Dierk Schaefers Blog

50 Jahre Knast!

50 Jahre Strafvollzug 50 Jahre Knast!

[1. „50 Jahre? Wat hatter denn jemacht? Für Mord gibt’s doch nich so viel.“ – „Ach so, unverbesserlich: immer mal wieder. Banküberfall und so“

… und so wurde er, Ikarus[2], zum Fachmann bundes­deut­scher Corrections-Bemühungen, jedenfalls in Santa Fu[3]. Er beschreibt dem Leser den Wandel des Strafvollzugs[4], wie er ihn in seinem Knast-Alltag erlebt hat bis in die erschrecken­den Details. Schon im Prolog kommt er zu einem Resümee, das dem Straf­voll­zug ein verheerendes Zeugnis ausstellt: „Ich habe unter langen Haftzeiten, gerichtlichen Fehlentscheidungen und fortwährenden Strafübeln gelitten, jedoch im Grunde nichts gelernt.“

Beim Lesen überkam dem Rezensenten der Gedanke an die „Übeltäter“ Max und Moritz:

„In den Trichter schüttelt er die Bösewichter. Rickeracke! Rickeracke! geht die Mühle mit Geknacke“.

Der hier dargestellte Zuchthaus-Strafvollzug meint das Böse zu brechen, indem er die „Böse­wichter“ zerbricht. Die „Rollkommandos“, die entgegen jedem Übermaßverbot einen reni­tenten Knacki in den Arrest werfen(!) sind Folterknechte. Da können nur gebroche­ne Existenzen herauskommen. „Was ich gelernt habe oder geglaubt habe, gelernt zu haben, taugte und taugt in der Regel nicht für das Leben außerhalb der Knastmauern.“

Neu sein dürften für die meisten Leser die Erfahrungen in der U-Haft: Sie sei schlimmer als der normale Strafvollzug[5]; mancher Häftling sei bereit, vorschnell ein „Geständnis“ abzulegen und auf Rechtsmittel zu verzichten, nur um von der U-Haft in den Regelvollzug zu kommen. Und das trotz Unschuldsvermutung bis zum Urteil! Schlimmer kann ein Urteil über diesen Teil unseres Justizsystems kaum ausfallen.

Ikarus, Jahrgang 1942, stürzte das erste Mal mit 22 Jahren ab und lernte die verschärften Straf­bedingungen im Zuchthaus gründlich kennen. – Ach, wussten Sie was ein Hartlager ist? Man nimmt Ihnen zur Strafe die Matratze weg. – Ikarus veranschaulicht den Fortschritt vom Zuchthaus zum Gefängnis[6] bildhaft mit dem Klopapierangebot: Zunächst gab es Zeitungs­papier, dann unbedruckte Druckereiabfälle und schließlich handelsübliches Klopapier.

In Santa Fu war eine Bambule, ein Aufstand,[7] Auslöser für wesentliche Veränderungen: [8] Häftlinge bekamen nicht nur Mitspracherecht, sondern auch „Freiheiten in der Unfreiheit“, bei denen sich der Leser fragen dürfte, warum ein Teil dieser Freiheiten nicht schon vorher und freiwillig eingeräumt worden war, denn sie gefährden den Vollzug nicht, sondern sind Schikanen gegen die Menschenwürde.

Aber als Ikarus 1982 wieder abstürzte (warum, schreibt er nicht), kannte er seine „Mutter­anstalt“ nicht wieder. Die Zellentüren hatten jetzt Vorhängeschlösser[9] zum Schutz vor Dieb­stahl unter den Mitgefangenen. Solidarität gab es nicht mehr. Später, nach einem Mordfall[10], kamen auch Schlösser auf der Innenseite hinzu. Auch die Beamten meldeten sich durch Klop­fen an. Ikarus nutzte die Freiheiten und richtete sich in seiner „Wohnwabe“[11] von 9,5 qm ein. Sie „schloss mich aus vom realen Leben, sie bot zugleich Schutz vor dem Feindlichen und vermittelte mir ein oberflächliches, ein andermal ein tieferes Gefühl der Geborgenheit: Höhleneffekt.“ Er war angekommen.

