Wir Insider wundern uns
„Die Geschichte der Heimkindheiten endlich konsequent aufarbeiten!“ fordert die „Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs zur Situation Betroffener der Heimerziehung in der Bundesrepublik und der DDR“[1], im Folgenden Rörigkommission genannt.
Nanu? Hat Frau Vollmer nicht am „Runden Tisch Heimerziehung“ die Aufarbeitung längst besorgt? So richtig begann es 2006 mit dem Buch „Schläge im Namen des Herrn“ [2]. 2008 wurde der Runde Tisch eingerichtet[3], ich selber habe dort bei der „2. Anhörung“ am 2. April 2009 referiert[4] und Verfahrensvorschläge vorgestellt.[5] Mein Blog hat sich in der Folgezeit hauptsächlich mit den Heimkindern beschäftigt, so auch andere Plattformen im Netz.[6] In der Folge begannen manche Heime ihre Vergangenheit in umfangreichen seriösen Studien aufarbeiten zu lassen. Hier seien nur zwei der vielen Publikationen von Hans-Walter Schmuhl und Ulrike Winkler genannt[7]. Dazu kommen noch die Berichte über die Ergebnisse des Runden Tisches von Prof. Kappeler, ein überaus kompetenter Fachmann, der vom Runden Tisch wohlweislich ausgegrenzt wurde.[8]
Was will die Kommission mehr?
Kann sein, dass auch sie mit den Ergebnissen des Runden Tisches nicht zufrieden ist. Da werden ihr viele, so auch ich, beipflichten. Der Runde Tisch hatte zwar auch ein paar wissenschaftliche Arbeiten in Auftrag gegeben, doch es handelte sich bei dem Runden Tisch um einen von Beginn an eingefädelten Betrug.[9] Dort wurden die ehemaligen Heimkinder gekonnt von Antje Vollmer über den Tisch gezogen.[10] In quasi mafiöser Verbindung konnten Staat und Kirchen das für sie Schlimmste verhindern: Eine echte Entschädigung und eine Anerkennung der Arbeit der Kinder in Fabriken und Landwirtschaft als Zwangsarbeit. Medikamententests an Kindern kamen nicht zur Sprache, für Säuglingsheime, Behinderteneinrichtungen und psychiatrische Unterbringungen zeigte man sich nicht zuständig. Durch ganz andere Problemlösungen im Ausland, zb gerichtliche Untersuchungsausschüsse ließ man sich nicht irritieren. Die Rechtsnachfolger der Misshandler traten in die Fußstapfen der Täter. Es hätte eine Lösung gegeben: Der Staat (die Länder und ihre Jugendämter) übernehmen die Verantwortung, zahlen Entschädigungen und refinanzieren sich bei den kirchlichen Einrichtungen. Hätte – aber genau das wollte man nicht.[11]
Wenn die Rörigkommission diese Fälle, ergänzt durch die hinzugekommenen Missbrauchsfälle, die damals kaum Thema waren, neu aufrollen will, muss sie die Erfahrungen der Heimkinder berücksichtigen: all die Untersuchungen haben für sie nichts gebracht. Ihre Berichte waren nur das Rohmaterial für Wissenschaftler, die damit ihr Geld verdienten und ihr Karriere beflügelten. Gewiss, sie gaben den Opfern Anerkennung, ihre Ergebnisse riefen bei den Rechtsnachfolgern „Betroffenheitsgestammel“[12] hervor, doch die waren damit glimpflich davongekommen und die Heimkinder fühlten sich abermals missbraucht. Wenn Herr Rörig mit seiner Kommission die Lage dieser Gruppe nachhaltig verbessern will, ist er herzlich willkommen. Das Beweismaterial liegt vor. Neue Untersuchungen sind unerwünscht. Sie würden nur als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme gesehen. Auch schon lange fordern die Heimkinder für sich andere Lösungen als Alters- oder Pflegeheime. Alles längst bekannt.[13]
Es mag sein, dass die Kommission vornehmlich die Missbrauchsfälle sieht, weil sich bei ihr dieser Personenkreis gemeldet hat, der zuvor nicht so sehr im Blickpunkt stand. Das Meldeaufkommen nach Bekanntwerden der Missbrauchsfälle im Piusheim macht deutlich, dass dieser Bereich noch ein großes Dunkelfeld bergen dürfte. Ich weiß, dass wir in nächster Zeit noch einiges über klerikale Pädokriminalität hören werden einschließlich der wirtschaftlichen Nutzung der Missbrauchsopfer. Das wird noch spannend. Aber …
Aber das interessiert die Öffentlichkeit nur vorübergehend. Die Heimkinder fanden sogar persönliche Beachtung in ihrem jeweiligen Lokalblatt, das sich die Gelegenheit nicht entgehen ließ, Opfer aus der näheren Umgebung präsentieren zu können. Es ist den Medien nicht vorzuwerfen, dass sie immer eine neue Sau durch ihre Blätter jagen müssen, denn der Skandal von heute verdrängt den von gestern. Die Leute wollen im Grunde nichts wissen, sondern nur unterhalten werden – und das ist der eigentliche Skandal.
