das Jahr über der Pfarrkirche für den »Crutzganng«, also für die Prozession, vermutlich an Fronleich­nam, zur Verfügung stellen.[7] Soviel zur Figur des Teufels in der schwäbisch-alemannischen Fastnacht – und der Familienname Teufel stammt, soviel ich weiß, aus diesem Brauchtum. So auch der im Schwäbischen nicht seltene Familienname Narr.

Die Figur des Narren ist theologisch noch interessanter, als die des Teufels in der Fastnacht. Die ältesten bildlichen Darstellungen von Narren finden sich nämlich nicht etwa in einem lustig-profanen, sondern stets in ei­nem ernst-religiösen Kontext, und zwar in Psalterhand­schriften jeweils am Anfang des Psalms 52 wo es heißt: »Dixit insipiens in corde suo: non est Deus – der Narr sprach in seinem Herzen: Es gibt keinen Gott.«[8]

Narhofnarrrheit war also ihrem eigentlichen Sinne nach gleichzusetzen mit Geistesblindheit, Igno­ranz und Gottesleugnertum, ja sie stand sogar für die Erbsünde überhaupt. Aus der Entwick­lung der Psalterillustration von 1200 bis 1500, genauer gesagt, aus der Art und Weise, wie am Textbeginn des Psalms 53 der Narr jeweils abgebildet wurde, läßt sich dessen schritt­weise äußerli­che Standardisierung ablesen, die bis ins kleinste Detail zeichen­hafte Bedeutung hatte. So wurde der »Insipiens« zunächst mit einer Keule und einem Brot in der Hand wieder­gegeben, dann mit Eselsohren und bestimmten Gewandfarben, meist grellgelb und knallrot, gekennzeichnet, schließlich mit einem Narrenzep­ter, der sogenannten Marotte ausgestattet,[9] und endlich mit Schel­len und einem Hahnenkamm oder gar einem ganzen Hahnenkopf auf der als »Gugel« geschnittenen Kappe versehen, bis zuletzt am Vorabend der Neuzeit ein fest umrissener, optisch unverwechselbarer Typus geschaffen war.

Da nun die Fastnacht nach Ansicht der Theologen ebenfalls nichts anderes war als die zeitlich befristete Demonstration einer heillosen, gottfernen Welt, drängte sich als deren entschei­dende Integrationsfigur und wichtigste Spielrolle die Gestalt des Narren geradezu auf. In der Tat nahmen Standardnarren mit Schellen und Eselsohren im Mummenschanz der tollen Tage vom Ende des 15. Jahrhunderts an immer mehr zu, bis das Kompositum »Fastnachtsnarr« schließlich sogar zur Generalbezeichnung für sämtliche fastnächtlichen Masken- und Kostüm­träger gleich welcher Art wurde.

Mit der zentralen Botschaft der Gottferne verband sich im Be­deutungsgehalt der Narrenfigur freilich noch eine weitere Di­mension, die heute so gut wie vergessen ist.

Da ist einerseits die Beteiligung des Narren am Leidensweg Christi. Künstler zeigen den Nar­ren an der Geißelung Christi be­teiligt und er macht seine Späße auch unter dem Kreuz.

Andererseits haben wir die Nähe des Narren zur Vergänglich­keit. Durch die faktische Gleich­setzung von Narrheit und Erb­sünde hatten beide zwangsläufig auch dieselbe Konsequenz. Mit anderen Worten: Wenn nach biblischer Auffassung durch den Sündenfall Evas der Tod in die Welt gekommen war, so mußte die Narretei wie die Erbsünde ebenfalls in eine enge Bezie­hung zum Tod rücken. In der Tat legen davon seit dem späten 15. Jahrhundert zahlreiche Dar­stellungen der Sakral- und Profan­kunst beredtes Zeugnis ab. Ein Beispiel: Für eine Seiten­kapelle des Südschiffs der Rottweiler Pfarrkirche Heiligkreuz hat um 1495/96 ein unbekann­ter Steinmetz eine Gewölbekonsole in Ge­stalt eines Narren gemeißelt. An genau der entspre­chenden Stel­le, die in der einen Seitenkapelle dem Narren zugewiesen ist, be­findet sich nämlich in der nächsten Kapelle ein grinsender To­tenschädel mit der eigens hinzugefügten Aufschrift »Memento mori«, bedenke, dass du sterben mußt.[10]