Im Kapitel „Graue Nebel“ spricht Ikarus distanzierend von sich in der dritten Person. „Die Strafvollstreckungskammer hatte gerade seinen Reststrafenantrag abgebügelt. Einige Zeit später gab ihm seine Lebenspartnerin ihr ‚Valet‘. Kurz und bündig teilte sie ihm in einem Brief mit: ‚Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Vergiss mich.‘ Ein Karateschlag gegen seine ohnehin wunde Seele. Er knickte ein.“

Trotz der neuen Freiheiten gab es eine zweite Babule.[12] Die Befriedung des Aufstandes geschah unter Einbeziehung von knastälteren Insassen. Ikarus scheint beteiligt gewesen zu sein. Seine Beschreibung der Folgezeit offenbart einen „gereiften“ Menschen, in der Lage, Argumente abzuwiegen. Er berichtet auch über die nach Delikten gestaffelte Hierarchie und über die neue Nationalitätenmischung mit den Folgeproblemen. Wichtiger aber ist seine nächste Bruchlandung: 10 Jahre wegen bewaffneten Bankraubs plus 13 Jahre Widerruf einer Bewährungsreststrafe. Es war die vierte Verurteilung für das gleiche Delikt. Doch Ikarus hatte ja schon zu Beginn geschrieben, im Knast nichts hinzugelernt zu haben. Bankraub konnte er immer noch nicht, – aber es auch nicht lassen. Immerhin hatte er sozusagen ausgesorgt über das 80ste Lebensjahr hinaus. Nach sieben Jahren „Schreibkrieg und Gesprächskämpfen“ … „am Ende der Strecke, im März 2009 stand die Verlegung in eine psychiatrische Einrichtung.“

War das wieder ein Absturz, Ikarus? Er hat einen Suizidversuch hinter sich, ist nun 67 Jahre alt und längst im Rentenalter. Rente? Ja, dreihundert Euro aus versicherungspflichtigen Arbeitsver­hältnissen. Die Arbeit im Knast zählt nicht dazu. Der Staat drückt sich auch heute noch um die Beiträge zur Rentenversicherung. Arbeitgeber, die solches tun, machen sich strafbar. Der Staat nicht und bleibt ungeschoren, ein Skandal. Aber politischer Einsatz für Knackies wird vom Wähler eher abgestraft.

Ikarus bleibt in Hamburg und hat nun die Gelegenheit, den geschlossenen Strafvollzug von Santa Fu mit dem sozialtherapeutischen Vollzug[13] zu vergleichen. Die Freiheiten in Santa Fu waren durch den Druck konservativer punitiver Kreise („Schwarze Konterrevolution“) weitgehend einkassiert worden.[14] Ganz anders die Sozialtherapeutische Anstalt. So wie Ikarus sie beschreibt, kommt der Leser zur Überzeugung: So, genau so sollte Justizvollzug sein: Die Vorbereitung auf die Anforderungen der Freiheit „draußen“ stehen im Mittelpunkt.

Wer so lange im Strafsystem steckte, darf als Fachmann gelten. Er schließt darum mit einigen Thesen, die hier nur plakativ wiedergegeben seien: 1. Strafvollzug „bessert“ nicht, mag er auch noch so intensiv auf Härte angelegt sein. 2. Strafvollzug macht krank … je länger er dauert. 3. Der geschlossene Strafvollzug macht über die Jahre lebensfremd …und sollte die Ausnahme bilden.

Resümee: Ein locker geschriebenes, erlebnisgesättigtes Fachbuch aus langjähriger Erfahrung eines Insassen. Lesenswert für alle, die irgendwie mit Knast zu tun haben, sei es beruflich oder zur Vorbereitung. Merkwürdig: Ikarus umschifft weitgehend das „Thema Nummer eins“[15]. Das ist nicht glaubwürdig.

Was fehlt noch? Ein knapper Lebenslauf von Ikarus. Herkunft, Schule, Lehre, chrono­lo­gischer Überblick über die Straftaten und Strafbemessung, Daten der jeweiligen Freilassung, Eheschließung(en). Was macht Ikarus heute? Ein paar Fotos der Anstalt wären nett gewesen.

Bildmaterial sei hier nachgereicht, ist allerdings aktuell und nicht aus der Zuchthauszeit.[16]

Rezensent: Dierk Schäfer, Dipl.-Psychologe&Kriminologe, Theologe


[1] Foto/Ausschnitt: https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/28783322134/in/album-72157668678484066/

[2] So nennt er sich: Er sei wie Ikarus beim Höhenflug abgestürzt. Doch beim ihm sind es mehrere Abstürze. Ich nenne ihn im Folgenden auch Ikarus, weil ich nicht weiß, ob der Autorenname echt ist.

