Dierk Schaefers Blog

Ohne Religionsgeschichte wird es nicht gehen

Posted in Geschichte, Religion, Uncategorized by dierkschaefer on 6. Januar 2016

»Der Geschichtsunterricht wird den religionskulturellen Fragen der Gegenwart nicht gerecht«[1].

»Religion ist in Politik und Wis­senschaft wieder zum Thema geworden. Während in den Kul­turwissenschaften über die „Wiederkehr der Götter“ oder die „Rück­kehr der Religionen“ debattiert wird, streitet die Politik darüber, ob der Islam zu Europa gehört. Religionskulturelle und religionsgeschichtliche Fragen sind berührt, wenn die Propagandisten des „christlichen Abendlandes“ ihre Parolen in die Welt posaunen, ohne viel davon zu verstehen. Die angemes­sene Behand­lung solcher und ähnlicher Fragen müsste Aufgabe des Religions- und Ge­schichts­unter­richts sein. Dem kommen beide Fächer aber nicht in ausreichen­der Weise nach.«

Gründe dafür: »Zum Teil ist es die Enthistorisierung der religions­bildenden Fächer, besonders des evangeli­schen Religionsunterrichts. Im Ge­schichtsunterricht hat sich das Thema Re­ligion weitestgehend verflüchtigt. Das hängt mit der Entwicklung einer Geschichtsdidaktik zusammen, die sich in den siebziger Jahren einerseits der Politik­didaktik, andererseits einer Auffassung der Geschichtswissenschaft als histori­scher Sozialwissenschaft verpflichtet fühl­te. Religion erschien unter dem Eindruck fortschreitender Säkularisierung als ein absterbendes, zudem ideologiebehaftetes historisches Phänomen, das der emanzipatorischen Durchsetzung von Vernunft und politischer Mündigkeit zuwiderlief.«

»Die Vernachlässigung des Religiösen wird nicht nur einer weithin veränderten Forschungs­lage, sondern auch den durch Migration und Multikulturalität verän­derten Bedingungen in unseren Klassen­zimmern nicht gerecht. Hier lernen Kin­der und Jugendliche aus weithin entkirchlichten Elternhäusern mit ihren Altersge­nossen aus religiös gebundenen Zuwan­dererfamilien zusammen.«

Der Autor lehrt Neuere und Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte an der TU Dresden. Er fordert für den Geschichtsunterricht, er müsse „die Religion als Potenz und in ihrer ganzen Vielfalt“ wahrnehmen und schreibt von der erschreckenden Unkenntnis der Schüler über „grundlegende religionsgeschichtliche Sachverhalte“. Ihm ist nicht nur voll zuzu­stim­men, sondern seine Forderung muss ausgeweitet werden. Die Unwissenheit in religiösen Sachverhalten finden wir nicht nur bei den Schülern, sondern auch im Lehrerzimmer und damit wohl generell bei den Gebildeteten. Religion gilt als Privatsache, damit eher als Hobby. Und selbst die „religiös musikalischen“ Zeitgenossen sind häufig in Religionsangelegenheiten nicht sonderlich gebildet.

Nun scheint mir der allgemeine Bildungsanspruch auch in anderen Schulfächern deutlich reduziert, nicht nur in Fragen ihrer religionsbezogenen Inhalte. Doch wie will man die europäische Geistes-, Kunst- und Kulturgeschichte auf ihrem historischen Hintergrund verstehen, wenn nicht auch ihre sehr häufig religiöse Thematik, oder gar die Motivation fachkundig einbezogen werden. Nicht nur Geschichtslehrer, lehnen es ab, „Religionsunter­richt zu machen“, auch Musik- und Kunstlehrer wollen und können es in der Regel nicht, zumeist fehlen ihnen wohl auch die Kenntnisse. So haben wir die Situation, die Harm de Blij in The Power of Place so beschreibt: »Diese Anführer [gemeint sind radikale Islamisten] übertragen höchst unflexible und rückwärtsgewandte Eigenschaften ihres Glaubens in ein Europa, das immer noch die Narben aus Glaubenskriegen von vor einem halben Jahrtausend trägt. Das ist ein Kampf grundsätzlicher Gegensätze in einer Gegend, deren Bevölkerungszahlen schrumpfen, und viele durch Überlegungen den Glauben an den Glauben verloren haben – und nun werden sie mit der Vitalität – demographisch wie religiös – eines unendlichen Stroms von Einwanderern mit einem unerschütterlichen Glauben an den Glauben konfrontiert.«

