Eine Jubeldenkschrift zum Firmenjubiläum – Das Stephansstift Hannover, Teil 3 von 4: Die Bewirtschaftung der Bedürftigkeit
Seid klug wie die Schlangen[1] … auch bei den Finanzen.
Am Beginn stand die Idee vom barmherzigen Samariter, der einfach nur half.[2] Er sah sich zuständig im Gegensatz zu den Amtspersonen und (Schrift-)gelehrten. Der von ihm bezahlte Wirt gehörte sozusagen schon zu einem rudimentären Hilfesystem. Und wenn man das ausbaut?
Dann kommt man in der Moderne zur Bewirtschaftung der Bedürftigkeit.
Das Stephansstift ist ein Beispiel für die Geschichte so mancher der heutigen Sozialkonzerne. Die Autorinnen haben in ihrer Studie die Geschichte des Stifts ausführlich beschrieben[3], allerdings sehr unkritisch. Zwar sind sie nur bedingt zu kritisieren. Bilanzen lesen zu können gehört m. W. nicht zu den Studieninhalten von Historikern. Da müssen Spezialisten ran. Aber man sollte seine Grenzen bewusst wahrnehmen und dann Spezialisten heranziehen.
Das habe ich getan, denn auch ich kann keine Bilanzen lesen. Udo Bürger[4] hat sich die Bilanzen des Stephansstifts angesehen und damit wesentlich zu diesem faktengestützten Narrativ vom unaufhaltsamen Aufstieg dieser Einrichtung beigetragen.
Doch einige Fragen tauchen auch dem Laien auf: Warum, zum Beispiel, ist den Autorinnen die Expansion vom Stephansstift von seinen Anfängen bis hin zur Größe der „Dachstiftung“[5] keine Frage wert gewesen? Sie kannten die Bedingungen der Gemeinnützigkeit. Sie sind steuerfrei und dürfen deswegen keine Gewinne erwirtschaften.
Den so naheliegenden Fragen soll hier ansatzweise nachgegangen werden.
Da die Software von „wordpress“ wie wild die Formatierungen wechselt, folgt hier, nach den ersten Fußnoten, wieder die PDF-Version.
Demnächst geht es weiter mit dem abschließenden Teil 4 von 4.
[1] Jesus Christus spricht: Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben (Mt 10,16).
[2] Das war eine Idee. Sie funktionierte nur bei reichen Geldgebern als Absicherung für das Jenseits.
Beispiele:
„Ich, Nicolas Rolin, … im Interesse meines Seelenheils, danach strebend irdische Gaben gegen Gottes Gaben zu tauschen, […] gründe ich, und vermache unwiderruflich der Stadt Beaune ein Hospital für die armen Kranken, mit einer Kapelle, zu Ehren Gottes und seiner glorreichen Mutter.“
Oder die Fuggerei: Für das Wohnrecht gilt noch heute, Gebete für die Stifterfamilie zu sprechen: „täglich einmal ein Vaterunser, ein Glaubensbekenntnis und ein Ave Maria für den Stifter und die Stifterfamilie Fugger. https://de.wikipedia.org/wiki/Fuggerei
Abgesehen von solchen Beispielen sah die Realität meist anders aus, wenn es keine vertragliche Verpflichtung für die Versorgung von Bedürftigen gab.( https://de.wikipedia.org/wiki/Altenteil, https://www.proventus.de/blog/aktuelles/altersvorsorge-damals-und-heute.html
[3] Die Seitenanzeigen in diesem Teil beziehen sich auf die Studie. Sie sind auch in Teil 2 von 4 in diesem Blog zu finden: https://dierkschaefer.wordpress.com/2022/09/25/eine-jubeldenkschrift-zum-firmenjubilaum-das-stephansstift-hannover-teil-2-von-4/
[4] Name verändert. Ich beanspruche Quellenschutz.
[5] Vorab das Organigramm: https://www.dachstiftung-diakonie.de/fileadmin/user_upload/20210715_Dachstiftung_Diakonie_Organigramm.pdf
Eine Jubeldenkschrift zum Firmenjubiläum – Das Stephansstift Hannover, Teil 2 von 4
Die Studie von Winkler/Schmuhl
Nach Vorwort, Dank und Einleitung geht der Gang chronologisch durch die Geschichte des Stifts. Ich folge dieser Gliederung und gebe die Inhalte in groben Zügen wieder.
Es geht um den Zeitraum von 1869 bis 2019. Schon der Beginn war turbulent: zeit- und sozialhistorisch, wie auch kirchengeschichtlich.
Zur Zeitgeschichte: Ich bin in Hannover aufgewachsen und zur Schule gegangen. Der „Übergang“ vom Königreich Hannover zur preußischen Provinz (https://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_bei_Langensalza ) war in der Schule nie ein Thema. Dass wir zwar Beutepreußen, aber derb lustig waren, kannten wir nur aus dem verballhornten Lied von den lustigen Hannoveranern: „und haben wir bei Langensalza die Schlacht auch verloren, dem König von Preußen, woll’n wir was scheißen, einen großen Hucken vor die Tür, lustige Hannoveraner, das sind wir.“
Nun ja, von den großen Zügen der Regionalgeschichte blieben wir unbeleckt. Unsere Lehrer wussten‘s wohl nicht besser. Auch unserem Religionslehrer war wohl manches unbekannt, so auch die ernsthaften Rangeleien zwischen Landeskirche und „Innerer Mission“ zu dieser Zeit. Mir bis dato auch.
Die Zeiten blieben turbulent. Hervorgehoben sei hier zunächst die enge Verbindung (man kann es auch Durchseuchung nennen) zwischen den Diakonen (reichsweit) und den Nazis und besonders der SA. Diakone waren auch Wachpersonal in den KZs („Das ist unser Dienst, Herr Pastor, stehen und warten, dass man einmal auf einen Menschen schießen darf. Sind wir darum Diakone?“). Und nach WKII stieg das Stephansstift wie ein Phönix aus der Asche zu ungeahnten Höhen auf.
Hier der Volltext dieses Teils meiner Rezension.
Eine Jubeldenkschrift zum Firmenjubiläum – Das Stephansstift Hannover, Teil 1/4
Mehr als eine Rezension[1]:
1 Vorwort
[Ich] beginne mit meiner Zeit im Kinderbordell Stephansstift. Ich war von 1963 bis 1964 „nur“ 10 Monate im Knabenpuff der warmen Brüder. [2]
Das ist ein ungewöhnlicher Beginn für eine Rezension, denn das Zitat ist im vorgestellten Werk (im folgenden „Studie“ genannt) nicht zu finden, auch keine Passagen, die nur annähernd das wiedergeben, was der ehemalige „Zögling“ berichtet.
Es stellt sich jedoch die Frage, wie es zu dieser Auslassung der Autorinnen[3] gekommen sein könnte.
Da es sich hier zunächst um eine Rezension (Teil 2, Die Studie) handelt, werde ich die notwendigen Ergänzungen zur Studie an das Ende stellen (Teil 4, Was nicht in der Studie steht). Doch der Leser sei von Beginn an auf diesen erstaunlichen Makel hingewiesen.
Ein weiteres Desiderat ist die Suche nach den Wegen, die es ermöglich(t)en, dass eine gemeinnützige GmbH, die steuerbefreit/steuerbegünstigt keine Gewinne erwirtschaften darf, von kleinen Anfängen zur heutigen wirtschaftlichen Größe gelangen konnte. Doch dieser Frage ist man anscheinend bisher für noch keinen der prosperierenden wohltätigen Sozialkonzerne nachgegangen. (Teil 3, Seid klug wie die Schlangen.)
Schließlich stellen sich bei der Beschäftigung mit der Studie der Autorinnen weitere Fragen. Warum kam es überhaupt zu dieser umfassenden Studie?
Da die von Word-Press angebotene Software mir in der Anwendung zu große Probleme bereitet, folgt hier die Datei im pdf-Format.