[3] Der Begriff „Santa Fu“ ist schon vor den 1970er Jahren entstanden und kommt von der alten Bezeichnung „Strafanstalt Fuhlsbüttel“, die im Verwaltungsdeutsch „St. Fu“ abgekürzt wurde. https://de.wikipedia.org/wiki/Justizvollzugsanstalt_Fuhlsb%C3%BCttel Viele Fotos und weiterführende links unter https://www.google.com/search?q=Santa+Fu&client=firefox-b-d&source=lnms&tbm=isch&sa=X&ved=2ahUKEwiqhtXhwIfwAhWfwQIHHUkMCfUQ_AUoAnoECAEQBA&biw=960&bih=434

[4] Wolfgang Krüger, 50 Jahre Strafvollzug, Hamburger Gefängnisalltag zwischen 1960 und 2010 aus Sicht eines Gefangenen, 2021, Kriminologie und Kriminalsoziologie, Band 22, 134 Seiten, gebunden, 29,90 €, ISBN 978-3-8309-4371-6. Zitate sind, soweit nicht anders vermerkt, dem hier besprochenen Buch entnommen.

An dieser Stelle will ich dem Verlag bzw. seinem Lektor ein Lob aussprechen. Denn hier weiß man noch, was eine Fußnote ist und wo sie hingehört, nämlich zur Erleichterung des Lesers nach unten, an den „Fuß“ der Seite. Es ist hier aber nicht der Platz für einen Exkurs zu den üblich gewordenen gestaffelten Unverschämtheiten, Fuß­noten leserunfreundlich an das Ende eines Textes zu verbannen.

[5] „Die Untersuchungshaft dient grundsätzlich nur der Sicherung des Strafverfahrens.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Untersuchungshaft_(Deutschland)

[6] In der Bundesrepublik Deutschland wurde die Zuchthausstrafe im Rahmen der Großen Strafrechtsreform durch das Erste Strafrechtsreformgesetz vom 25. Juni 1969 (BGBl. I S. 645) zum 1. April 1970 abgeschafft. https://de.wikipedia.org/wiki/Zuchthaus

[7] – Langsam am Verblöden, 02.01.1972, 13 https://www.spiegel.de/politik/langsam-am-verbloeden-a-ff206415-0002-0001-0000-000043376343

 – Ruhe in Santa Fu, 11. August 1972 https://www.zeit.de/1972/32/ruhe-in-santa-fu/komplettansicht

[8] Aus dieser Zeit stammen auch meine Erfahrungen mit gelockerten Knastbedingungen – als Besucher.

[9] Die Verwaltung hatte den Zweitschlüssel und damit weiterhin jederzeit Zutritt.

[10] https://www.spiegel.de/panorama/die-hoelle-hinter-gittern-a-53259ad3-0002-0001-0000-000013683647

[11] Durchgängig schreibt er vom Wohnklo.

[12] https://www.spiegel.de/panorama/die-hoelle-hinter-gittern-a-53259ad3-0002-0001-0000-000013683647

[13] Sozialtherapeutische Anstalt http://www.krimlex.de/artikel.php?BUCHSTABE=S&KL_ID=215

https://de.wikipedia.org/wiki/Sozialtherapeutische_Anstalt

https://www.hamburg.de/bjv/justizvollzugsanstalten/2231596/sozialtherapeutische-anstalt/

[14] Genannt wird der Senator Roger Kusch. Zu dieser Person mehr: https://de.wikipedia.org/wiki/Roger_Kusch

[15] „Am Arbeitsplatz, in der Freistunde, überall ist Thema Nummer zwei Erfah­rungs­austausch! Thema Nummer eins dürfte wohl jedem bekannt sein. Da wird angegeben, dass die Nähte krachen.“ Aus: Tübinger Schriften und Materialien zur Kriminologie, Dierk Schäfer, Devianz als Schicksal? Die kriminelle Karriere des Dieter Schulz. Mit der Autobiographie von Dieter Schulz, Kapitel 32: Dieter zu Gast im „Hotel zur silbernen Kugel“