Wenn die Rörigkommission einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss mit all den erforderlichen Vollmachten durchsetzt, wenn diese Untersuchungen die Staatsanwaltschaften nötigen, die einschlägigen Archivakten in Jugendämtern, Kirchen, Klöstern und Jugendhilfeeinrichtungen zu beschlagnahmen, und das unabhängig von der Verjährungsfrage[14], dann dürfte sie auch Unterstützung von den Opfern erwarten.
Kurz zur Verjährung: Sie ist eigentlich dazu gedacht, Rechtsfrieden zu schaffen für Uraltfälle. Eine nicht befriedigende aber letztlich befriedende Lösung. Doch hier hilft sie nicht. Die Verbrechen an den ehemaligen Heimkindern, den Misshandelten und den Missbrauchten stellen das wohl größte Verbrechen in der bundesrepublikanischen Geschichte dar. Prof. Kappeler: „Mitten im Kern des eigenen Gesellschaftssystems geschieht solches Unrecht in unvorstellbaren Ausmaß und sämtliche – verfassungsrechtlich, staatsrechtlich, verwaltungsrechtlich! – vorhandenen Kontrollsysteme versagen; nicht zufällig!“[15] Die Zahl der Opfer ist kaum überschaubar, die „Qualität“ der Verbrechen reicht von deutlicher Benachteiligung und Ausbeutung bis hin zu Monstrositäten grundlegender Menschenrechtsverletzungen Hier kann nicht gesagt werden: „Schluss jetzt, Schwamm drüber.“ Wir werden – Verjährung hin oder her – keinen Rechtsfrieden bekommen, allenfalls Friedhofsruhe, wenn die Opfer gestorben sind – doch ihre Geschichten leben weiter.
Hinzu kommt, dass in vielen Fällen der Rechtsweg von Beginn an schuldhaft versperrt blieb: Wer sich über seine Misshandlungen beklagte, (sei es in der Einrichtung oder bei der Polizei, den Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft,) wurde nicht nur abgewimmelt, sondern zuweilen auch noch geprügelt, weil er „Lügen“ erzähle. Wer, mündig geworden, auspackte, wurde bedroht. Beispielhaft sei hier Alexander Markus Homes genannt. Sein Buch „Prügel vom lieben Gott“ erschien erstmals 1981, also vor inzwischen 39 Jahren. Und die Kirche versuchte, ihn mundtot zu machen.[16] 1999 erschien das Buch MUNDTOT.[17]von Jürgen Schubert, ein weiterer Pionier. Schließlich ist noch an Paul Brune zu erinnern. Es geht dabei nicht um das Unrecht während der Nazi-Zeit (er wurde in eine der Tötungsstationen der Kindereuthanasie eingewiesen), sondern um das in der Bundesrepublik.[18]
Mich würde auch interessieren, mit welchen Methoden die Organisatoren der Kinderbordell-Einrichtungen gearbeitet haben, um die Heimkinder für den Sexmarkt gefügig zu machen und wer abkassiert hat.