Nicht in den Akten? Dann gibt es das ja gar nicht?
Dieser Artikel ist ein Vorwort zur „Unrühmlichen Geschichte des Bodelschwingh Clans“, verfasst von Johannes Lübeck. Link: https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2021/03/text-blog.pdf
Quod non est in actis non est in mundo[1]. Die Welt ist aber größer als Akten hergeben, ein Blick in die Zeitung reicht.
Sogar wir stehen in Akten, – beim Standesamt oder in Flensburg. Uns gibt es schon. Doch wen interessiert das – aktenmäßig? „Unvergessen“ steht nur in der Todesanzeige bei uns Nobodies. Wären wir Somebody, sähe das anders aus. Für Luther, zum Beispiel, interessiert sich auch die Nachwelt und macht den Inhalt der elterlichen Abfallgrube zum Studienobjekt und damit aktenkundig.[2] Gerichtsakten müssen schon von besonderen Delinquenten berichten, damit die Akten jemanden interessieren.[3]
Akten können aber auch lügen, sie sind nur bedingt verlässlich. Historiker, besonders die Kirchenhistoriker kennen das. Berühmt ist die Akte von der Kostantinischen Schenkung[4]. Ein Fake, wie wir heute sagen. Sie wurde erstellt, um die Rechte der der römisch-katholischen Kirche zu dokumentieren, territoriale Ansprüche und die Führerschaft in der Christenheit gegenüber Byzanz. Dazu eignete sich als Garant vorzüglich Konstantin, der erste christliche römische Kaiser. Der Fake flog 1440 auf, wurde aber noch lange gepflegt. Auf die frommen Vordatierungen des Gründungsdatums vieler Klöster will ich gar nicht erst eingehen. Im Mittelalter dachte man anders; „bei Urkunden kam es auf den (plausiblen) Inhalt, nicht die Herkunft an.“[5] Von dieser Ansicht sind wir weit entfernt.
Um Akten geht es auch in der gegenwärtigen Diskussion über Misshandlungen und Missbräuche von Kindern und Jugendlichen. Doch wer dokumentiert das schon? Sollte es aber Zugänge zum Problemkreis geben, z.B. in Personalakten, in Praktikantenberichten o.ä., dann unterliegen sie Zugangsbeschränkungen, sie sind „unauffindbar“, schon vernichtet oder purgiert. Oder bereits ihre Anlage wurde amtlich verhindert:
„Bei der Polizei: N.L. ist 21, geht zur Polizeiwache [der Ort wird genannt], erzählt seine Geschichte wird rausgeworfen und verprügelt. Das Resultat: aufgeschlagene Knie. Der Polizist heißt P.B. [Der Name wird genannt]“. … „Der Unglauben der Leute rühre meist daher, dass diese Vorkommnisse und das von N.L. Erlebte so monströs sind und unglaublich klingen. So erkläre sich auch die Reaktion des Polizisten, der N.L. aus dem Polizeirevier hinauswirft.“[6] Später, in vergleichbarem Zusammenhang: „Immer des. I soll kein Schmarrn erzählen. Des gibt´s doch net, sowas machen doch die nicht.“[7]
Zuweilen gibt es auch Zufallsfunde. So stieß der Kirchenhistoriker Hubert Wolf im Vatikan auf eine Inquisitionsakte, die (auch zufällig?) falsch eingeordnet war.[8]
Wer sucht, stößt auch auf Zeugenaussagen von Betroffenen.[9] Etwas vorschnell hatte ich die Ohrenzeugen der Augenzeugen als Quelle genannt[10]. Ich befragte einen Kirchenhistoriker dazu, weil ich wissen wollte, ob die aktuelle Missbrauchsdiskussion, davor aber noch das Schicksal der Heimkinder, in den Focus der historischen Forschung kommt oder gar schon gekommen ist. Das Gespräch war ernüchternd. Man ersticke ohnehin im Material, so viel sei es in der neueren Zeit geworden. Man nehme nur, was regelrecht dokumentiert sei, Zeitungsartikel oder gar das Internet seien keine zuverlässigen Quellen. Kurz: Nur was schwarz auf weiß archiviert ist, verdient das Vertrauen des Historikers. So wartet er auf die absehbare Freigabe der Akten von Hermann Kunst[11], die Stoff für mindestens zwei Dissertationen bieten würden.
Da haben Zeugen vom Hörensagen keine Chance, so glaubwürdig sie selbst auch sein mögen, auch wenn ihre Aussagen glaubhaft sind. Wenn ihre Berichte noch dazu Mächtige vom Thron stürzen könnten, umso mehr. Bethel und die Bodelschwinghs[12] sind solch ein Fall. Bethel zählt wie die Bodelschwings zu den Leuchttürmen der evangelischen Welt in Deutschland.[13] Ihre Verdienste sind auch nicht zu bestreiten. Doch wo Licht ist ….
Lübeck schreibt – und ich habe es als Motto vorangestellt: „Man wird schon zum Säulenheiligen, wenn man ein erfolgreicher Spendeneintreiber ist, der wenigstens einen großen Teil des gesammelten Geldes einem guten Zweck zuführt und den Rest für ein angenehmes Leben und die Mehrung des eigenen Ruhmes verwendet. Bei den Katholiken kann man damit gar zur Reinkarnation des Erlösers werden.“[14]
Doch so etwas gefällt dem „Clan“ nicht. Er will seine „Heiligen“ nicht beschmutzt sehen. Lübeck hat seine Erkenntnisse aber offenbar nicht erfunden. Er berichtet, woher sein Wissen kommt und schreibt:
Es ist ein außerordentlich schwieriges Unterfangen, im Alleingang ein historisches Thema zu bearbeiten, zu dem kaum noch belastbare schriftliche Quellen existieren bzw. zugänglich sind. Erschwerend kommt hinzu, dass beim hier gewählten Gegenstand im Hintergrund mit den Von Bodelschwinghschen Stiftungen eine Einrichtung steht, die sich seit jeher auch augenscheinlich fundierter Vorwürfe vehement und erfolgreich zu erwehren weiß, obwohl in ihrer Verantwortung in großem Ausmaße Akten ausgedünnt bzw. vernichtet wurden, …
An anderer Stelle: Wo aber Archive wiederholt – unter welchen Gesichtspunkten auch immer – entsorgt, gezielt vernichtet, „ausgedünnt“ und/oder nur selektiv zugänglich gemacht wurden und werden, erwächst dem Historiker wie dem Journalisten die Pflicht, das Erinnerungsvermögen von Zeitzeugen auszuschöpfen und Quellen zu erschließen, die nicht den Weg in Archive gefunden haben. Das gilt in besonders hohem Maße für die Forschungsarbeiten, die sich mit dem Wirken von „Helfern der Menschheit“ und den mit ihren Namen verbundenen Einrichtungen befassen und die ihre Archive eigenverantwortlich zusammenstellen, ordnen, verwalten und öffnen.
Lübeck zeigt sich hinsichtlich der Quellenlage problembewusst; er hat keine erkennbaren Eigeninteressen und kann als glaubhafter „Zeuge vom Hörensagen“[15]angesehen werden.