[16] Ex-Häftling erzählt vom Leben in Santa Fu – Folge 1: Drogen

https://www.youtube.com/watch?v=WJn9e4dMoRE

Ex-Häftling erzählt vom Leben in Santa Fu – Folge 2: Essen

https://www.youtube.com/watch?v=zAGYvNUl3Y4

Ex-Häftling erzählt vom Leben in Santa Fu – Folge 3: Gewalt

Ex-Häftling erzählt vom Leben in Santa Fu – Folge 4: Tagesablauf

Ex-Häftling erzählt vom Leben in Santa Fu – Folge 5: Liebe

und die andere Seite:

Alltag in Santa Fu – Beamte hinter Gittern – Teil 1

Alltag in Santa Fu – Beamte hinter Gittern – Teil 2

Politisch korrekt ist dieses Buch ganz und gar nicht.

Posted in Geschichte, Justiz, Kriminalität, Kriminologie by dierkschaefer on 2. November 2015

Täterschutz werden „Opferverbände und einschlägige Rechtsanwälte“ argwöhnen[1]. Bereits die Rezension in der FAZ[2] hatte mich an eine turbulente Tagung erinnert und ich bestellte das Buch[3]. Der Name des Autors war mir geläufig. Max Steller gehörte zu den maßgeblichen Gutachtern für das Urteil des Bundesgerichtshofs[4], mit denen 1999 die Standards für die Glaub­haftig­keits­begutachtung festgelegt wurden. Steller war auch führend beteiligt an den Freisprüchen in den damaligen Massen-Missbrauchsprozessen.[5]

Sein Lebensthema ist die Aussagepsychologie: Wie glaubhaft ist die Aussage eines „Täters“ oder eines „Opfers“, wenn es keine Indizien gibt und nur Aussage gegen Aussage steht? Im Klartext: Wer lügt? Oder Wer erinnert sich falsch und wie kommt er dazu? Die Brisanz liegt in der zweiten Frage, in der sich unheimliche Abgründe auftun[6]. Da ist jemand ehrlich davon überzeugt, missbraucht zu sein, und wird damit konfrontiert, dass es nicht stimmt, in manchen Fällen auch gar nicht stimmen kann. Doch bis dahin hatte man dem „Opfer“ geglaubt. Steller nennt die Gründe dafür.

Einerseits die „Aufdeckungsarbeit“ nach Anleitung von Prof. Dr. Tilmann Fürniss[7], der Kindergärtnerinnen und Lehrer sensibilisierte, hinter harmlosen Kinderzeichnungen und Kindesäußerungen Missbrauch zu vermuten, der in vielen Befragungen aufzudecken ist. Steller: Ein Kind kann zwar noch nicht gekonnt lügen, aber man kann ihm Erlebnisse suggerieren, die es dann für wahr hält. Man müsse untersuchen, ob das Kind den Missbrauchsvorwurf spontan erhoben hat oder ob und durch wen das Kind nach vielen Befragungen vielleicht erst darauf gebracht wurde, bis es schließlich fest von seinem Missbrauch überzeugt sei.

Was mit Kindern geht, funktioniert andererseits auch mit Erwachsenen, die in vielen Therapiesitzungen zu der Lösung kommen, die ihr Therapeut als Standard- oder Resthypothese für ihren Fall parat hat: Frühe Missbrauchserfahrung, ins Unbewusste verdrängt, werden nun endlich bewusst gemacht; damit ist zugleich ein Schuldiger gefunden für all die Beschwerden. In solchen Fällen müsse man einen kritischen Blick auf die Persönlichkeit des Menschen und seine Geschichte eventueller psychischen Auffälligkeiten richten.

Der unreflektierte Glaube an den Wahrheitsgehalt von Kinderaussagen war damals in der Öffentlichkeit noch ungebrochen, soweit es um sexuellen Missbrauch ging. Aufdeckungsarbeit war angesagt. Die Methoden von „Beratungsstellen“ wie Zartbitter[8] und Wildwasser[9] galten als unbezweifelbar, stand dahinter doch ein veritabler Professor, der in Fortbildungskursen auch Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen in „Aufdeckungsarbeit“ schulte. Wenn ein Kind „anatomisch korrekte“ Puppen[10] richtig zusammensteckte und seine Zeichnungen nach Meinung der „Experten“ sexuelle Hinweise enthielten, war das ein Beleg für sexuelle Erfahrung.

