„Sehr geehrter Herr Landesbischof,
für das anregende und konstruktive Gespräch von vorhin möchte ich mich bedanken. Es hat mir gut gefallen.“
Zwischenbemerkung für die Leser meines Blogs. Nach einem Vorlauf auf Twitter rief mich ein Landesbischof vor ein paar Tagen an. Den Termin hatte sein Büro mit mir abgesprochen. Terminiert war eine halbe Stunde. Der Zeitrahmen wurde leicht überzogen, obwohl ihn der nächste Termin drängte. Ich will kurz über dieses wirklich angenehme Gespräch berichten und hier mein Mail posten, das ich ihm noch am selben Abend schickte. Dabei habe ich alle Hinweise auf die Identität des Bischofs entfernt, denn ich möchte nicht, dass er sich öffentlich unter Druck gesetzt fühlt.
Der Landesbischof erwies sich als guter Zuhörer, der auch an den passenden Stellen nachfragte.
Ein anderer Landesbischof, so eröffnete ich, habe im Gespräch mit einem Betroffenen gesagt: „Wir hätten mehr auf unsere Leute hören sollen“. Insofern habe ich mich über seinen Anruf gefreut. Ich sprach dann vom Vertrauensverlust der Kirchen, dessen Beginn ich in den Vorgängen am Runden Tisch der Frau Vollmer sehe, der nachweislich von Beginn an Betrug gewesen sei. Ich sei schon lange mit dem Thema befasst. (Ich muss das hier nicht ausführen; die Leser meines Blogs kennen das.) Es habe leider keine glaubwürdigen Versuche seitens der Kirchen gegeben, Vertrauen wiederherzustellen. Ein Betroffener habe das Verhalten der Kirche auf die Formel gebracht: Kinder schänden, Zeit schinden, Kassen schonen. Ich konnte ihm auch Details benennen.
Die Zeit wurde dann aber doch knapp. Zum Schluss sprach ich noch ein paar Punkte für das weitere Prozedere an, die ich, falls sie untergegangen sein sollten, im Mail an den Bischof wiederholt und etwas ausgebaut habe.
Im Mail ist auch von der Unabhängigkeit der berufenen Kommissionen die Rede. Wenn man schon solche Kommissionen hat, deren Unabhängigkeit begründet bezweifelt werden kann, wird man nicht einfach die problematischen Mitglieder entfernen können, aber man muss offen die vorhandenen Abhängigkeiten diskutieren – und mancher wird dann seinen Platz freiwillig räumen und Nachrückern Platz machen.
Nun zum Mail[1] mit den genannten Einschränkungen:
Was tun?
Das Wichtigste wäre eine Kommission, die wirklich und nach außen erkennbar unabhängig ist. [2]Die Mitglieder dürfen keine besondere Verbindung zur Kirche haben, dürfen nicht im Dienst der Kirche stehen/gestanden haben, sollten auch kein kirchliches Ehrenamt bekleiden.[3] Mitglied sollte eine externe Fachperson sein, die sich mit Traumata und Retraumatisierung auskennt und Erfahrungen im Umgang mit traumatisierten Menschen hat. Diese Person sollte bei der Zusammensetzung der Kommission beteiligt sein, insbesondere bei der Auswahl der Betroffenen, die für Beschlüsse ein Veto-Recht bekommen. Die Sitzungen sollten protokolliert werden und die Protokolle der Zustimmung aller bedürfen. Protokolle müssen öffentlich einsehbar sein unter Beachtung des Datenschutzes für die Opfer. Die berufliche Rolle der Täter bedarf keines allgemeinen Datenschutzes. Täternamen zur Kenntnis zu geben, die wiederum muss über ihre daraus folgende Aktivität/Nichtaktivität der Kommission berichten. Diese Berichte müssen der Öffentlichkeit zugänglich sein, mit Schwärzung der Namen, nicht der Funktion der beschuldigten Personen. So viel zur Transparenz.