Ohnehin: Als ehemaliger Polizeipfarrer und studierter Kriminologe weiß ich, dass die Kriminalpolizei oft nicht bis zur Realität durchstoßen könnte, wenn sie Zeugen vom Hörensagen keine Aufmerksamkeit (aber keinen blinden Glauben) schenken würde. Historiker sollten das beherzigen.[16]
[1] https://www.proverbia-iuris.de/quod-non-est-in-actis-non-est-in-mundo/ Aufgerufen: Freitag, 5. März 2021
[2] „Erstaunlich gut erhaltene Speisereste der Luthers habe man in der Abfallgrube gefunden, …. Einmalige Belege, die zeigen, wie die Luthers wirklich gelebt haben.“ https://www.deutschlandfunk.de/luther-ausstellung-in-mansfeld-museum-ohne-gaeste.886.de.html?dram:article_id=456882 Aufgerufen: Freitag, 5. März 2021
[3] August Gottlieb Meißner (1753-1807) schrieb ganz richtig: „Sobald der Inquisit nicht bereits vor seiner Einkerkerung eine wichtige Rolle im Staat gespielt hat, sobald dünkt auch sein übriges Privatleben, es sei so seltsam gewebt, als es immer wolle, den meisten Leuten in der sogenannten feinen und gelehrten Welt viel zu unwichtig, als darauf acht zu haben, und vollends sein Biograph zu werden.“ Skizzen: Erste und zweite Samlung, S. 129, Aufgerufen. Freitag, 5. März 2021
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Konstantinische_Schenkung , Dazu auch die Pseudoisidoren https://de.wikipedia.org/wiki/Pseudoisidor Aufgerufen: Freitag, 5. März 2021
[5] Anm. 4
[6] Aus einem Zeugenbericht vom 9.4.2019 über besonders schweren Missbrauch, der Name des Zeugen ist mir bekannt, der komplette Bericht von zwei Betroffenen liegt mir vor.
[7] Erlebenszeugen können , seitdem ähnliche Vorkommnisse bekannt sind, auch bei Richtern auf offene Ohren stoße. Hier war es eine Richterin vom Sozialgericht Darmstadt, die einem Opfer eine umfangreiche Rente nach dem OEG zusprach. Das Urteil hat Aufsehen erregt und wird anderen Opfern helfen. In meinem Blog wurde das Urteils erstmals veröffentlicht. https://dierkschaefer.wordpress.com/2020/11/20/oeg-urteil/ Aufgerufen: Sonnabend, 6. März 2021
[8] Das Konklave und die Nonnen von Sant’Ambrogio, 12. März 2013, https://dierkschaefer.wordpress.com/2013/03/12/das-konklave-und-die-nonnen-von-santambrogio/ Aufgerufen: Freitag, 5. März 2021
[9] Doch danach muss man schon suchen. Ulrike Winkler und Hans-Walter Schmuhl haben nicht gesucht, sondern nur die Aktenlage wiedergegeben (Das Stephansstift in Hannover (1869-2019), Schriften des Instituts für Diakonie- und Sozialgeschichte an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel, Band 33, Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 2019). Hier ist die Wirklichkeit aber nachweislich deutlich umfangreicher als der Aktenbestand des Stephansstiftes. Schon nach einer simplen Google-Suche hätten sie nicht einen solchen Jubelband zum Jubiläum vorlegen können. Doch wissenschaftlich seriöse Suche gehörte wohl nicht zu ihrem Auftrag. Die beiden Wissenschaftler werden so oft wegen ihrer Unabhängigkeit gelobt, dass man misstrauisch wird. Ich rezensiere gerade diese Studie und werde Wert auf das legen, was nicht in der Studie steht und weitaus interessanter ist, als diese. Grundsätzlich dazu: https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/01/16/was-heist-und-zu-welchem-ende-arbeitet-man-geschichte-auf/ und https://dierkschaefer.wordpress.com/2012/01/23/gibt-es-einen-widerspruch-zwischen-auftragsforschung-und-wissenschaft/ Aufgerufen: Sonnabend, 6. März 2021
[10] Wenn die Ohrenzeugen der Augenzeugen verstummt sind, beginnt die Geschichtsschreibung. https://dierkschaefer.wordpress.com/2010/09/09/wenn-die-ohrenzeugen-der-augenzeugen-verstummt-sind-beginnt-die-geschichtsschreibung/ Aufgerufen: Freitag, 5. März 2021
[11] Der Militärbischof D. Hermann Kunst wird im vorgestellten Dokument 28-mal genannt. Z.B.: „Zu denen, die sich bezüglich des Aufbaues von Espelkamp mit fremden Federn schmücken und/oder schmücken lassen, zählt Erich Hampe schließlich Ehrgeizlinge wie den späteren Militärbischof D. Hermann Kunst, Karl Pawlowski vom Johanneswerk Bielefeld, Eugen Gerstenmayer als allmächtigen Chef des Ev. Hilfswerkes und Präses Wilm.“ Ob Informationen dieser Art wohl in den anderen Akten vermerkt sind?
[12] Stammwappen derer von Bodelschwingh https://de.wikipedia.org/wiki/Bodelschwingh_(Adelsgeschlecht)#Bekannte_Familienmitglieder
[13] Fast könnte man Bethel unter die deutschen „Erinnerungsorte“ einreihen. https://dierkschaefer.wordpress.com/2013/06/02/erinnerungsorte/ Aufgerufen: Sonnabend, 6. März 2021
[14] Aus einem Mail von Lübeck an mich, Sonntag, 14. Februar 2021. Es ging um eine Veröffentlichung über Pater Werenfried van Straaten, bekannt als „Speckpater“ vom 10. Februar 2021, Erschienen in Christ & Welt: Raoul Löbbert und Georg Löwisch, Gut und Böse, https://www.zeit.de/2021/07/pater-werenfried-von-straaten-held-vergewaltigung-vatikan Aufgerufen: Freitag, 5. März 2021
[15] https://de.wikipedia.org/wiki/Zeuge_vom_H%C3%B6rensagen Aufgerufen: Freitag, 5. März 2021
[16] Sie sollten auch den Eröffnungsvortrag des Hirnforschers Wolf Singer zum 43. Deutschen Historikertag beachten: „Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen – Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft.“ http://www.brain.mpg.de/fileadmin/user_upload/images/Research/Emeriti/Singer/Historikertag.pdf
Wir Insider wundern uns
„Die Geschichte der Heimkindheiten endlich konsequent aufarbeiten!“ fordert die „Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs zur Situation Betroffener der Heimerziehung in der Bundesrepublik und der DDR“[1], im Folgenden Rörigkommission genannt.
Nanu? Hat Frau Vollmer nicht am „Runden Tisch Heimerziehung“ die Aufarbeitung längst besorgt? So richtig begann es 2006 mit dem Buch „Schläge im Namen des Herrn“ [2]. 2008 wurde der Runde Tisch eingerichtet[3], ich selber habe dort bei der „2. Anhörung“ am 2. April 2009 referiert[4] und Verfahrensvorschläge vorgestellt.[5] Mein Blog hat sich in der Folgezeit hauptsächlich mit den Heimkindern beschäftigt, so auch andere Plattformen im Netz.[6] In der Folge begannen manche Heime ihre Vergangenheit in umfangreichen seriösen Studien aufarbeiten zu lassen. Hier seien nur zwei der vielen Publikationen von Hans-Walter Schmuhl und Ulrike Winkler genannt[7]. Dazu kommen noch die Berichte über die Ergebnisse des Runden Tisches von Prof. Kappeler, ein überaus kompetenter Fachmann, der vom Runden Tisch wohlweislich ausgegrenzt wurde.[8]
Was will die Kommission mehr?
