„Er hat das nicht überlebt“, sagt er, obwohl sein Bruder nicht tot ist.
Die Unfähigkeit zu trauern haben wir nicht noch nicht überwunden. Das Entschuldigungsgestammel, ein Begriff von Helmut Jacob, ist nur die Camouflage dieser Unfähigkeit. In der Heimkinderfrage finden wir die Unfähigkeit auf beiden Seiten[1]. Doch die ehemaligen Heimkinder sind exkulpiert, denn die einen können in ihrer Empörung, die anderen in ihrer Scham keinen Trauermodus finden. Die Täterseite hingegen könnte, wenn sie wollte. Dafür bedarf es jedoch mehr als bloße Rituale, auch mehr, als die Beauftragung wissenschaftlicher Untersuchungen – denn die Opfer leben noch. In wenigen Tagen endet die Frist für einen Teil der Opfer auf Antragstellung für Hilfeleistungen mit entwürdigenden Prozedere.
Die Verbrechen sind nicht einfach gleichzusetzen. Den Begriff der Unfähigkeit zu trauern hat Alexander Mitscherlich geprägt – und ein paar Parallelen gibt es doch:
»Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges beauftragten ihn 1946 die Ärztekammern der drei Westzonen mit der Leitung einer Kommission zur Beobachtung der „NS-Ärzteprozesse“ in Nürnberg. Er bekam den Auftrag, „alles zu tun, um den Begriff der Kollektivschuld von der Ärzteschaft in der Presse und in der Öffentlichkeit abzuwenden“. Der Kommission gehörten neben Mitscherlich noch fünf weitere Personen, darunter Alice von Platen-Hallermund und sein Mitarbeiter Fred Mielke (1922−1959), an. Im März 1947 erschien die Prozess-Dokumentation Diktat der Menschenverachtung: Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Quellen in einer Auflage von 25.000 Exemplaren. In der Mitscherlich allerdings, erschüttert von den Grausamkeiten, von denen er in den Prozessen erfahren hatte, über die Verbrechen deutscher Mediziner in den Konzentrationslagern berichtete. Der ursprüngliche Plan, einen Bericht in Deutsche Medizinische Wochenschrift (DMW) zu veröffentlichen, war an der Ablehnung der Redaktion gescheitert. Die Broschüre Diktat der Menschenverachtung: Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Quellen wurde in der DMW und anderen Ärzteblättern nicht erwähnt. Auch in der sonstigen Presse fand die Broschüre fast keine Erwähnung.
1949 erschien das Buch Wissenschaft ohne Menschlichkeit: Medizinische und Eugenische Irrwege unter Diktatur, Bürokratie und Krieg über die NS-Ärzteprozesse, in einer Auflage von 10.000 Exemplaren. „1960 erinnert sich Mitscherlich: ‚[…] Nahezu nirgends wurde das Buch bekannt, […] Es war und blieb ein Rätsel – als ob das Buch nie erschienen wäre.‘ Über das Schicksal des Buches herrscht bis heute Unklarheit. Mitscherlich vermutete, es sei von den Ärztekammern […] ‚in toto aufgekauft‘, denn alle Exemplare seien ‚kurz nach dem Erscheinen aus den Buchläden‘ verschwunden“. „Alexander Mitscherlich war seitdem freilich aus den medizinischen Fakultäten Deutschlands ausgegrenzt; […] er [wurde] nie an eine medizinische Fakultät berufen. Als er berufen wurde, war es die Philosophische Fakultät der Frankfurter Universität“. 1960 erschien die Prozess-Dokumentation aus dem Jahr 1949 mit dem Titel Medizin ohne Menschlichkeit erneut. Von dieser wurden bis 1996 119.000 Exemplare gedruckt, welche große Resonanz fanden. Im Buch sprach Mitscherlich von 350 Medizinverbrechern unter 90.000 Medizinern im Reich
Um seine Erschütterung auch philosophisch zu verarbeiten, brauchte er 20 Jahre, bis er zusammen mit seiner Frau Margarete 1967 Die Unfähigkeit zu trauern veröffentlichte.«[2]
[1] http://www.faz.net/aktuell/rhein-main/misshandelte-heimkinder-der-zeitgeist-ist-eine-schlechte-entschuldigung-13328032.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2
Wenn die Lüge das Leiden erträglich macht
Im Gespräch mit der Friedenspreisträgerin Swetlana Alexijewitsch[1] gibt es eine sehr spannende Passage.
Die Interviewerin fragt: »Bereuen Ihre Informanten manchmal das, was sie Ihnen gebeichtet haben?«
Antwort: »Ja, einige können die eigenen Einsichten auf Dauer nicht ertragen. Ich erinnere mich noch gut an eine Mutter, die, als ich ihr zuerst begegnete, auf dem Zinksarg ihres Sohnes saß, der in Afghanistan getötet worden war. … Doch dann ernannte ein Gericht ihn postum zum Helden. Da verklagte mich die Frau wegen meines Buchs „Zinkjungen“, das auch ihre Geschichte enthält, als Verräterin. Ich hielt ihr vor: „Aber Natascha, du hast mir das, was dort geschrieben steht, doch selbst erzählt.“ Woraufhin sie entgegnete, das sei meine Wahrheit, von der sie nichts wissen wolle. Was sie brauche, sei ein Held als Sohn.«
Was ist da passiert?