Aber: welche Bedeutung haben Opfer angesichts der mächtigeren Interessenvertreter?
Es ist gut, sehr geehrter Herr Rörig, dass Sie sich nun über die Missbrauchsfälle hinaus auf breiterer Front eingeschaltet haben. Schließlich umfasst das Spektrum missbräuchlicher Behandlung von Schutzbefohlenen weitaus mehr als nur den sexuellen Bereich; die menschliche Bosheit ist bodenlos.[19]
Wir sind nun einer neuen(?) Form des sexuellen Missbrauchs auf der Spur, der Bordellisierung von Heimkindern. Ansätze dazu gab es bereits in der Korntal-Sache; die konnten aber m.W. nicht ausreichend belegt werden. Nun hören wir von ähnlichen Vorwürfen aus Mallorca und aus dem Piusstift. Es wäre ein Fortschritt, wenn Sie in Sachen Piusstift Beweismaterial beschaffen könnten.
Eine andere Investigativgruppe ist mit ihren Recherchen schon weiter. Eine erste fundierte Anzeige läuft bereits. Doch wie Sie wissen sind Staatsanwälte weisungsgebunden und die Schutzlobby der Täter ist mächtig. Haben Sie einen Draht „nach oben“?
Wenn dieser Kinderbordell-Fall demnächst, wie ich vermute, in die Medien kommt, müssten Sie mit Ihrem Material bereitstehen. Denn für „Kinderkram“ ist die Aufmerksamkeitsspanne des Publikums wie auch die der Politiker nicht so groß wie für Corona. Dann sollten Sie in Ihrer Funktion dafür sorgen können, dass ein Staatsanwalt mit seinem Team direkt ins Archiv marschiert, bevor dort die Akten vernichtet werden. Wie weit geht Ihre rechtliche Kompetenz? Sind Sie befugt, Klage zu erheben und werden Sie es tun?
Sollte Ihnen bei der Sichtung des Materials, das ich Ihnen jetzt präsentiert habe, der Kopf schwirren, empfehle ich zur Entspannung ein Kapitel aus den Aufzeichnungen des Heimkindes Dieter Schulz. „Von Auerbachs Keller in den Venusberg“.[20]
Fußnoten
[1] Stellungnahme vom 23. April 2020,https://www.aufarbeitungskommission.de/meldung-23-04-2020-stellungnahme-aufarbeitung-heimkindheiten/
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Schl%C3%A4ge_im_Namen_des_Herrn.Heimkinder waren vorher schon einmal Thema gewesen. https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/02/02/wenn-der-richter-das-gelesen-haette-dann-haetten-sie-keine-zehn-jahre-gekriegt-x/ Fußnote 1.
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Runder_Tisch_Heimerziehung_in_den_50er_und_60er_Jahren
[4] https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2009/04/runder-tisch-bericht-ds.pdf
[5] https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2009/04/verfahrensvorschlage-rt.pdf
[6] Beispielhaft sei hier nur die umfangreiche Öffentlichkeitsarbeit der Freien Arbeitsgruppe JHH aus Volmarstein genannt. http://www.gewalt-im-jhh.de/Grundung_der_Freien_Arbeitsgru/grundung_der_freien_arbeitsgru.html Nicht zu vergessen die stupende Aktivität von Martin Mitchell in Australien, ehemaliger Zwangsarbeiter im Moor von Freistatt bei Bethel. https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2017/01/freistatt_kappeler.pdf
[7] Rezensionen: Himmelsthür:https://dierkschaefer.files.wordpress.com/2015/01/rezension-himmelsthc3bcr.pdf und Volmarstein: https://dierkschaefer.wordpress.com/2010/03/21/im-herzen-der-finsternis/
[8] http://gewalt-im-jhh.de/hp2/Kritischer_Ruckblick_2011.pdf Interessant ist, dass hier die Autoren eine mythisch-literarische Sprache verwenden: „Sie schreiben: »Öffnete man in den 1950er und 1960er Jahren die Tür zum Johanna-Helenen-Heim, so sah man in einen Abgrund der Willkür, der Zerstörung, der Gewalt, der Angst und der Einsamkeit. Man blickte in das ‚Herz der Finsternis‘« So heißt der Roman von Joseph Conrad, in dem er eine (fiktive) Expedition zum Oberlauf des Kongo, der Privatkolonie des belgischen Königs Leopold II beschreibt. Der „Freistaat Kongo“ stand außerhalb jeglichen Völkerrechts. Seine Bevölkerung wurde millionenfach zur Arbeit gezwungen, verstümmelt, versklavt, getötet. https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/6864476092/in/photolist-bss87h-bsAdtW-bstBdj-bFv4Nz-bFoukV-bFmU1D-brHiv7-bFmHZK-bFn3fv-bFn4MD-bss62f-bsAbz7-bsAeA5-bstGNY-bsAd8N-bstK9w-bFoDuR-bFmSHB-bFmPwD-bFmMWB/ Das Ganze unter dem „Deckmantel eines wortreichen humanitären Missionseifers“.