Kann sein, dass auch sie mit den Ergebnissen des Runden Tisches nicht zufrieden ist. Da werden ihr viele, so auch ich, beipflichten. Der Runde Tisch hatte zwar auch ein paar wissenschaftliche Arbeiten in Auftrag gegeben, doch es handelte sich bei dem Runden Tisch um einen von Beginn an eingefädelten Betrug.[9] Dort wurden die ehemaligen Heimkinder gekonnt von Antje Vollmer über den Tisch gezogen.[10] In quasi mafiöser Verbindung konnten Staat und Kirchen das für sie Schlimmste verhindern: Eine echte Entschädigung und eine Anerkennung der Arbeit der Kinder in Fabriken und Landwirtschaft als Zwangsarbeit. Medikamententests an Kindern kamen nicht zur Sprache, für Säuglingsheime, Behinderteneinrichtungen und psychiatrische Unterbringungen zeigte man sich nicht zuständig. Durch ganz andere Problemlösungen im Ausland, zb gerichtliche Untersuchungsausschüsse ließ man sich nicht irritieren. Die Rechtsnachfolger der Misshandler traten in die Fußstapfen der Täter. Es hätte eine Lösung gegeben: Der Staat (die Länder und ihre Jugendämter) übernehmen die Verantwortung, zahlen Entschädigungen und refinanzieren sich bei den kirchlichen Einrichtungen. Hätte – aber genau das wollte man nicht.[11]
Wenn die Rörigkommission diese Fälle, ergänzt durch die hinzugekommenen Missbrauchsfälle, die damals kaum Thema waren, neu aufrollen will, muss sie die Erfahrungen der Heimkinder berücksichtigen: all die Untersuchungen haben für sie nichts gebracht. Ihre Berichte waren nur das Rohmaterial für Wissenschaftler, die damit ihr Geld verdienten und ihr Karriere beflügelten. Gewiss, sie gaben den Opfern Anerkennung, ihre Ergebnisse riefen bei den Rechtsnachfolgern „Betroffenheitsgestammel“[12] hervor, doch die waren damit glimpflich davongekommen und die Heimkinder fühlten sich abermals missbraucht. Wenn Herr Rörig mit seiner Kommission die Lage dieser Gruppe nachhaltig verbessern will, ist er herzlich willkommen. Das Beweismaterial liegt vor. Neue Untersuchungen sind unerwünscht. Sie würden nur als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme gesehen. Auch schon lange fordern die Heimkinder für sich andere Lösungen als Alters- oder Pflegeheime. Alles längst bekannt.[13]
Es mag sein, dass die Kommission vornehmlich die Missbrauchsfälle sieht, weil sich bei ihr dieser Personenkreis gemeldet hat, der zuvor nicht so sehr im Blickpunkt stand. Das Meldeaufkommen nach Bekanntwerden der Missbrauchsfälle im Piusheim macht deutlich, dass dieser Bereich noch ein großes Dunkelfeld bergen dürfte. Ich weiß, dass wir in nächster Zeit noch einiges über klerikale Pädokriminalität hören werden einschließlich der wirtschaftlichen Nutzung der Missbrauchsopfer. Das wird noch spannend. Aber …
Aber das interessiert die Öffentlichkeit nur vorübergehend. Die Heimkinder fanden sogar persönliche Beachtung in ihrem jeweiligen Lokalblatt, das sich die Gelegenheit nicht entgehen ließ, Opfer aus der näheren Umgebung präsentieren zu können. Es ist den Medien nicht vorzuwerfen, dass sie immer eine neue Sau durch ihre Blätter jagen müssen, denn der Skandal von heute verdrängt den von gestern. Die Leute wollen im Grunde nichts wissen, sondern nur unterhalten werden – und das ist der eigentliche Skandal.
Wenn die Rörigkommission einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss mit all den erforderlichen Vollmachten durchsetzt, wenn diese Untersuchungen die Staatsanwaltschaften nötigen, die einschlägigen Archivakten in Jugendämtern, Kirchen, Klöstern und Jugendhilfeeinrichtungen zu beschlagnahmen, und das unabhängig von der Verjährungsfrage[14], dann dürfte sie auch Unterstützung von den Opfern erwarten.
Kurz zur Verjährung: Sie ist eigentlich dazu gedacht, Rechtsfrieden zu schaffen für Uraltfälle. Eine nicht befriedigende aber letztlich befriedende Lösung. Doch hier hilft sie nicht. Die Verbrechen an den ehemaligen Heimkindern, den Misshandelten und den Missbrauchten stellen das wohl größte Verbrechen in der bundesrepublikanischen Geschichte dar. Prof. Kappeler: „Mitten im Kern des eigenen Gesellschaftssystems geschieht solches Unrecht in unvorstellbaren Ausmaß und sämtliche – verfassungsrechtlich, staatsrechtlich, verwaltungsrechtlich! – vorhandenen Kontrollsysteme versagen; nicht zufällig!“[15] Die Zahl der Opfer ist kaum überschaubar, die „Qualität“ der Verbrechen reicht von deutlicher Benachteiligung und Ausbeutung bis hin zu Monstrositäten grundlegender Menschenrechtsverletzungen Hier kann nicht gesagt werden: „Schluss jetzt, Schwamm drüber.“ Wir werden – Verjährung hin oder her – keinen Rechtsfrieden bekommen, allenfalls Friedhofsruhe, wenn die Opfer gestorben sind – doch ihre Geschichten leben weiter.
Hinzu kommt, dass in vielen Fällen der Rechtsweg von Beginn an schuldhaft versperrt blieb: Wer sich über seine Misshandlungen beklagte, (sei es in der Einrichtung oder bei der Polizei, den Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft,) wurde nicht nur abgewimmelt, sondern zuweilen auch noch geprügelt, weil er „Lügen“ erzähle. Wer, mündig geworden, auspackte, wurde bedroht. Beispielhaft sei hier Alexander Markus Homes genannt. Sein Buch „Prügel vom lieben Gott“ erschien erstmals 1981, also vor inzwischen 39 Jahren. Und die Kirche versuchte, ihn mundtot zu machen.[16] 1999 erschien das Buch MUNDTOT.[17]von Jürgen Schubert, ein weiterer Pionier. Schließlich ist noch an Paul Brune zu erinnern. Es geht dabei nicht um das Unrecht während der Nazi-Zeit (er wurde in eine der Tötungsstationen der Kindereuthanasie eingewiesen), sondern um das in der Bundesrepublik.[18]
Mich würde auch interessieren, mit welchen Methoden die Organisatoren der Kinderbordell-Einrichtungen gearbeitet haben, um die Heimkinder für den Sexmarkt gefügig zu machen und wer abkassiert hat.
Aber: welche Bedeutung haben Opfer angesichts der mächtigeren Interessenvertreter?
Es ist gut, sehr geehrter Herr Rörig, dass Sie sich nun über die Missbrauchsfälle hinaus auf breiterer Front eingeschaltet haben. Schließlich umfasst das Spektrum missbräuchlicher Behandlung von Schutzbefohlenen weitaus mehr als nur den sexuellen Bereich; die menschliche Bosheit ist bodenlos.[19]
Wir sind nun einer neuen(?) Form des sexuellen Missbrauchs auf der Spur, der Bordellisierung von Heimkindern. Ansätze dazu gab es bereits in der Korntal-Sache; die konnten aber m.W. nicht ausreichend belegt werden. Nun hören wir von ähnlichen Vorwürfen aus Mallorca und aus dem Piusstift. Es wäre ein Fortschritt, wenn Sie in Sachen Piusstift Beweismaterial beschaffen könnten.
Eine andere Investigativgruppe ist mit ihren Recherchen schon weiter. Eine erste fundierte Anzeige läuft bereits. Doch wie Sie wissen sind Staatsanwälte weisungsgebunden und die Schutzlobby der Täter ist mächtig. Haben Sie einen Draht „nach oben“?
Wenn dieser Kinderbordell-Fall demnächst, wie ich vermute, in die Medien kommt, müssten Sie mit Ihrem Material bereitstehen. Denn für „Kinderkram“ ist die Aufmerksamkeitsspanne des Publikums wie auch die der Politiker nicht so groß wie für Corona. Dann sollten Sie in Ihrer Funktion dafür sorgen können, dass ein Staatsanwalt mit seinem Team direkt ins Archiv marschiert, bevor dort die Akten vernichtet werden. Wie weit geht Ihre rechtliche Kompetenz? Sind Sie befugt, Klage zu erheben und werden Sie es tun?