Diese makabre Bedeutungsnähe der Narrenidee zur Vergäng­lichkeitsvorstellung, macht es hochgradig sinnreich und in sich stimmig, wenn die Kirche ihren Gläubigen traditionell nur weni­ge Stunden nach den Narreteien der Fastnacht das Aschenkreuz auflegt und ihnen damit eindringlicher als an jedem anderen Termin des liturgischen Jahres das »Memento mori« vor Augen führt. Die weitgehend säkularisierte Welt von heute nimmt die­ses großartige Zusam­menwirken von profanem Brauch und sa­kralem Ritus als Instrument der Katechese, der Belehrung, über­haupt nicht mehr wahr. Den spätmittelalterlichen Menschen aber war sie wohl bewußt, oder sie haben zumindest etwas davon ge­ahnt: Ohne die Einsicht des Narren am Aschermittwoch verliert die Narrheit des Christen in der Fastnacht ihren Sinn.

Fußnoten

[1] Wir haben heute zwar erst den Schmotzigen, doch kommenden Mittwoch ist schon wieder alles vorbei. Mit dem Schmotzigen Donnerstag beginnt in der schwäbisch-alemannischen Fastnacht die eigentliche Fastnachtszeit. https://de.wikipedia.org/wiki/Schmotziger_Donnerstag

[2] Prinz Karneval und Frau Fasten sind … Spottbilder der Konfessionen: Protestanten hatten die Fastenzeit abgeschafft, da nach ihrer Ansicht weder Buße, Enthaltsamkeit noch gute Werke den Menschen vor Gott rechtfertigen, sondern allein der Glaube. https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Kampf_zwischen_Karneval_und_Fasten

[3] Der Kollege hat mit seiner Unkenntnis letztlich dafür gesorgt. dass sich die kommunale Gemeinde genötigt sah, kommunale Kindergärten mit Narrenfreiheit einzurichten

[4] Werner Mezger, Das große Buch der schwäbisch­alemannischen Fasnet, Stuttgart 200l2, S. 8-17, die Zitate hieraus sind nicht einzeln kenntlich gemacht.

[5] Narrenmesse in Rottenburg, Pfarrer bei der Predigt: https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/12913073883/ , Narrenkapelle https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/12912938805/

[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Narrenschiff_(Brant) https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/2508734787/in/album-72157605161879068/

[7] In der Überlinger Kirche wird allerdings auch deutlich vor Augen geführt, was auf die Sünder wartet: https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/36848781115/

[8] https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/39249138865/in/dateposted-public/

[9] https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/33144614495/in/album-72157605021022505/

[10] https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/40093380142/in/dateposted-public/

Weihnachtslieder in einem Land „religiöser Ahnungslosigkeit“

Posted in Christentum, Deutschland, Geschichte, Kirche, Kultur, Leben, Medien, Religion, Soziologie, Theologie by dierkschaefer on 20. Dezember 2017

„Das Christentum ist weitgehend zur Folklore verkümmert. Nur noch eine Minderheit der deutschen und westeuro­pä­ischen Christen weiß, warum Feste wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten gefeiert werden und was der Advent – außer dem Adventskranz – bedeutet. Es herrscht religiöse Ahnungslo­sig­keit“schreibt Michael Wolffsohn, deutsch-israelischer Historiker und Publizist am 5. Dezember.[1]

Meine Aufmerksamkeit war geschärft durch die häufige Erwähnung unserer großen Distanz zur noch mittelalterlichen Vorstellungswelt Luthers. Den hatte die Frage nach dem gnädigen Gott umgetrieben, wie es beim diesjährigen Reformationsgedenken ganz richtig herausgestellt wurde. Doch ohne die Furcht vorm Fegefeuer und dem Jüngsten Gericht verliert die Frage ihre Brisanz und ein Gott wird nicht mehr geglaubt, der wie ein deus ex machina, als Akteur ins Weltgeschehen wun­der­haft eingreift. »Vor der Moderne beziehungsweise Säkularisierung fragten die vom Leid betroffenen Menschen: „Weshalb hat Gott das zugelassen?“ Seit der Säkulari­sie­rung fragen sie: „Wo war, wo ist Gott?“, und „wissen“ sogleich die Antwort: „Es gibt ihn nicht“, oder „Gott ist tot“.«[2]