In dieser aufgeheizten Situation lud ich zu einer Tagung ein: „Sexueller Mißbrauch in der Familie. Ein Vorwurf und seine Folgen.“ Schlimmeres hätte ich nicht tun können. „Das ist kein Vorwurf, das ist ein Verbrechen“, befand eine aufgebrachte Kollegin. In der weithin Feminismus-geneigten Kollegenschaft war ich isoliert. Eine Leserbriefwelle der Empörung rollte an und wir überlegten, ob wir die Tagung unter Polizeischutz stellen sollten. Das „technische“ Personal unsere Akademie reagierte nüchtern, wie man reagieren sollte. Ich druckte –wohl erstmalig in der Geschichte der Akademie – kleine Karten mit der Aufforderung, das Akademiegelände unverzüglich zu verlassen und die Akademieleitung setzte mir die Ehefrau eines Kollegen zur Kontrolle in die Tagung, was ich durchaus auch als Dokumentationsschutz in meinem Interesse sah.

Was die allgemeine Empörung hervorrief war, dass ich Missbrauchsbeschuldigten zu einem Podium verholfen hatte und damit auch dem Thema Missbrauch mit dem Missbrauch.[11] Denn jeder dieser Beschuldigten hatte ungeprüft als Täter zu gelten.

Die Tagung wurde turbulent. Im Publikum saßen viele „Täter“, Väter und Ehepaare, denen man die Kinder weggenommen hatte, Großeltern, die ihr Enkelkind in der Dusche missbraucht haben sollen. „Aber wir haben gar keine Dusche“. Die meisten waren gegen Wände gelaufen, trotz der Unhaltbarkeit der Vorwürfe, so wie die Eltern in den zeitgleich laufenden Wormser Prozessen[12]. Den Ehefrauen der „Täter“ hatte das Jugendamt die Scheidung empfohlen. Erst dann würden sie ihre Kinder zurückbekommen. Ich hatte neben forensischen Psychologen auch einige Betroffene zum Referat gebeten, so auch den Verfasser des Buches „Mißbrauch des Mißbrauchs“[13]. Schon der Titel war eine Provokation, meinte die Gegenseite. Eine Teilnehmerin hielt es nicht aus, bekannte sich als traumatisiert und verließ die Tagung. Auch die referierenden renommierten Psychologieprofessoren wurden der Täterseite zugeschlagen: „Tätervertreter“. Denn: „Kinder lügen nicht.“

So ist auch ein ganzes Kapitel im Buch von Max Steller überschrieben. Kinder, schreibt er, lügen auch, doch sie können das noch nicht richtig, denn Lügen will gekonnt sein. Aber man kann Kindern Erlebnisse suggerieren, die sie nie gehabt haben, dann aber phantasievoll ausschmücken. Eben bis zum Missbrauch in der nicht vorhandenen Dusche.[14]

Nachtrag

Eine gute Zusammenfassung der damaligen Atmosphäre liefert eine Studienarbeit aus dem Jahr 1997.[15] Übrigens: Meine Tagung hatte Folgen. Durchweg positiv. Hier sei nur die Zusammenarbeit mit der Esslinger Hochschule für den „Anwalt des Kindes“ zu nennen. Auch meine „Tagungsreihe Kinderkram“ war letztlich ein Ergebnis der auf der Tagung geknüpften Kontakte. Darüber hinaus gab es viele Einzelkontakte beraterischer Art[16], vielfach auch seelsorgerlich. Unangenehm war, dass meine Akademie aus politischen Gründen meinte, ein Nachgespräch ansetzen zu müssen unter der Moderation der landeskirchlichen Frauenbeauftragten. Da hatte man den Bock zum Gärtner gemacht – oder muss ich das „gendern“? Gärtnerin ginge ja noch, aber der Bock?[17]

PS: Dank der Mithilfe des Verlags ist das Buch von Max Steller auch für Laien spannend und sehr gut lesbar. Zwei Passagen gefallen mir überhaupt nicht. Darauf werde ich noch eingehen. Und auf die Brisanz des Sachverhaltes im Zusammenhang mit ehemaligen Heimkindern und der Forderung nach Aufhebung der Verjährung.