Sollte Ihnen bei der Sichtung des Materials, das ich Ihnen jetzt präsentiert habe, der Kopf schwirren, empfehle ich zur Entspannung ein Kapitel aus den Aufzeichnungen des Heimkindes Dieter Schulz. „Von Auerbachs Keller in den Venusberg“.[20]
Fußnoten
[1] Stellungnahme vom 23. April 2020,https://www.aufarbeitungskommission.de/meldung-23-04-2020-stellungnahme-aufarbeitung-heimkindheiten/
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Schl%C3%A4ge_im_Namen_des_Herrn.Heimkinder waren vorher schon einmal Thema gewesen. https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/02/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-x/ Fußnote 1.
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Runder_Tisch_Heimerziehung_in_den_50er_und_60er_Jahren
[4] https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2009/04/runder-tisch-bericht-ds.pdf
[5] https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2009/04/verfahrensvorschlage-rt.pdf
[6] Beispielhaft sei hier nur die umfangreiche Öffentlichkeitsarbeit der Freien Arbeitsgruppe JHH aus Volmarstein genannt. http://www.gewalt-im-jhh.de/Grundung_der_Freien_Arbeitsgru/grundung_der_freien_arbeitsgru.html Nicht zu vergessen die stupende Aktivität von Martin Mitchell in Australien, ehemaliger Zwangsarbeiter im Moor von Freistatt bei Bethel. https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2017/01/freistatt_kappeler.pdf
[7] Rezensionen: Himmelsthür:https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2015/01/rezension-himmelsthc3bcr.pdf und Volmarstein: https://dierkschaefer.wordpress.com/2010/03/21/im-herzen-der-finsternis/
[8] http://gewalt-im-jhh.de/hp2/Kritischer_Ruckblick_2011.pdf Interessant ist, dass hier die Autoren eine mythisch-literarische Sprache verwenden: „Sie schreiben: »Öffnete man in den 1950er und 1960er Jahren die Tür zum Johanna-Helenen-Heim, so sah man in einen Abgrund der Willkür, der Zerstörung, der Gewalt, der Angst und der Einsamkeit. Man blickte in das ‚Herz der Finsternis‘« So heißt der Roman von Joseph Conrad, in dem er eine (fiktive) Expedition zum Oberlauf des Kongo, der Privatkolonie des belgischen Königs Leopold II beschreibt. Der „Freistaat Kongo“ stand außerhalb jeglichen Völkerrechts. Seine Bevölkerung wurde millionenfach zur Arbeit gezwungen, verstümmelt, versklavt, getötet. https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/6864476092/in/photolist-bss87h-bsAdtW-bstBdj-bFv4Nz-bFoukV-bFmU1D-brHiv7-bFmHZK-bFn3fv-bFn4MD-bss62f-bsAbz7-bsAeA5-bstGNY-bsAd8N-bstK9w-bFoDuR-bFmSHB-bFmPwD-bFmMWB/ Das Ganze unter dem „Deckmantel eines wortreichen humanitären Missionseifers“.
Auch ich griff – eher unbewusst – auf solch ein mythisch-literarisches Vorbild zurück, als ich meinem geplanten Essay über die Klerikale Pädokriminalität dieses Motto voranstellte:
„Willkommen im Reich des Bösen!
Lasst, die ihr reinkommt, alle Hoffnung fahren!
Ach so, nur zu Besuch …
Auch Kinder dabei? Nein? Schade.“
Hier regiert die Phantasie von de Sade, der nicht nur wegen seiner Phantasien viele Jahre seines Lebens eingekerkert war. https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/49821171961/in/dateposted-public/ Ein Schmankerl: de Sades Schädel von Dr. Ramon nach den Methoden der Phrenologie untersucht: „Sades Schädel glich in jeder Hinsicht dem eines Kirchenvaters.“ https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46407841.html
[9] https://dierkschaefer.wordpress.com/2015/01/03/der-runde-tisch-heimerziehung-ein-von-beginn-an-eingefadelter-betrug/
[10] https://dierkschaefer.wordpress.com/2011/01/31/der-runde-tisch-heimkinder-und-der-erfolg-der-politikerin-dr-antje-vollmer/
[11] Photo: https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/8409300786/in/photostream/
[12] Helmut Jacob, Volmarstein, prägte diesen zutreffenden Begriff.
[13] https://dierkschaefer.wordpress.com/2010/03/02/noch-einmal-ins-heim-von-den-letzten-dingen/
https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/07/14/wer-will-ins-heim-ins-altenheim-vom-stephansstift/
[14] https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/03/28/schindluder-mit-dem-heiligen/
[15] http://heimkinderopfer.blogspot.com/
[16] https://dierkschaefer.wordpress.com/2012/09/06/alexander-homes-ein-pionier/
https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/11/27/prugel-vom-lieben-gott-neu-aufgelegt-2/
https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/11/06/prugel-vom-lieben-gott-neu-aufgelegt/ dort: „Hintergrund“
https://dierkschaefer.wordpress.com/2013/09/22/man-hat-uns-die-religion-mit-prugeln-implantiert/
https://dierkschaefer.wordpress.com/2013/07/15/das-system-schlug-mit-wucht-zuruck/
Hier ein sehr erhellender Auszug aus dem Buch von Homes: https://dierkschaefer.wordpress.com/2013/07/13/wir-haben-den-kindern-immer-wieder-gesagt-dass-wir-sie-im-namen-von-jesus-christus-erziehen/
[17] http://www.heimkinder-ueberlebende.org/Nachkriegsbiographie_MUNDTOT_bei_Aachener_Juergen_Schubert.html
https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/04/06/merkwurdig-die-vinzentinerinnen/
[18] https://dierkschaefer.wordpress.com/2010/12/26/der-fall-paul-brune/
https://www.lernzeit.de/lebensunwert-der-weg-des-paul-brune/
[19] 1 Weihnachtsfest mit 2 Diakonissen, https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/12/21/1-weihnachtsfest-mit-2-diakonissen/
Die rechte Tür zum Himmel
Die Untersuchung der Fürsorgeeinrichtung Himmelsthür[1] eröffnet einen Horizont, der bisher nicht so deutlich in Erscheinung getreten ist. In aller Deutlichkeit zeigen die Autoren die unheilige Allianz auf, die zwischen Staat und Kirche bestanden hat. Aus zunächst idealistisch-christlicher Motivation entstanden bei Hildesheim und anderswo „christliche Werke“, die Hilfsbedürftige unterschiedlicher Art geradezu von der Straße aufsammelten, sich über Stiftungen, Spenden, Kirchenkollekten und eigene wirtschaftliche Tätigkeiten unter Inanspruchnahme der „Zöglinge“ finanzierten.[2] Der letzte Punkt entsprach zudem einem Erziehungsziel, nämlich die Heranführung an ein selbständiges Leben in ländlichem bzw. kleinbürgerlichem Rahmen. Arbeitstherapie nannte man das. Man kassierte eher notgedrungen auch staatliche Zuschüsse inform von Tagessätzen und Darlehen. Nicht für alle Zöglinge zahlte der Staat, also mußte querfinanziert werden. Die finanzielle Lage der Einrichtungen war immer prekär, denn die staatlichen Behörden wollten so wenig wie möglich ausgeben. Die Einrichtungen standen in Konkurrenz untereinander und betrieben aus falsch verstandenem Selbsterhaltungsbestreben Preisdumping, sie hielten die Tagessätze niedrig, verzichteten wegen ihrer Eigenständigkeit oft auch weitgehend auf staatliche Unterstützung[3] und betrieben ihre „Waschsalons“ zu Preisen, mit denen kein normaler Betrieb konkurrieren konnte. Dies führte zu Einsparungen bei der Versorgung, bei den Löhnen, soweit überhaupt welche gezahlt wurden, und zur Weigerung, mit gestiegenen Anspruchsstandards an die Heimpädagogik besser bzw. überhaupt ausgebildetes Personal einzustellen. Himmelsthür beschäftigte Erziehungszöglinge[4] als Personal für die Kleinkindereinrichtungen.