Doch in den Weihnachtsliedern ist dieser Gott präsent. Lassen wir mal den kitschigen Teil beiseite, wo das „Christkindlein“ brav-reflexhaft[3] auf den Klang der Glocken reagiert: “tut sich vom Himmel dann schwingen eilig hernieder zur Erd’“. Nein, ich denke an die dogma­tisch korrekten Lieder. Wer außer den Theologen versteht denn noch, was da gesungen bzw. in den Kaufhäusern abgedudelt wird? „Welt war verloren, Christ ward geboren“. Und dann die ganze Herrschaftsmetaphorik: „Der Herr der Herrlichkeit“, „O, lasset uns anbeten, den Kööööönig“. Ist da vom Gott-König Bhumibol die Rede? „Er ging aus der Kammer sein“; ein Kammerherr? in seiner Präexistenz? Nein, aus „dem königlichen Saal so rein“ – „uns allen zu Frommen“, was ist denn das nun wieder? Das Schiff, das da „geladen“kommt, erklärt immer­hin, was da geladen ist, doch dann soll man „sterben und geistlich auferstehn“, was heißt denn das? „O Jesu, Jesu setze mir selbst die Fackel bei“; äh? „Dein Zion streut dir Pal­men und grüne Zweige hin“, da muss man ja Gedankensprünge machen, selbst wenn man bei Matthäus 21,8 nachgeschlagen hat. „Tochter Zion“; ja, das singt man so, doch wer ist diese Tochter? Die Jungfrau, die „durch den Dornwald“ ging? Lauter Fragen. „Von Jesse kam die Art“; Jesses, ich versteh’s nicht; ist das Jesus? „Ich lag in tiefster Todesnacht“, na ja, so stressig ist Weihnachten dann doch nicht. „Sünd und Hölle mag sich grämen, Tod und Teufel mag sich schämen“, soll’n sie ruhig. Das Bild vom „Vater im Himmel“ wird ja immer­hin kompensiert durch die „Gottesgebärerin“, doch welche Rollenaufteilung?! Was sagt Frau Schwarzer dazu?

Warum singen die Leute Texte, die sie nicht verstehen, die nach ihrer Logik „Un-Sinn“ sind? Hat es zu tun mit den kitschigen Engeln? Sie sind „hereingetreten, kein Auge hat sie kommen sehn, sie gehn zum Weihnachstisch und beten, und wenden wieder sich und gehn“. Da werden Kindheitserinnerungen wachgerufen, Baum und Gabentisch bekommen göttliche Weihe – dann gehen die Engel wieder und wir können endlich die Geschenke auspacken. Aber „Gottes Segen bleibt zurück“.

posaunenengel.jpgDa wurde Gott Mensch – wurde ein Mensch Gott. Wen inter­essiert das noch außer den Theologen und einigen „religiös-Musikali­schen“?

Bleibt nur die Hoffnung auf den Heiligen Geist, den Geist, der unab­hängig von wandelbaren Geschichten und Gottesbildern, uns den Frieden nicht aus den Augen verlieren lässt.

 

Fußnoten

[1] Michael Wolffsohn, Im Land herrscht „religiöse Ahnungslosigkeit“, http://www.schwaebische.de/politik/inland_artikel,-Im-Land-herrscht-%E2%80%9Ereligioese-Ahnungslosigkeit%E2%80%9C-_arid,10780096.html
[2] s. Wolffsohn.
[3] gleich einem Pawlow’schen Hund

Der Neokatechumenale Weg – Ein Holzweg

Posted in Kinderrechte, Kirche, Kriminalität, Religion, Theologie, Weltanschauung by dierkschaefer on 23. Juli 2014

» Elternvertreter beklagten sich, der Pfarradministrator habe ihren Kindern eingeredet, der Teufel sitze ihnen auf der Schulter.[1]«

Ja, ja, der Teufel auf der Schulter: https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/10678189575/in/set-72157637319504293

[1] http://www.christundwelt.de/themen/detail/artikel/beste-freunde/ (Wer ist hier der Teufel?)