Auch ich griff – eher unbewusst – auf solch ein mythisch-literarisches Vorbild zurück, als ich meinem geplanten Essay über die Klerikale Pädokriminalität dieses Motto voranstellte:
„Willkommen im Reich des Bösen!
Lasst, die ihr reinkommt, alle Hoffnung fahren!
Ach so, nur zu Besuch …
Auch Kinder dabei? Nein? Schade.“
Hier regiert die Phantasie von de Sade, der nicht nur wegen seiner Phantasien viele Jahre seines Lebens eingekerkert war. https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/49821171961/in/dateposted-public/ Ein Schmankerl: de Sades Schädel von Dr. Ramon nach den Methoden der Phrenologie untersucht: „Sades Schädel glich in jeder Hinsicht dem eines Kirchenvaters.“ https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46407841.html
[9] https://dierkschaefer.wordpress.com/2015/01/03/der-runde-tisch-heimerziehung-ein-von-beginn-an-eingefadelter-betrug/
[10] https://dierkschaefer.wordpress.com/2011/01/31/der-runde-tisch-heimkinder-und-der-erfolg-der-politikerin-dr-antje-vollmer/
[11] Photo: https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/8409300786/in/photostream/
[12] Helmut Jacob, Volmarstein, prägte diesen zutreffenden Begriff.
[13] https://dierkschaefer.wordpress.com/2010/03/02/noch-einmal-ins-heim-von-den-letzten-dingen/
https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/07/14/wer-will-ins-heim-ins-altenheim-vom-stephansstift/
[14] https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/03/28/schindluder-mit-dem-heiligen/
[15] http://heimkinderopfer.blogspot.com/
[16] https://dierkschaefer.wordpress.com/2012/09/06/alexander-homes-ein-pionier/
https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/11/27/prugel-vom-lieben-gott-neu-aufgelegt-2/
https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/11/06/prugel-vom-lieben-gott-neu-aufgelegt/ dort: „Hintergrund“
https://dierkschaefer.wordpress.com/2013/09/22/man-hat-uns-die-religion-mit-prugeln-implantiert/
https://dierkschaefer.wordpress.com/2013/07/15/das-system-schlug-mit-wucht-zuruck/
Hier ein sehr erhellender Auszug aus dem Buch von Homes: https://dierkschaefer.wordpress.com/2013/07/13/wir-haben-den-kindern-immer-wieder-gesagt-dass-wir-sie-im-namen-von-jesus-christus-erziehen/
[17] http://www.heimkinder-ueberlebende.org/Nachkriegsbiographie_MUNDTOT_bei_Aachener_Juergen_Schubert.html
https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/04/06/merkwurdig-die-vinzentinerinnen/
[18] https://dierkschaefer.wordpress.com/2010/12/26/der-fall-paul-brune/
https://www.lernzeit.de/lebensunwert-der-weg-des-paul-brune/
[19] 1 Weihnachtsfest mit 2 Diakonissen, https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/12/21/1-weihnachtsfest-mit-2-diakonissen/
1 Weihnachtsfest mit 2 Diakonissen
Marianne wurde »um Mitternacht in einer Straßenbahn geboren. Man brachte sie in das Aachener Klinikum. „Im Taufregister stand, dass ich am 19.03.1950 notgetauft wurde.“« »Kurz nach ihrem ersten Geburtstag wurde sie in ein Waisenhaus und im Januar 1956 ins Johanna-Helenen-Heim der Orthopädischen Anstalten Volmarstein, bei Hagen, verlegt.«