Eine unheilige Allianz zwischen Staat und Kirche, – doch sollte man besser sagen: zwischen Gesellschaft und Kirche. Die Gesellschaft wollte die „Überflüssigen“ passend gemacht sehen, auf jeden Fall aber aus den Augen haben – und das sollte möglichst wenig kosten. Die Kirchen nahmen der Gesellschaft das unappetitliche Geschäft ab und entwickelten die kostensparenden Modelle. Das entbindet sie nicht von der Verantwortung für die Zustände in den Heimen und ich frage mich, wie wir die „Tafel-Läden“ und „Vesperkirchen“ einzuordnen haben. Auch hier wird Armut entschärft, damit die Gesellschaft ihre Ruhe hat, und das zu günstigen Kosten.
Kinderheime waren auch anderswo in einer solchen Bredouille, wie ein Schweizer Beispiel belegt.[5]
Kinder müssen inzwischen nicht mehr durch eigene Arbeit an den Unterbringungskosten beteiligt werden – allerdings werden Eltern nach Möglichkeit dazu herangezogen. Kinder und Jugendliche allerdings auch, sofern sie Geld verdienen.[6] Das trifft für Kinder in der Regel nicht zu und für Jugendliche müssten die Freigrenzen schon aus pädagogischen Gründen deutlich erhöht werden. Wie will man sonst die Arbeitsmotivation aufrecht erhalten? Es reicht doch, wenn die Kids schon mit ihren Eltern Pech gehabt haben.
Doch nun zur Himmelsthür:Rezension Himmelsthür
[1] Hans-Walter Schmuhl, Ulrike Winkler, Vom Frauenasyl zur Arbeit für Menschen mit geistiger Behinderung, 130 Jahre Diakonie Himmelsthür (1884-2014)
[2] https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/10/22/wo-sollten-wir-hin-war-wollte-uns-ja-schon/
[3] Die Eigenständigkeit hätte zur Diskussion gestellt werden können bei den Kosten für den christlichen Teil der Erziehung. Hier wollte man freie Hand behalten.
[4] Die waren per Definition charakterlich nicht geeignet und schon gar nicht ausgebildet.
[5] http://mobile2.derbund.ch/articles/11581132 Sonnabend, 10. Januar 2015
[6] http://www.swr.de/landesschau-aktuell/jugendamt-pflege-und-heimkinder-muessen-zahlen/-/id=396/did=13661362/nid=396/1xbqfbw/
Im Herzen der Finsternis
Im Herzen der Finsternis
Selten nur ist man von einem Sachbuch so gefesselt, daß man es möglichst ohne Unterbrechung durchliest. Und wohl kaum üblich ist es, daß Autoren einer wissenschaftlichen Studie ein Bild aus dem belletristischen Bereich bemühen, um das Resümee zu ziehen. Sie schreiben: »Öffnete man in den 1950er und 1960er Jahren die Tür zum Johanna-Helenen-Heim, so sah man in einen Abgrund der Willkür, der Zerstörung, der Gewalt, der Angst und der Einsamkeit. Man blickte in das ‚Herz der Finsternis‘« So heißt der Roman von Joseph Conrad, in dem er eine (fiktive) Expedition zum Oberlauf des Kongo, der Privatkolonie des belgischen Königs Leopold II beschreibt. Der „Freistaat Kongo“ stand außerhalb jeglichen Völkerrechts. Seine Bevölkerung wurde millionenfach zur Arbeit gezwungen, verstümmelt, versklavt, getötet. Das Ganze unter dem „Deckmantel eines wortreichen humanitären Missionseifers“.
Das Herz der Finsternis des nun vorliegenden Forschungsberichtes ist das „Johanna-Helenen-Heim“ in Volmarstein in den Jahren 1947 bis 1967. [Hans-Walter Schmuhl und Ulrike Winkler, Gewalt in der Körperbehindertenhilfe, Das Johanna-Helenen-Heim in Volmarstein von 1947 bis 1967, Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 2010, Schriften des Instituts für Diakonie- und Sozialgeschichte an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel, Band 18].
Die Autoren haben nicht übertrieben. Wer das Buch liest, schaut mit Grauen tatsächlich in ein Herz der Finsternis. Die Arbeit mit den Quellen, insbesondere die Befragung der ehemaligen Heimkinder muß nicht nur für die Heimkinder, sondern auch für die Autoren extrem belastend gewesen sein und es ist ihr Verdienst, in wissenschaftlicher Nüchternheit und quellenkritischer Methodik den Leser teilhaben zu lassen an den erhobenen Befunden. Der Leser muß nicht aufgefordert werden, sich zu entsetzen, das besorgt schon die Rekonstruktion des Heimalltags.
Eine Abteilung des Johanna-Helenen-Heims in Volmarstein war im beschriebenen Zeitraum ein Heim für behinderte Kinder. Sie kamen mit unterschiedlichem familiären und gesundheitlichen Hintergrund in das Heim, wo sie versorgt, gepflegt und beschult werden sollten. Diese Unterschiede sorgten bereits für eine Hierarchisierung, die eine Hackordnung war.
»Kinder, die aus einem geordneten und wohlhabenden (und dem Personal gegenüber freigebigen) Elternhaus kamen, Kinder, die eine enge Bindung zu ihren Familien hatten, kräftig genug waren, um Pflegehilfsdienste zu übernehmen, die sich ruhig und angepasst verhielten und gute schulische Leistungen vorweisen konnten, genossen einen gewissen Schutz. Kinder, die aus einfachen Verhältnissen stammten, die keine Angehörigen hatten oder deren Familien sich nicht um sie kümmerten, laute, lebhafte, widersetzliche, trotzige Kinder, Kinder, die sich einnässten und stereotype Verhaltensmuster aufwiesen, Kinder, die schlechte schulische Leistungen erbrachten, zogen den Zorn des Personals auf sich. Ganz unten in der Hierarchie standen die „Sozialwaisen“, deren Eltern sich nicht um sie kümmerten oder denen das Sorgerecht entzogen war – sie waren regelmäßig Opfer physischer und psychischer Gewalt der Schwestern und Lehrerinnen, aber auch der anderen Kinder, die vom Personal dazu angestiftet wurden.« Nicht etwa, daß es den Kindern „weiter oben“ gut gegangen wäre, es ging ihnen nur besser als denen „unten“: »Marianne B. [mußte] ein schwarzes Strafkleid tragen, wenn sie sich nicht wie verlangt benommen hatte. Sie hatte demütigende Prozeduren über sich zu ergehen lassen, die von keinem anderen Kind berichtet werden. Auch war sie ein bevorzugtes Prügelopfer, die Schwestern schlugen nicht nur selber zu, sondern animierten auch andere Kinder, Marianne zu schlagen und schlecht zu behandeln. Regelmäßig wurde Marianne zu schweren und schmutzigen Arbeiten herangezogen. … Klaus [mußte] vierzehn Tage lang allein in einem abgedunkelten Badezimmer und von der Außenwelt abgeschnitten liegen. Der einzige Sinneseindruck für ihn sei das Geräusch eines tropfenden Wasserhahns gewesen«.
Eine Hierarchie, wenn auch nicht diese, war „fachlich“ vorgegeben: »In der Folge des Ersten Weltkriegs setzte sich eine Dreiteilung von Menschen mit Behinderungen durch: Die „Schwerbeschädigten“, deren körperliche Behinderung auf eine Kriegs-, Arbeits- oder Unfallverletzung zurückzuführen war, wurden gegenüber der Masse der „Krüppel“, also der Menschen mit körperlichen Behinderungen, die nicht zu diesen privilegierten Gruppen gehörten, bevorzugt, und am Ende der sozialen Leiter standen die „Unwertigen“ – die „Krüppelsiechen“, die nicht in die moderne Arbeitsgesellschaft integrierbar waren, ferner Menschen mit Mehrfachbehinderungen sowie Menschen mit geistigen Behinderungen oder Epilepsie. Diese verhängnisvolle Dreiteilung, die sich im „Dritten Reich“ (mit tödlichen Folgen für viele „unwertige“ Menschen mit Behinderungen) noch weiter verfestigt hatte, wirkte bis weit in die 1960er Jahre, teilweise noch darüber hinaus, nach«.