Es sind nicht nur „Narben“ aus vergangenen Glaubenskriegen, nicht nur „Überlegungen“, die den Glauben an den Glauben verlieren ließen, es ist auch die Unkenntnis der einflussreichen Rolle von Religion, positiv wie negativ, in unserer Geistes-, Kultur- und Kriegsgeschichte. Die Lehrer der einschlägigen Schulfächer sind zu bedauern. Sie müssten nicht nur die euro­päische Religionsgeschichte „nachlernen“, sondern sich zumindest auch um die des Islam bemühen. Das dürfte zudem mehr sein, als es sich Multikulti-Vertreter erträumen. Es geht dabei aber nicht nur um Bildung, sondern um das Verständnis unserer Gegenwart. Der Autor schreibt in diesem Zusammenhang: »Außerdem müsste die Religionsge­schichte im Konzept einer Globalge­schichte stärker konturiert werden. Jür­gen Osterhammel hat in seinem Buch „Die Verwandlung der Welt“ der Religi­on eine zentrale Bedeutung zugemessen. Und es gibt nach Osterhammel gute Gründe dafür, die Religion in den Mittel­punkt einer Weltgeschichte des 19. Jahr­hunderts zu stellen.« Somit »stellen sich Fragen, wie globalge­schichtliche Aspekte in den Unterricht zu integrieren sind. Folgt man der Geschichtsdidaktikerin Susanne Popp, scheint es sinnvoll, für eine reflektierte Beziehungsgeschichte zu plädieren, die es ermöglicht, „Weltzusammenhänge“ zu erkennen.« Der Autor plädiert für »eine reflektierte, nach Möglichkeit fä­cherverbindende Beschäftigung mit ganz unterschiedlichen Traditionen der euro­päischen Religionsgeschichte, mit Juden­tum und Christentum, Islam und moder­ner Religionslosigkeit.«

Wer die Debatten zum Thema Religion im Netz verfolgt, wird unschwer die weitgehende Unkenntnis solcher Zusammenhänge erkennen. Ich habe den Eindruck, viele möchten das Thema Religion als Irrtum und Fehlentwicklung ganz einfach aus dem Geschichtsablauf herausschneiden. Das geht aber nicht. Religion zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte aller Kulturen. Wer ihn herauslösen will, zerstört alles.[2]

[1] Alle Zitate, soweit nicht anders vermerkt aus: Frank-Michael Kuhlemann, Ohne Religionsgeschichte wird es nicht gehen, FAZ-print, 31.12.2015

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Faden#Roter_Faden: Unter einem roten Faden versteht man ein Grundmotiv, einen leitenden Gedanken, einen Weg oder auch eine Richtlinie. „Etwas zieht sich wie ein roter Faden durch etwas“ bedeutet beispielsweise, dass man darin eine durchgehende Struktur oder ein Ziel erkennen kann. Der Begriff wird seit Goethes Wahlverwandtschaften im übertragenen Sinne verwendet. In den einleitenden Bemerkungen zu einem ersten Auszug aus Ottiliens Tagebuch, beschreibt er den Kennfaden der britischen Marine: „Sämtliche Tauwerke der königlichen Flotte sind dergestalt gesponnen, dass ein roter Faden durch das Ganze durchgeht, den man nicht herauswinden kann, ohne alles aufzulösen, und woran auch die kleinsten Stücke kenntlich sind, dass sie der Krone gehören.