Man hat der Frau eine Lesart für ihr Leiden angeboten – und sie hat sie dankbar angenommen. Ihr Sohn, ein Held, nicht sinnloses Opfer in einem sinnlosen Krieg, der zudem verlorenging.
Mit diesem Trick funktionieren Kriegerdenkmäler. Sie beschwören nicht das fürchterliche Krepieren, die Hilfeschreie der Sterbenden, den Schrecken der Kameraden, die traumatisierten Kriegsheimkehrer. Nein, es sind Helden, die Hinterbliebenen dürfen, ja sie müssen stolz sein, daß ihr geliebter Angehöriger dieses Opfer fürs Vaterland, für die gerechte Sache und letztlich für sie selbst erbracht hat. [2] Die meisten Kriegerdenkmäler lügen[3], nur selten sind sie so ehrlich, wie das in Stuttgart-Uhlbach.[4]
Und die Frau auf dem Zinksarg? Man darf ihr keinen Vorwurf machen. Sie braucht diese Lüge. Aber sie ist, ohne es zu merken, einen Pakt mit den am Krieg Schuldigen eingegangen und hat ihren Sohn damit ein zweites Mal zum Opfer gemacht.
Doch man kann ihr nur wünschen, daß ihre Lüge ihr Leben lang hält.
Fritz Roth ist tot – Ein Nachruf auf einen besonderen Menschen.
Gestern abend noch finde ich in der Post den Jahresgruß von Fritz Roth – wie immer selbst konzipiert: Thema Sterben. Heute früh lese ich, daß er einem Krebsleiden erlegen ist. Sein Jahresgruß hatte also seine ganz existentielle Komponente.
Fritz Roth gehörte zu den wenigen besonderen Menschen außerhalb des eigenen Familienkreises, von denen ich sagen kann. Es hat mir gutgetan, daß ich ihn kennengelernt habe.
Das sagt man von Bestattern wohl selten, selbst wenn sie ihren Job gut gemacht haben. Doch Fritz Roth machte keinen „Job“. Er hatte eine Mission und er wurde gehört, weil es an der Zeit war, Tod und Trauer nicht den Experten zu überlassen. Ich habe solche Experten einmal Periletalexperten genannt. Sie sind Fachleute um das Todesgeschehen herum und ihre spezialisierte Fachkunde läßt sie oft die eigene Sterblichkeit vergessen. Sie machen in der Regel ihren Job ordentlich, sogar gut, aber gegenüber den Trauernden sind sie oft hilflos. Fritz Roth markiert einen Wendepunkt nicht nur im „Bestattungsgeschäft“. Er hat das Todesgeschehen und die Trauer wieder sprachfähig gemacht. Das war notwendig und das hat uns zusammengeführt.
Unvergeßliche Momente: Im Museum für Sepulkralkultur berichtete er mit seinem rheinischen Humor von einer alten Dame, deren sehnlichster Wunsch es war, noch einmal auf dem Rhein am Kölner Dom vorbeizufahren. In Umgehung sämtlicher Bestattungsvorschriften setzte er sich mit der Urne und dem Neffen, dem einzigen Hinterbliebenen, ans Rheinufer, „und so haben wir über die Tante gesprochen und sie schüppchenweise am Dom vorbeischippern lassen“.
Doch es geht nicht nur um solche „Döntches“. Fritz Roth hat Trauer und Tod noch mehr abgewinnen wollen. 1999 organisierte er ein großes, gut besuchtes internationales Symposium: Sterben, Tod und Trauer: Impulse zur Erneuerung von Ethik und Spiritualität?. Für sein Bestattungsunternehmen hätte er das nicht gebraucht. Sein Chauffeur, der mich vom Flughafen abholte, meinte, die Bestatterkollegen hielten so etwas für Spinnereien.
Sicherlich möchten nicht alle Hinterbliebenen die Leiche von Opa möglichst lange daheim lassen, vielleicht sogar bei der Leichenwäsche selber mithelfen, oder aber im Haus der menschlichen Begleitung Abschied nehmen, wo die Kinder Opas Sarg bemalen und ihm auf ihre Weise à-dieu sagen können. Doch das Thema ist angekommen. Immer mehr Bestatter haben verstanden, daß sie nicht nur Bestatter, sondern Trauerbegleiter sein müssen. Hoffentlich wird das aber keine „Geschäftsidee“. Fritz Roth hat seine Idee überzeugend gelebt. Seine Wanderausstellung der „Koffer für die letzte Reise“ tourt seit sechs Jahren durch Deutschland. Erst kürzlich hat eine Freundin dabei meinen Koffer in der Berliner Gedächtniskirche entdeckt.
Als Pfarrer gehöre auch ich zu den Periletalexperten und muß selbst- wie zunftkritisch sagen, daß wir von Fritz Roth vieles lernen mußten und noch vieles lernen können. Fritz Roth war für uns und für die ganze Gesellschaft ein Leuchtfeuer. Er sei friedlich, zufrieden und im Einklang mit sich eingeschlafen, berichten die Angehörigen.
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