Damit bietet die Untersuchung zugleich eine Geschichte der Behindertenpädagogik, der „Krüppelpädagogik“, die ein beängstigend-trauriges Kapitel der Diakoniegeschichte darstellt. Denn die Staffelung der Leistungen der „Krüppelfürsorge“ nach der Schwere der Behinderung und dem Behandlungsaufwand führte auf allen Gebieten der Volmarsteiner Anstalt, und wohl nicht nur dieser, zu den Defiziten, die das Haus zum Herzen der Finsternis machten: die unzulänglichen Gebäude und ihre Einrichtung, der Personalschlüssel und die fachliche Qualifikation des Personals. Dies alles ist ebenso wie die kaum vorstellbaren Demütigungen, Quälereien und eindeutigen Menschenrechtsverletzungen detailliert in der Untersuchung nachzulesen.
Auf einige Besonderheiten des Personals sei jedoch hingewiesen. Da gab es eine extrem gefürchtete Lehrerin. Selber überaus behindert hatte sie es mit eiserner Kraft und Selbstdisziplin geschafft, diese Position zu erlangen. Sie gehörte damit zur „wertvollen“ Gruppe der „Krüppel“. Mit den „Unwertigen“ konnte sie nicht nur nichts anfangen („Du bist asozial, und Asoziale fördere ich nicht“), sondern sie schlug in blindem Haß (Selbsthaß?) auf sie ein. Kinder mit Körperbehinderung mußten über lange Zeit „Strafstehen“. Wenn sie zusammenbrachen, wurden sie am Boden verprügelt und wieder hingestellt. Eine andere Lehrerin schlug nicht „im Jähzorn“, sondern “eiskalt“. Diese Gewalttätigkeiten waren auch in der damaligen Zeit gesetzwidrig und den Heimverantwortlichen bekannt.
Auch das gewalttätige Verhalten der Gruppe der Königsberger Diakonissen kann man nur unter Berücksichtigung ihrer Biographien verstehen. Von der Roten Armee überrollt waren zwei von ihnen mehrere Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft, bevor sie nach Volmarstein kamen. Man weiß, wie die russischen Soldaten über Frauen hergefallen sind und ich hörte, daß einige Diakonissen, die – altersbedingt nicht mehr ganz kontrolliert – die sie pflegenden Schwestern mit gotteslästerlichen Flüchen verstört haben. Das jahrelang verdrängte Grauen brach durch. Doch es kommt noch etwas hinzu. Die Autoren beziehen sich auf Goffmans Beschreibung „Totaler Institutionen“. Er schreibt von einem grundlegenden Unterschied der Stellung der Insassen und der des Personals, das im Unterschied zu den Insassen „anders“ könne und einen Privatbereich habe. Dies war den Diakonissen kaum gegeben. Das Entsetzen des Lesers über die Verhältnisse im Heim steigert sich, wenn er erkennt, daß diese Diakonissen ihrerseits in einer totalen Institution gefangen waren. Das unbarmherzige „Mutterhaus“ (!) verfügte total über sie, überforderte und demütigte sie. Ob die kritische Geschichte der Gewaltverhältnisse in Diakonissenhäusern schon geschrieben ist, weiß ich nicht. Jedenfalls stießen im Heim traumatisierte und gedemütigte Menschen auf doppelt Hilflose, auf Kinder, als solche schon schutzbedürftig, zudem aber noch behindert. Das konnte nicht gutgehen.
Die Untersuchung widmet sich auch den anderen Personen im Heim:
Da ist der Arzt, der zwar im Dritten Reich zur Bekennenden Kirche gehörte, aber ein Anhänger und Verfechter der Nazi-Eugenik war. Als eiskalt wurde er wahrgenommen. Bei den seltenen medizinischen Visiten beteiligte er sich an Strafmaßnahmen.
Das Heim war eine kirchliche Einrichtung; also gab es auch Pfarrer. Auch sie wußten von den Gewalttätigkeiten. Von seelsorgerlichen Bemühungen um die Kinder oder um das Personal ist nichts zu lesen, aber von Gottesdiensten, Andachten und Konfirmationsunterricht.
Einer der Lichtblicke sind einige Praktikanten. Ihre Berichte bestätigen die Erlebnisse der mißhandelten Heimkinder. Ein Praktikant wurde unter Druck gesetzt, seinen Bericht zu „schönen“, doch er blieb standhaft. Solche Pressionen kommen auch heute noch vor, wenn z.B. eine Praktikantin auf die pädagogischen Merkwürdigkeiten bei „erlebnispädagogischen“ Auslandsprojekten einer kirchlichen (!) Einrichtung verweist.
Volmarstein ist heute anders. » Die Evangelische Stiftung hat letztendlich Licht ins Dunkel gelassen. So ist das vorliegende Buch nicht nur ein Geschichts-, sondern auch ein Lehrbuch über die Wirkung und Auswirkungen von Verbrechen und Versagen«. So schreibt die „Freie Arbeitsgruppe JHH 2006“ in ihrem Vorwort zur Untersuchung der Wissenschaftler. Ihrem umsichtigen Beharren auf Aufklärung und ihrer transparenten Arbeit im Internet ist die vorliegende Untersuchung zu verdanken, aber auch dem vor wenigen Jahren erfolgten Personalwechsel an der Spitze der Stiftung. Hier wurde in vorbildlicher Weise Vergangenheit aufgearbeitet. Bei ähnlichen Einrichtungen steht das noch aus, und wahrscheinlich benötigen wir auch dort einen Personalwechsel an der Spitze für die Einsicht, daß die Interessen der Institution weniger wichtig sind als daß geschundenen Kindern Gerechtigkeit widerfährt.
»Der geheime Lehrplan des Johanna-Helenen-Heims zielte auf das „Erzeugen von permanenter Angst“. Auch wenn nicht ständig geschlagen wurde, war das Grundgefühl der Kinder im Johanna-Helenen-Heim eine allumfassende Angst, das Gefühl, der Willkür der Schwestern und Lehrerinnen hilflos ausgeliefert zu sein, das Bewusstsein, dass es kein Entrinnen gab. «
Nun aber will die Evangelische Stiftung Volmarstein ein neues Heim nach einem mißhandelten Heimkind nennen. Dies ist die höchste Anerkennung, die auf symbolischer Ebene möglich ist. Was noch aussteht sind Entschädigungen. Insbesondere wird man der Angst der ehemaligen Heimkinder begegnen müssen, die mit der Aussicht auf erneute Heimunterbringung in Alten- bzw. Pflegeheimen verbunden ist. Die Schatten der Vergangenheit reichen bis in die Zukunft.
Die Untersuchung von Schmuhl/Winkler gehört unbedingt in die Pädagogik-Ausbildung angehender Erzieherinnen und Jugendamtsmitarbeiterinnen und in die Ausbildung des Personals von Alten- und Pflegeheimen. Auch sollte in jeder Heim-Bibliothek ein Exemplar stehen, zugänglich für das Heimpersonal und für die Heimbewohner, die zum Glück keine Insassen mehr sind, auch wenn diese Institutionen nie ganz den Charakter von totalen Institutionen verlieren werden.
Aus Anlaß dieser Rezension sei eine weitere angefügt.
So unterschiedlich beide Bücher sind, so geht es in beiden um Menschen mit Behinderung. Auch dieses Buch mag man nicht aus der Hand legen, bevor man es durchgelesen hat. Bei der Untersuchung von Schmuhl/Winkler liegt das an der verstörenden Wirkung des Grauens, hier ist es der bezaubernde Charme eines Menschen, der uns rätselhaft ist und bleibt, und der seine Umwelt in komische Verwirrungen stürzt. Die Identifikation mit den Personen trägt bis zum Schluß des Buches.