Sie war „immer vom Schicksal gebeutelt,“ sagt ihre Schulfreundin Roswitha; sie hatte salopp gesagt die Arschkarte gezogen, von Beginn an: »Meist stand sie in der Ecke links neben der Schultafel. Stockhiebe waren ihr tägliches Brot. Mittags der Schule entronnen, wurde sie von den frommen Schwestern malträtiert. … Zwangsarbeiten schon mit sieben bis zehn Jahren. Fünfzehn Nachttöpfchen musste sie zusammenschütten und zum Klo tragen. Ihr dabei besudeltes Kleidchen wurde nur alle vierzehn Tage ausgewechselt. Mit elf Jahren säuberte sie eine menstruierende junge Frau. „Jedesmal, wenn ich C. gewaschen und fertig angezogen hatte, spuckte sie mir zum Dank dafür ins Gesicht.“«
Und nun kam wieder einmal Weihnachten. Frohe Erwartungen hatte sie nicht.
»R. und ich waren die einzigen Kinder, die nicht nach Hause fahren konnten. Schwester E. kam in unseren Schlafsaal und brachte uns je ein Paket. Ich hatte noch nie ein Paket bekommen. Eine Schulklasse hatte für uns Kinder gesammelt und die Sachen geschickt. So richtig freuen konnte ich mich nicht darüber. Wenn etwas Brauchbares für die Schwestern dabei wäre, würden sie uns ja doch wieder alles abnehmen.
Doch, oh Wunder, Schwester E. verließ den Schlafsaal. Ich fing an, mein Paket ganz vorsichtig auszupacken. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Kinderbücher. Neben den Büchern war etwas Längliches in ein Geschenkpapier eingewickelt. Ich nahm es und packte es ganz vorsichtig aus. Es war eine gebrauchte Puppe. Der Kopf war aus Porzellan. An der Stirn hatte sie einen kleinen Sprung. Außerdem hatte sie einen lustigen Pferdeschwanz. Der Körper war ganz aus Stoff. Sie war ungefähr 35 cm groß. An der Puppe war ein Zettel mit ihrem Namen befestigt. Sie hieß Beate und ich liebte sie sofort.
Um keinen Preis wollte ich die Puppe den Schwestern überlassen. Ich steckte sie unter meine Wolldecke an mein Fußende. R. war mit ihrem Paket so sehr beschäftigt, dass sie es gar nicht mitbekam. Ich tat dann so, als ob ich mich über die anderen Sachen sehr freute. Als Schwester E. zurückkam, packte sie die meisten Sachen wieder in den Karton und verschwand damit. Nicht einmal die schönen Bücher ließ sie mir.
Je näher der Abend kam, um so mehr freute ich mich auf meine Puppe. Als es dann so weit war, nahm ich sie in den Arm und schlief überglücklich mit ihr ein.
Morgens machte ich mein Bett ordentlich und legte die Puppe dann wieder unter die Wolldecke. Damit begann für mich eine kurze, glückliche Zeit im Johanna–Helenen–Heim. Ich freute mich darauf, mir abends die Puppe zu holen und sie dann ganz fest an mich zu drücken. Das ganze ging für eine gewisse Zeit gut.
Plötzlich, eines nachts, wurde der Schlafsaal hell erleuchtet. Beide Schwestern standen an meinem Bett. Sie befahlen mir, mich an mein Fußende zu stellen. Ich schaffte es nicht schnell genug, meine Puppe zu verstecken. Schwester E. schrie mich an und wollte wissen, woher ich die Puppe hätte. Als ich ihr von dem Weihnachtspäckchen erzählte, wurde sie noch wütender. Sie schrie mich an: „Du hast sie gestohlen und außerdem bist du viel zu alt für eine Puppe!!“ Ich war ungefähr 10 Jahre alt.
