Die Sorgen von Kardinal Brandmüller
Mit Kardinal Brandmüller beschäftigte sich der letzte Beitrag dieses Blogs[1]. Nun erreicht mich der kluge Essay „Fakten contra Brandmüller“ von Philipp Greifenstein[2]. Ich habe dazu einen Kommentar geschrieben:
Herzlichen Dank für diese profunde Analyse der Aussagen Brandmüllers. Ich nehme mir die Freiheit, diesen Artikel im Original auf meinen Blog zu übernehmen, in Anknüpfung an https://dierkschaefer.wordpress.com/2019/01/06/heuchelei-wirft-der-kardinal-der-gesellschaft-vor/ . Im Original heißt auch: mit Übernahme der fürchterlichen *-Schreibung.
Hier gebe ich nun den Essay im Original wieder:
Fakten contra Brandmüller
Von Philipp Greifenstein, 10. Januar 2019, 14-17 Minuten
Die katholische Nachrichtenagentur Catholic News Agency (CNA deutsch) hat mit Kardinal Walter Brandmüller gesprochen. Das Presseunternehmen, das zum amerikanischen EWTN-Konzern gehört, spezialisiert sich auf konservative Stimmen aus der röm.-kath. Kirche.
Kardinal Brandmüller ist einer von vier Kardinälen, die bereits seit längerer Zeit in Opposition zu Papst Franziskus und insbesondere zur „verweltlichten“ Kirche in Deutschland agieren. Gemeinsam mit den inzwischen verstorbenen Kardinälen Meisner und Caffarra sowie Kardinal Raymond Burke, der als Gegenspieler des Papstes auftritt, hat er die sog. Dubia gegen die apostolische Exhortation Amoris Laetitia verfasst.
Immer wieder suchen die Kardinäle die Öffentlichkeit, um gegen die „Modernisierung“ der Kirche und die Agenda Papst Franziskus‘ aufzutreten. Kräftig unterstützt werden sie dabei von einem Netzwerk erz-konservativer katholischer Medien, die auch an der Veröffentlichtung des Viganò-Briefes mitwirkten. Im Zentrum dieser Allianz steht der US-amerikanische Kabelsender EWTN-News mit seinen zahlreichen Medienbeteiligungen in den USA und weltweit.
Es ist daher wenig verwunderlich, dass der Chefredakteur der deutschen Außenstelle von CNA, Anian Christoph Wimmer, im Interview darauf verzichtet, die zahlreichen Behauptungen Brandmüllers kritisch zu hinterfragen. Das holen wir hier mal nach:
1. Am Missbrauch ist die „Sexualisierung“ der Gesellschaft schuld
Gleich zu Beginn des Interviews relativiert Brandmüller den tausendfachen Missbrauch, indem er ihn zum Zeichen der „Verweltlichung“ der Kirche erklärt. Der Missbrauch sei „alles andere als ein spezifisch katholisches Problem“. Natürlich findet sexueller Missbrauch auch in anderen Kontexten statt. Die spezifisch katholische Problematik des Missbrauchs – seine systemischen Ursachen – werden jedoch von Brandmüller geleugnet.
Anders als die MHG-Studie der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) sieht Brandmüller den Missbrauch als ein Phänomen, das aus einer sexbesessenen Kultur in die katholische Kirche hineinschwappt:
„Die jahrzehntelange Sexualisierung der Gesellschaft – man denke an Oswald Kolle und Beate Uhse – ist auch an den Katholiken und ihrem kirchlichen Personal nicht spurlos vorübergegangen. Diese Feststellung mag die Abscheulichkeit des Vorgefallenen erklären helfen, keinesfalls jedoch entschuldigen!“
Brandmüllers Einlassung, bei seinen Argumenten handelte es sich keineswegs um eine Entschuldigung, sondern nur um eine Erklärung, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche nicht zu erklären vermag:
Nicht nur dürften jüngere Generationen von Priestern von Oswald Kolle und Beate Uhse nichts mehr wissen, ihre Wirksamkeit datiert auf die Jahre seit 1947 (Uhse) bzw. 1960 (Kolle) und liegt damit weit hinter dem Beginn des sexuellen und körperlichen Missbrauchs in der katholischen Kirche. Studien aus den USA und Irland belegen systematischen Missbrauch seit den 1920er-Jahren. Die MHG-Studie der DBK untersucht aus guten Gründen den Zeitraum von 1946 bis 2015.
Aus dem Bericht über die Missbrauchsfälle bei den Regensburger Domspatzen wissen wir, dass für den Missbrauch durch erwachsene Männer in den 1950er- bis 1970er-Jahren nicht die beginnende sexuelle Revolution ursächlich war, sondern eigene Gewalterfahrungen im Elternhaus und während des 2. Weltkrieges bzw. der Gefangenschaft.
Die Vorstellung, sexueller Missbrauch in und außerhalb der Kirche hätte durch das aufklärerische Wirken von Beate Uhse und Oswald Kolle zugenommen, ist gerade so abstrus, wie zu behaupten, wegen Dr. Sommer hätte es mehr Teenie-Schwangerschaften gegeben (die seit Jahrzehnten rückläufig sind, auch dank der schulischen Sexualaufklärung).
Zwar nahm die sexuelle Revolution der 1950er-/1960er-Jahre in den USA ihren Ausgang, davon hoben sich aber gerade die konservativen katholischen Communities ab, in denen – wie wir heute durch wissenschaftliche Untersuchungen wissen – der Missbrauch besonders blühte. Und auch den katholischen Missbrauch in Ländern ohne vergleichbare Liberalisierung der Sexualität vermag Brandmüllers These nicht zu erklären. Die Datenbasis zum Missbrauch in (ehemaligen) Entwicklungsländern in Südamerika, Afrika und Asien ist nach wie vor schmal, jedoch deutet nichts darauf hin, dass es dort anders ausschauen würde. Missbrauchsskandale gab es in den letzten Jahren auch in Brasilien und Indien.