Ich empfehle, für interne Beratungen eine erfahrende Person aus der Notfallseelsorge auszuwählen oder einen Traumatherapeuten, insbesondere, wenn es darum geht, in Kontakt zu weiteren Betroffenen zu treten und von ihnen Auskünfte über Tatvorgänge einzuholen. Das darf man keinem Juristen überlassen. Die kommen aus einer anderen Denkschule. Ich habe das oft erlebt, wenn ich Juristen mit Sozialarbeitern oder Psychologen zusammenbrachte, so auch in meinem Kriminologiestudium. Da saß ich Ruheständler unter lauter angehenden Juristen, die sich wunderten, dass man einen Sachverhalt (es ging um Stalking) „auch so“ sehen kann; schon meine Sprache war für sie „ungewöhnlich“.
Wir haben in der Kirche zwar die erforderliche Seelsorgeerfahrung, dürfen sie aber nicht anbieten, denn wir sind die Täterseite. Das gilt auch für unsere Beratungsstellen. Solche Hilfsangebote müssen von außen kommen.
Schwierig wird die Bemessung von Entschädigungen, gerade bei sexuellem Missbrauch. Ein Verweis auf Schadensregelungen im staatlichen Bereich hilft nicht, denn dieser Staat ist beim Thema Entschädigung sehr hartleibig. Mit Sachschäden kommt er klar. Aber seelische Schäden – kennt er die überhaupt? – (Ich wollte eigentlich nicht aus meinem Blog zitieren, hier tue ich‘s doch: „Selbstsicher und verantwortungsbewusst sollen unsere Kinder ins Leben gehen – Manchmal geht das schief. [„Eigenstandsschaden“], https://dierkschaefer.wordpress.com/2020/11/20/selbstsicher-und-verantwortungsbewusst-sollen-unsere-kinder-ins-leben-gehen-manchmal-geht-das-schief/) – Dem kann man zwar keine „Gliedertaxe“ wie im Versicherungsrecht entnehmen, doch hier wird der Horizont für Schädigungen und ihre Auswirkungen aufgezeigt. Das könnte helfen, zu angemessenen Einschätzungen zu kommen. Dafür braucht man dann eine separate Kommission: unabhängig, fachkundig, empathisch.
Soweit ich weiß, hat die Landeskirche Berichte derer, die einen Antrag auf Anerkennungsleistungen gestellt haben. Die Auswertung dieser Berichte könnte/sollte man wissenschaftlich aufarbeiten, dokumentieren, und die Ergebnisse anonymisiert zugänglich machen. Sie könnten einen Anhalt für Entschädigungsfragen geben.
Ob man den Staat gewinnen kann, eine richterliche Untersuchungskommission zu installieren, die staatsanwaltliche Befugnisse hat und allen Fällen auf den Grund geht, auch den schon verjährten, bezweifele ich, denn der Staat hat in der Heimkindersache auch „Dreck am Stecken“ und wird sich seiner Mitverantwortung nicht stellen wollen. Die Verjährung wurde geschaffen, damit Streit auch gegen den Willen Betroffener ad acta gelegt werden kann. Wir haben es mit der Behandlung von Heimkindern mit dem größten „flächendeckenden“ Verbrechen seit 1945 zu tun. In einem solchen Fall braucht es andere Maßnahmen, um Rechtsfrieden wieder herzustellen. Das gilt auch für die nun als endemisch anzusehenden sexuellen Verbrechen an Kindern in Familien und Institutionen.
Die Frage nach den Kosten will ich nicht unterschlagen. Am Runden Tisch saßen drei weitgehend unbedarfte Heimkinder einem Gremium von ganz und gar nicht unbedarften Interessenvertretern gegenüber. Die einen hatten keinen Etat und keine Rechtsberatung, die anderen saßen in ihrer Dienstzeit am Runden Tisch und hatten einen Apparat im Hintergrund. (Über Frau Vollmer schweige ich mich jetzt aus.) Wer an der Unabhängigen Kommission teilnimmt, wird – da sie ja unabhängig sein soll – dies nicht in seinen dienstlichen Verpflichtungen unterbringen können. Das heißt: Alle brauchen neben den Spesen ein angemessenes Sitzungsgeld, auch die Betroffenen, selbst wenn sie keinen Verdienstausfall haben. Die Betroffenen sollten sich auf eine angesehene Anwaltskanzlei einigen, die sie berät. All diese Kosten müssen zulasten der Landeskirche gehen.
So viel, sehr geehrter Herr Landesbischof, zum Abschluss unseres Gespräches. Ich hatte gesagt, ich könnte Sie mit meinem Material „totwerfen“. Der Versuchung bin ich wohl nicht erlegen.