Sie nahm die Puppe, riss ihr den Kopf ab und schlug ihn so lange auf den Boden, bis er zerbrach. Es dauerte eine Weile, weil der Fußboden aus Holz war. Mit beiden Händen nahm sie die Beine und riss die Puppe in der Mitte durch.«
Selber längst im Ruhestand sollte Marianne „Mimerle“ als Ersatz für „Beate“ bekommen. Auch das stellte sich als eine dramatische Geschichte heraus, doch zum Glück mit gutem Ausgang.[1]
Helmut Jacob hat in seinem Blog über Marianne Behrs berichtet. Er schrieb 2012 einen Nachruf auf Marianne.[2] Es war ihm wichtig, dass die geschundenen Kinder und die Ereignisse nicht vergessen werden. Auf den Home-pages der Nachfolgeorganisationen wird vielfach die schändliche Vergangenheit versteckt oder gar getilgt.[3] Volmarstein ist eine Ausnahme. Dort wurde ein Neubau nach Marianne Behrs benannt und man kann nur hoffen, dass damit auch die Erinnerung an Marianne Behrs und ihr Schicksal in dieser Kinderhölle[4] an das jeweils neue Personal weitergegeben wird.
Nun ist Helmut Jacob vor kurzem selber gestorben[5]. Auch er soll unvergessen bleiben. Ich habe über seine Beisetzung berichtet. In seiner Traueranzeige wurde um Spenden für das „Marianne Behrs Haus der Stiftung Volmarstein gebeten.[6] Jede Spende hält die Erinnerung wach – und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.
Fußnoten
[1] http://helmutjacob.over-blog.de/article-wie-mimerle-zu-marianne-kam-kapitel-1-zerplatzte-traume-119658899.html und http://helmutjacob.over-blog.de/article-wie-mimerle-zu-marianne-kam-kapitel-2-mimerles-weg-zu-marianne-119683281.html
[2] Zitate: http://gewalt-im-jhh.de/Erinnerungen_MB/erinnerungen_mb.html
[3] https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/09/24/das-geheimnis-der-versoehnung-heisst/ und https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/09/27/das-geheimnis-der-erloesung-heisst-erinnerung/
[4] Hans-Walter Schmuhl und Ulrike Winkler, Gewalt in der Körperbehindertenhilfe, Das Johanna-Helenen-Heim in Volmarstein von 1947 bis 1967, Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 2010, Schriften des Instituts für Diakonie- und Sozialgeschichte an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel, Band 18, Rezension: https://dierkschaefer.wordpress.com/2010/03/21/im-herzen-der-finsternis/
[5] https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/10/18/helmut-jacob-ist-tot-ein-nachruf/
[6] https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/11/28/ein-nachruf-waere-angemessen-gewesen-doch-die-groesse-zur-demut-hatten-sie-nicht/
Helmut Jacob ist tot – Ein Nachruf
Er war ein unerschütterlicher Kämpfer für die Sache der ehemaligen Heimkinder – und er war selber eins. Doch trotz eigener Betroffenheit war er abgewogen in seinem Urteil und auch in den Verurteilungen. Das habe ich an ihm geschätzt und ich bin traurig, dass er so früh, mit 67 Jahren, an seinem Geburtstag, gestorben ist. Noch sechs Tage vor seinem Tod schrieb er einen Nachruf auf Lisa P., und beschrieb damit auch seinen Einsatz für sie.[1]
Gesehen habe ich ihn nie, ein- oder zweimal mit ihm telefoniert. Aber unser Mailkontakt war sehr rege. Hauptthema natürlich die ehemaligen Heimkinder, wie man damals mit ihnen umgegangen ist und wie sie von den Vertretern aus Staat, Kirchen und ihren Sozialeinrichtungen mit der willigen Hilfe von Frau Dr. Antje Vollmer, Pfarrerin, über den Runden Tisch gezogen wurden.