[1] http://www.mittelbayerische.de/kultur-nachrichten/hysterie-verstellt-den-blick-aufs-wahre-21853-art1290931.html Dienstag, 6. Oktober 2015

[2] Manfred Lütz, Wer sich als Opfer ausgibt, hat oft schon gewonnen, FAZ, Freitag, 2. Oktober 2015, S. 12

[3] Max Steller: „Nichts als die Wahrheit“ – Warum jeder unschuldig verurteilt werden kann. Heyne Verlag, München 2015. 288 S., geb. 19,99 €.

[4] http://www.hrr-strafrecht.de/hrr/1/98/1-618-98.php3, Pressemitteilung: http://archiv.jura.uni-saarland.de/Entscheidungen/pressem99/BGH/strafrecht/glaubhft.html

[5] Montessori-Prozess: https://de.wikipedia.org/wiki/Montessori-Prozess , Wormser Prozesse: https://de.wikipedia.org/wiki/Wormser_Prozesse , dazu Gisela Friedrichsen, Nachlese zu den legendären Wormser Missbrauchsprozessen, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-39523432.html, von Gisela Friedrichsen auch eine Fall-Beschreibung: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-7851222.html

[6] https://dierkschaefer.wordpress.com/2011/04/06/unheimlich/

[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Tilman_F%C3%BCrniss

[8] https://de.wikipedia.org/wiki/Zartbitter_%28Verein%29 

Nachtrag: Die Nennung von Zartbitter ist nicht falsch, allerdings war es nicht Zartbitter/Köln, sondern Zartbitter/Coesfeld. Zartbitter/Köln distanziert sich von Zartbitter/Coesfeld und den Methoden von Prof. Fürniss energisch. S. dazu meinen Artikel „Missbrauch mit dem Missbrauch?“ https://dierkschaefer.wordpress.com/2019/08/12/missbrauch-mit-dem-missbrauch/ Dort gehe ich auf den Mailwechsel mit Frau Enders von Zartbitter/Köln ein, den sie unter dem Betreff: „Verleumderische Informationen über Zartbitter“ begonnen hat.

[9] https://de.wikipedia.org/wiki/Wildwasser_%28Verein%29

[10] http://www.inhr.net/artikel/puppenspiele-fuer-missbrauchs-aufdeckung-sehr-bedenklich

[11] https://de.wikipedia.org/wiki/Missbrauch_mit_dem_Missbrauch. Der Autor des gleichnamigen Buches referierte auf der Tagung „seinen Fall“.

[12] Wormser Prozesse, vorangegangen war der Montessori-Prozess. S. Anmerkung 5. Noch gab es allerdings nicht das Urteil des Bundesgerichtshofs, s. Anmerkung 4, das ausführlich nicht nur auf untaugliche Testverfahren einging, sondern auch auf das Thema Suggestion.

[13] Thomas Alteck, Mißbrauch des Mißbrauchs. Neu, aber auch vergriffen unter dem Titel: Unsere Kinder siehst DU nicht! – Die Falldarstellung auf der Webseite von Thomas Alteck (Pseudonym) http://www.alteck.de/alteck_show.cfm?CFID=cc708de0-7f56-4d81-b3bc-996e487728e4&CFTOKEN=0&xx=start_beschluss.cfm ist erhellend und in Grundzügen leider typisch für manche Missbrauchsvorwürfe. Manche Fälle gehen „besser“ aus. Aber „ich habe die (Er-)lebenszeit mit meiner Tochter verloren“, so ein Vater, dessen Tochter sich nach ihrer Pubertät aus der psychischen Umklammerung ihrer Mutter befreien konnte.

[14] Einen ähnlichen Fall konnte ich später begleiten. Erst ein Ortstermin brachte Klarheit. Der Erstgutachter hatte sich auf Aussagen verlassen und Glaubhaftigkeit attestiert: http://www.zeit.de/2003/26/Verdacht. Der Sozialarbeiter hatte das Versagen des Jugendamtes in diesem Fall öffentlich gemacht und wurde versetzt.

[15] Ein Abstract ist zu finden unter http://www.hugendubel.de/de/buch/laura_dahm-sexueller_missbrauch_der_missbrauch_mit_dem_missbrauch-6781372-produkt-details.html

[16] z.B. Anmerkung 13

[17] Leider muss ich aus datenschutzrechtlichen Gründen auf die Nennung des Familiennamens der Dame verzichten. In diesem Zusammenhang trüge er sehr zur Belustigung bei.