Ich wünsche Ihnen „ein gutes Händchen“ im Umgang mit dem höchst komplexen Problem und würde mich freuen, wenn Ihre Landeskirche eine glaubwürdige Vorreiterrolle einnehmen könnte.
Mit herzlichem Gruß
Dierk Schäfer, Freibadweg 35, 73087 Bad Boll, Tel: 0 71 64 / 1 20 55
[1] Von diesem Blog-Eintrag habe ich den Landesbischof informiert. Das Photo ist ein Beispielsphoto.
[2] Nicht im Mail enthalten: Ein Kommentar erwähnt „unabhängige Wahrheits- und Versöhnungskommissionen“. Das sollte man nicht vermengen. Der Weg zur Versöhnung ist noch viel weiter, als der zur Wahrheit – und auch dort sind wir noch lange nicht angelangt. FAZ, Donnerstag, 10. Juni 2021, Print, https://zeitung.faz.net/faz/seite-eins/2021-06-10/805736e074e898e4d15ba4aa00177925/?GEPC=s3
[3] Auch nicht im Mail enthalten: Mertes fragt: „Wie ist es möglich, dass in Betroffenenbeiräten Personen sitzen, die in einem Angestellten-, das heißt wiederum in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Kirche sind, die ihr Arbeitgeber ist?“ https://www.deutschlandfunk.de/missbrauchsaufarbeitung-im-erzbistum-muenchen-gruppenbild.886.de.html?dram:article_id=498260
Pressemitteilung über das Heimopfertreffen in Korntal am 19.09.2015
Irgendwie ein déjà vu.
Hier der Text der Pressemitteilung:
»Hauptthema des Treffens der ehemaligen Heimkinder der Brüdergemeinde Korntal war die Kritik am Aufarbeitungsprozess der Steuerungsgruppe und an der Arbeit der Heimopfervertreter in dieser Steuerungsgruppe.
Kritisiert wurde einstimmig, dass zu wenig Informationen gegeben werden. Die Heimopfer wollen sich nicht mehr damit begnügen, aus der Zeitung zu erfahren, was gerade in der Steuerungsgruppe läuft. Diese Kritik richtet sich auch gegen die gesamte 7 köpfige Steuergruppe, besonders aber an die drei Vertreter der Heimopfer.
Diese müssen sich am 31.10., dem nächsten Heimopfertreffen weiterer Kritik stellen:
Dass sie die beiden regulär angesetzte Treffen vom 1.8. und 19.9. willkürlich, ohne Begründung und völlig undemokratisch abgesagt haben und zum letzten Treffen nicht erschienen sind, obwohl sie vom Plenum des 1.8. einstimmig zu einer Stellungnahme zu den im Protokoll dieses Treffens angesprochenen Fragen aufgefordert worden waren.
Die Teilnehmer am Opfertreffen vom 01.08.15 hatten ferner ihre Vertreter gebeten, in dem heutigen Treffen ausführlich auch über Teilergebnisse und Entwicklungstendenzen zu berichten. Stattdessen wurde wenige Tage vor dem Treffen die Einladung auf der Website der IG-Heimopfer gelöscht.
„Demokratisches Verhalten und Transparenz sieht völlig anders aus“, brachte ein Ehemaliger das Verhalten unserer Delegierten auf den Punkt.
So kamen nach ausführlicher Diskussion die Teilnehmer einstimmig zu dem Schluss, dass die Vertreter in der Steuerungsgruppe Detlev Zander und Martina Poferl ihr Vertrauen nicht mehr genießen.
Sie werden auf dem nächsten Heimopfertreffen am 31.10.15 im Plenum die Vertrauensfrage stellen und in einer demokratischen Abstimmung die weitere Arbeit ihrer Vertreter in der Steuerungsgruppe festlegen.
Im letzten Tagesordnungspunkt einigten sich die Ehemaligen einen Verein mit Sitz in Korntal zu gründen, in dem sich alle ehemaligen Heimkinder und Unterstützer zusammenschließen, um die Aufarbeitung des Missbrauchs in den Kinderheimen der Brüdergemeinde Korntal zu fördern und den Kontakt untereinander zu pflegen.