Die Stimme der geschlagenen Kinder, nannt ihn die Westfalenpost. Sein Leserbrief an die kirchliche Wochenzeitung „Unsere Kirche“ im Frühjahr 2006 hatte die Lawine los getreten. „Die Hölle von Volmarstein“ lag plötzlich nicht mehr im Verborgenen. »Helmut Jacob aus Wengern erinnerte an die wehrlosen Kinder, die in der damaligen Krüppelanstalt an Leib und Seele misshandelt worden waren. Übertriebene Fantasien eines Opfers, späte Rache oder einfach nur Nestbeschmutzung? Ein paar Jahre später bescheinigten zwei Historiker, dass es in der Hölle von Volmarstein noch schlimmer zugegangen war als von Helmut Jacob geschildert. Das Buch liegt vor, dutzende von Leidensberichten auch. Und doch geht der Kampf weiter, den die Freie Arbeitsgruppe Johanna-Helenen-Heim 2006 vor ziemlich genau zehn Jahren aufgenommen hat. … Helmut Jacob war selbst einer von denen, die in dem Heim von Diakonissen klein gemacht wurden. „Der Umfang der Gewalttätigkeiten reichte vom morgendlichen Blauschlagen kleiner Finger mit dem Krückstock bis dahin, dass die Kinder ihr eigenes Erbrechen essen mussten.“ Neben fünf äußerst gewalttätigen Schwestern „war der allerschlimmste Satan eine schwerstbehinderte Lehrerin, die mit ihrem orthopädischen Hilfsmittel, dem Krückstock, die Kinder manchmal bis zur Besinnungslosigkeit schlug.“«[2]
Erst spät konnte Helmut Jacob sich dazu durchringen, das Almosen zu akzeptieren, das von den Medien immer fälschlich „Entschädigung“ genannt wird. In unserem Urteil über die mafiöse Kumpanei von Staat und Kirchen waren wir uns einig. Doch aus der Kirche trat er erst aus, als auch sein Gemeindepfarrer sich als große Enttäuschung erwies. Trotz all dieser Erfahrungen verstand er sich als Christ[3] und hätte gern eine Kirche gehabt, die über „Betroffenheitsgestammel“ hinaus (seine Wortschöpfung) sich durch Taten wieder ehrlich macht. Doch niemand raffte sich auf, den ehemaligen Heimkindern die Angst zu nehmen, wieder in ein Heim, nun Alten- oder Pflegeheim zu kommen, sondern durch Assistenzleistungen in vertrauter und nicht fremdbestimmter Umgebung bleiben zu können.
Durch seinen frühen Tod blieb er davor bewahrt.
Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung. Als die erste Homepage der Volmarsteiner Heimkinder[4] „voll“ war, wies ein Eintrag auf die zweite hin[5] (inzwischen sind es drei[6]): »Diese „alte” Homepage bleibt im Netz. Sie ist ein Dokument der Zeit. Sie dient der Forschung und Mahnung. Freie Arbeitsgruppe JHH 2006« Die Daten der ersten Homepage wurden der Veröffentlichung über Volmarstein[7] als CD beigelegt. Helmut Jacob wollte nicht, dass die Erinnerung an die Demütigungen, Misshandlungen und den sexuellen Missbrauch verschwinden, auch nicht die Verweigerung von Bildung. Seine Texte im Internet sind das würdige Denkmal für diesen unerschrockenen, einsatzbereiten Menschen, für Helmut Jacob.
Fußnoten
[1] http://jacobsmeinung.over-blog.com/2017/10/lisa-p.ist-tot-mein-personlicher-nachruf.html
[2] https://www.wp.de/staedte/herdecke-wetter/stimme-der-geschlagenen-kinder-aus-volmarstein-id11882715.html
[3] So bat er mich regelmäßig um einen Weihnachtsgruß an seine Volmarsteiner Gruppe. Hier der von 2016: https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/12/08/weihnachten-eine-illusion-ein-weihnachtsgruss-fuer-kirchengeschaedigte/
[4] http://www.gewalt-im-jhh.de/
[5] http://www.gewalt-im-jhh.de/hp2/index.html
[6] http://www.gewalt-im-jhh.de/hp3/index.html
[7] Rezension: https://dierkschaefer.wordpress.com/2010/03/21/im-herzen-der-finsternis/
Shit happens – but sometimes it hits the fan.