Marie-Aude Murail, Simpel, Frankfurt am Main, Fischer-Taschenbuch-Verlag, 2010, 4. Auflage
Das Buch war mir schon sympathisch bevor ich es lesen konnte. Meine Frau ist Romanistin und hatte mir begeistert davon erzählt. Nun ist es nicht nur übersetzt, sondern erhielt auch 2008 den „Deutschen Jugendliteraturpreis“.
Simpel
»Red doch nicht mit Leuten, die du nicht kennst«, schimpfte Colbert. Dann gab er sich einen Ruck und wandte sich an den Mann mit dem Hund:»Entschuldigen Sie, er ist geistig behindert.« »Ein I d i o t«, korrigierte ihn der andere und betonte dabei jede einzelne Silbe.
Der andere, das ist Simpel, 22 Jahre alt – und er ist gar nicht so simpel, wie er heißt.
Colbert, sein Bruder hat ihn aus dem Heim geholt, aus Malicroix. Damit beginnen die Schwierigkeiten. Denn Colbert, 17 Jahre alt, will an einem Pariser Elitegymnasium sein Abschlußjahr machen und geht nun mit seinem nur dem Alter nach großen Bruder auf Wohnungssuche. Simpel ist zusammen mit seinem Stofftier, Monsieur Hasehase, ein Risiko. Schon die erste Wohnungsbesichtigung scheitert, denn die Maklerin ist hell entsetzt. Mehr Glück haben die beiden beim Casting in der WG, auf die Colbert dank einer Kleinanzeige im Supermarkt gestoßen ist. Doch es klappt, und nun wird es spannend. Wie bringt Colbert seinen Schulalltag, sein erwachendes Interesse für Mädchen und den unberechenbaren Bruder unter einen Hut? Wie lange toleriert die studentische Wohngemeinschaft, selber in gewisse Partnerschaftsprobleme untereinander verstrickt, einen Simpel, der im Dialog mit seinem Monsieur Hasehase Chaos stiftet? Vor ihm sind auch keine technischen Geräte sicher, weil er in ihnen ein Männchen, ein Mänzel, sucht. Und Handys sackt er einfach ein.
Ist es auch Wahnsinn, hat es doch Methode. Die Ratschläge von Monsieur Hasehase verkomplizieren die Handlung, machen sie streckenweise zur Komödie und treiben sie voran. Das alles ist gut verflochten mit den Ereignissen in der WG und Colberts Irrungen auf pubertären Pfaden. Dabei lernen wir eine ganz reizende Familie mit maghrebinischem Hintergrund kennen, die überhaupt keine Probleme mit Simpels Skurrilitäten hat.
Doch die Situation spitzt sich zu. Simpel bedient auch das Telefon der WG, wenn er allein ist. Das hat überraschende Folgen. So versetzt er die Eltern eines anderen WG-Bewohners in Aufruhr und veranlaßt sie zu einem überstürzten Besuch. Simpel schafft es auch in aller Naivität, die Dame vom Jugendamt zu täuschen. Das führt zu einem reizenden Verwechslungsspiel.
Doch schließlich wird die Belastung zu groß. Simpels Vater setzt sich durch: Ab nach Malicroix, ins Heim! Schließlich soll sich Colbert nicht überfordern. Er habe doch sein eigenes Leben zu leben, wie er, der Vater, mit seiner neuen Frau.
»Im Heim legte Simpel sein Stofftier auf das Kopfkissen, dann holte er seine Kinderschere. „Machst du mir wieder die Augen kaputt?“ – „Du sollst das nicht sehen.“ – „Ja, aber wie weine ich dann?“ fragte Monsieur Hasehase«. Simpel löst das Problem auf seine Weise. Während er in der WG bereits schmerzlich vermißt wird, versetzt er das Heim in Aufruhr, geht bei vollem Heim-Alarm schick gekleidet an der Rezeption vorbei und haut ab. Zurück in Paris findet er sich nicht zurecht. Zwei Prostituierte gabeln ihn auf. Sie merken recht bald, mit wem sie es zu tun haben. »Das ist doch ein Idiot«. – »Geistig behindert«, korrigiert Simpel. Auf der Suche nach Geld in seinen Taschen stoßen die Prostituierten auf den Notzettel mit der Handy-Nummer seines Bruders.
Nun ja, Ende gut alles gut: Simpel und Colbert bleiben in der WG, Monsieur Hasehase wird aus dem Müllschlucker gerettet, Colbert weiß nun, welches Mädchen er wirklich liebt und die Partnerschaftsverhältnisse der anderen WG-Bewohner sind auch geklärt.
Es wäre zutiefst unbefriedigend gewesen, wenn dieses bezaubernde Buch kein sympathisches Ende gefunden hätte. Die Autorin schafft es, Empathie für eine Menschengruppe zu wecken, der wir aus Unsicherheit lieber aus dem Weg gehen, weil Menschen mit geistiger Behinderung uns verunsichern, denn wir halten sie für unberechenbar. Wer selber einen „Simpel“ daheim hat, wird bei manchen Episoden zustimmend schmunzeln, besonders wenn Simpel mit schlafwandlerischer Sicherheit unerwartet-richtige Kommentare gibt. Man ist aber trotzdem dankbar, daß der eigene Simpel nicht in Begleitung eines Chaos-Hasen daherkommt. Doch die Beglückung, die von solchen Menschen ausgehen kann, finde ich bei Simpel wieder.
Ein Wort sei noch der Jugendamtsmitarbeiterin gewidmet. Natürlich empfindet man als Leser Schadenfreude, wenn sie von Simpel an der Nase herumgeführt wird. Doch man kann ihr keinen Vorwurf machen. Sie verhält sich professionell und macht eigentlich keine Fehler. Was der „öffentlichen Fürsorge“ abgeht, wird nicht nur an Simpel deutlich, der sich ihr entzieht, sondern auch darin, daß sie wohl nie wird verstehen können, daß professionelle Fürsorge zur Karikatur wird vor der Liebe eines Bruders, der seinen Simpel trotz aller Schwierigkeiten, die so ein Simpel mit sich bringt, aus dem Heim holt.
Auch wir lieben unseren Simpel.
Rezensiert von
Dierk Schäfer
Freibadweg 35
73087 Bad Boll
Fon: (0 71 64) 1 20 55
Mail: ds [at] dierk-schaefer.de
Genaue Bibliographie:
Hans-Walter Schmuhl / Ulrike Winkler
Gewalt in der Körperbehindertenhilfe
Das Johanna-Helenen-Heim in Volmarstein von 1947 bis 1967
= Schriften des Instituts für Diakonie- und Sozialgeschichte an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel 18
2010. ISBN 978-3-89534-838-9. Gb. 25 x 17 cm. 328 S. 28 sw. Abb. 1 CD. 19,00 Euro
Nachtrag: Inzwischen liegt ein zweiteiliges Interview mit Dr. Ulrike Winkler vor.
Hier die Links zur Aufnahme:
Die Fernsehsendung „Behinderte in Heimen“ vom 23.3.2010 steht jetzt unter folgenden Links online:
1) Erster teil der Fernsehsendung vom 23.3.2010 „Behinderte in Heimen“ mit der Autorin Dr. Ulrike Winkler
http://de.sevenload.com/sendungen/Top-TV-im-OKB/folgen/4ER1xRP-01-TopTV-23-3-210
2) Zweiter Teil der Fernsehsendung vom 23.3.2010 „Behinderte in Heimen“ mit der Autorin Dr. Ulrike Winkler
http://de.sevenload.com/sendungen/Top-TV-im-OKB/folgen/MvUYuff-02-TopTV-23-3-210
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