Der Entwurf der Satzung wird in Kürze zur Diskussion veröffentlicht, um auch hier durch offene Kritik und Verbesserungsvorschläge eine von Anfang an wirklich demokratische Struktur zu garantieren.
Wolfgang Schulz«
Schmetterling heißt auf Griechisch Psyche
Schmetterling heißt auf Griechisch Psyche. Das hatte ich vergessen, las es aber heute früh in der Zeitung. Ein Artikel über Eric Carles Kinderbuch-Bestseller von der Raupe Nimmersatt, die sich durch viele, viele Früchte hindurchfrißt, zum Schluß auch noch durch Kuchen und Schokolade, noch ein Salatblatt braucht, weil ihr Magen rebelliert, sich dann in ihren Kokon einspinnt und nach einiger Zeit als wunderschöner Schmetterling den Kokon durchbricht.
Der Zufall, tatsächlich ein Zufall und keine Erfindung, weil es so schön paßt, der Zufall also ließ mich gestern abend vor dem Einschlafen an die Raupe Nimmersatt denken. Zunächst dachte ich an die ehemaligen Heimkinder und an den Runden Tisch. (Heinrich Heine, Denk ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um meinen Schlaf gebracht.) Das Protokoll der letzten Sitzung war wieder einmal so inhaltsleer, daß man es sich hätte sparen können. Da fragte ich mich, ob ich noch Hoffnung auf den Runden Tisch setzen könne. Wie die Raupe Nimmersatt frißt er sich durch ungeheuer viel Material: Lebensberichte, Leidensberichte, Geschichte der Heime, der Verwaltungsvorschriften für Jugendämter, Geschichte der Pädagogik, Bedeutung der Menschenrechte, Verjährungsfragen und, und, und. Doch so gut wie nichts dringt nach draußen. Der Runde Tisch ist eingesponnen wie in einen Kokon. Aus Angst vor den Ansprüchen der ehemaligen Heimkinder? vor ihren Anwälten, auf die sie sich versteifen, weil sie dem Runden Tisch nicht mehr trauen, eigentlich noch nie vertrauen konnten? nicht (mehr) daran glauben, daß das Ergebnis ein wunderschöner Schmetterling sein könnte/sollte/wird?
Vor ein paar Tagen berichtete mir eine der Vertrauenspersonen, an die sich ehemalige Heimkinder wenden und ihre Geschichte erzählen. Jemand habe sie angerufen und aus der Heimvergangenheit erzählt. Sie habe gut zugehört und mitgeschrieben. Schließlich habe sie gesagt, daß es eine Meldestelle beim Runden Tisch gebe, dort möge dieser Mensch doch seine Geschichte einbringen. Unwillig sei er geworden. Es habe ihn genug Überwindung gekostet, seine Geschichte überhaupt zu erzählen. Er werde sie nicht wiederholen. Einmal sei genug.
Die ehemaligen Heimkinder haben ein Leben lang ihre Geschichte in sich hineingefressen. Viele haben sich in einen schützenden Kokon eingesponnen und träumen vom Dasein als befreite Psyche, als wunderschöner Schmetterling, der sie bisher nicht sein konnten. Wenn sie sich hervortrauen, darf man sie nicht überfordern. Heimkinder können auch selber forschen, hatte ich vorgeschlagen. siehe: präsentation und Präsentation heim-kids Der Runde Tisch muß die nötigen Bedingungen dafür schaffen. Dazu gehört die Schaffung einer vertrauenswürdigen Grundlage, die es den ehemaligen Heimkindern und ihren Vertrauenspersonen ermöglicht, mit der Meldestelle des Runden Tisches zusammenzuarbeiten. Dazu muß der Runde Tisch endlich ein Konzept vorlegen, aus dem deutlich wird, daß er bereit ist, für die Heimkinder zu arbeiten und nicht nur für ein recht diffuses „ergebnisoffenes“ Verständnis der damaligen Zeit. Die Anregungen und Vorschläge dafür liegen auf dem Tisch, auch auf dem Runden. siehe Verfahrensvorschläge-RT
Wann greift er sie so auf, daß es auch die Heimkinder erkennen und anerkennen können?
Ich hoffe immer noch auf den wunderschönen Schmetterling, auf die Befreiung der Psyche.
photo: dierkschaefer
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