Post aus Volmarstein. Nein, falsch geraten. Es ist weder die Antwort auf mein Mail vom 11. Februar 2014[1] und auch nicht die auf mein Mail vom 21. November 2013[2]. Es ist ein simpler Bettelbrief, nach dem Motto: Hat er einmal gespendet, macht er’s vielleicht noch mal.
Und wieso shit happens? Das geht so: Wenn man irgendwo, nicht nur bei Volmarsteins, gespendet hat, bekommt man ein Dankesschreiben, in Volmarstein mit Konterfei und Unterschrift des Chefs. Soweit o.k. Natürlich hat er normalerweise weder die Spende noch sein Dankeschön selber zu Gesicht bekommen, das macht die Spendenabteilung, und das ist auch o.k. Doch man landet auch in der Spenderdatei und bekommt Bettelbriefe. Das ist verständlich, aber nicht o.k., denn es ist belästigend.
Peinlich wird die Angelegenheit, wenn der Herr Anstaltsleiter auf Mails nicht antwortet, die nichts mit Spenden zu tun haben, sondern Fragen nach der korrekten Geschäftsführung stellen. So ein shit happens, wenn man nicht direkt über Mail erreichbar ist, sich abschottet und Mails nur über info@….de oder praesidialbüro@….de laufen. So ein Filter ist in vielen Fällen ganz praktisch, schließlich kann sich der Chef nicht um jeden Shit selber kümmern. Dann gibt es drei Möglichkeiten: 1. Der Chef wird knapp informiert und sagt ebenso knapp, welchen Duktus die Antwort haben soll (Herr XY hat mich gebeten, Ihnen auf Ihr Schreiben vom x.x. zu antworten) oder 2. er sagt no answer! oder 3. das Büro läßt das Schreiben kraft eigener Machtvollkommenheit unbearbeitet.
Wie dem auch sei: So verprellt man Spender, die mehr wollen, als nur eine Einrichtung zu unterstützen, die den Anschein erweckt, auf dem hohen Roß zu sitzen oder von einem Chef geleitet zu werden, der seinen Laden wohl nicht im Griff hat.
Ich werde ihm seinen Bettelbrief zurückschicken, per Einschreiben.
Antwort nur bei #cash
Sehr geehrter Herr Kollege Dittrich,
mein Vortragshonorar in Sachen ehemaliger Heimkinder betrug 500,00 €. Das wollte ich nicht für mich vereinnahmen und hatte es Ihrer Stiftung als Spende für das Marianne-Behrs-Haus überwiesen. Als mein Finanzamt eine formgerechte Spendenquittung anforderte, erfuhren Sie die Adresse des Spenders und Sie bedankten sich schriftlich im üblichen Rahmen.
Nicht im üblichen Rahmen war meine Frage per Mail vom 19.11.13 an Sie, ob und in welcher Höhe die Stiftung Volmarstein in den Heimkinderfonds eingezahlt habe und was aus dem Geld geworden sei, da Kinder aus Behindertenheimen erklärtermaßen nicht anspruchsberechtigt sind. Aus anderen Quellen erfuhr ich, daß man sich kirchlicherseits bemüht, auch für solche Kinder eine Lösung zu finden – und die Kirchen erweisen sich als Gottes Mühlen, denn sie mahlen langsam und zunehmend mehr ist der Tod Ihrer ehemaligen Heimkinder schneller als das Mahlwerk der Kirchen. Doch das stammt aus anderen Quellen.
Von Ihnen, sehr geehrter Herr Kollege, kam keine Antwort. Was soll ich davon halten, daß Sie nur bei cash antworten (lassen)?
Mit freundlichem Gruß
Dierk Schäfer
Freibadweg 35
73087 Bad Boll
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