Nun soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass die sexuelle Befreiung zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts in einigen gesellschaftlichen Biotopen auch zu extremen Meinungen geführt hat. Die Forderung nach Anerkennung der Päderastie als legitime sexuelle Neigung ist dafür nur ein Beispiel, das von den Vertretern einer reaktionären Sexualmoral gerne angeführt wird. Solche Irrtümer aber waren nie flächendeckend und liegen heute schon 40 bis 50 Jahre zurück. Es ist schlicht unredlich, die gesamte sexuelle Aufklärung dafür in Mithaftung zu nehmen.
Im Gegenteil: Alle seriösen wissenschaftlichen Untersuchungen weisen darauf hin, dass gut aufgeklärte Kinder seltener Opfer von sexueller Gewalt werden, weil sie typisches Täterverhalten als solches identifizieren und Hilfe suchen können. Aufgeklärte und gut informierte Erwachsene können Anzeichen für Missbrauch erkennen und ihren Kindern und Schüler*innen Ansprechpartner sein. Die verbesserte Sexualaufklärung hat auch dazu beigetragen, dass (potentielle) Täter heute therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen können, und so seltener zu einer Gefahr für Kinder und Jugendliche werden.
2. Priester dürfen nicht unter Generalverdacht gestellt werden
Kardinal Brandmüller verwehrt sich dagegen katholische Priester unter Generalverdacht zu stellen, die doch überall auf der Welt treu ihren Dienst tun:
„Die weltweit hunderttausende von Priestern und Ordensleuten dienen treu und selbstlos Gott und den Menschen. Sie unter Generalverdacht zu stellen ist ebenso beleidigend wie ungerechtfertigt, bedenkt man den verschwindenden Prozentsatz von Missbrauchstätern.“
Brandmüller hat die zahlreichen Untersuchungen zum Missbrauch in der katholischen Kirche aus den USA, Irland, Australien und auch Deutschland entweder nicht gelesen oder er verschleiert hier bewusst die Wahrheit.
Die MHG-Studie geht von 1 670 Klerikern aus, die im Untersuchungszeitraum beschuldigt wurden. Davon waren 1 429 Diözesanpriester. Das entspricht einem Anteil von 5 % an der Gesamtzahl der Priester, die im Untersuchungszeitraum in den deutschen Bistümern beschäftigt waren. Einen „verschwindene[n] Prozentsatz“ nennt Brandmüller, wenn jeder 20. Priester in den Akten der Kirchen als Beschuldigter identifiziert wird. Untersuchungsberichte aus den USA zeigen im Vergleich zur MHG-Studie eine noch höhere Durchsetzung der Priesterschaft mit Missbrauchsbeschuldigten, so dass auch für Deutschland mit einem großen Dunkelfeld zu rechnen ist.
Nicht zu vergessen: Ein erheblicher Anteil der Beschuldigten konnte auch nach Bekanntwerden von Vorwürfen weiter in Priesteramt und Pfarrdienst verbleiben. Tausende Kinder und Jugendliche wurden erst dadurch zu Opfern, weil die Kirche Ersttäter nicht konsequent aus dem Dienst entfernte und den Strafverfolgungsbehörden meldete. Dies ist besonders deshalb relevant, weil die Schwere der Missbrauchsdelikte im Verlauf der Täterkarriere häufig zunimmt.
Nicht nur befinden sich unter den röm.-kath. Priestern bis in die jüngste Zeit hinein unentdeckte und davongekommene Sexualverbrecher, auch auf die Kirche kann man sich (bisher) nicht verlassen, wenn es darum geht, Kinder und Jugendliche vor diesen Tätern zu beschützen. Das systemische Versagen hat sich in Einzelfällen zur blinden Beihilfe bzw. bewussten Mittäterschaft ausgewachsen. Warum sollte man also gegenüber katholischen Priestern nicht misstrauisch sein?
3. Schwule Priester sind generell verdächtig
Von Brandmüllers Verteidigung gegen den Generalverdacht ist eine Gruppe von Priestern ausgenommen: Schwule Priester gelten ihm als Hauptverantwortliche für den Missbrauch in der katholischen Kirche. Um das zu „beweisen“ schreckt der Kardinal nicht vor dem geschmacklosen Hinweis zurück, dass „80 Prozent der Missbrauchsfälle im kirchlichen Umfeld männliche Jugendliche, nicht Kinder, betrafen“.
Aufgrund des nach wie vor großen Dunkelfeldes vermag schon die Sicherheit Brandmüllers, den Wert von 80 % zu benennen, überraschen. Die Unterstellung, Verbrechen an Jugendlichen wären gegenüber denen an Kindern irgendwie weniger schlimm, muss entsetzen.
Der Kardinal versteigt sich zu der Behauptung:
„Dieser Zusammenhang zwischen Missbrauch und Homosexualität ist statistisch erwiesen – aber das hat nichts mit Homophobie zu tun, was immer man darunter verstehen mag.“
Ein direkter Zusammenhang zwischen Homosexualität und Pädophilie oder gewalttätiger Sexualität ist nicht belegbar. Auch die MHG-Studie hält fest, dass monokausale Erklärungen zu kurz greifen. Tatsächlich schreiben die Wissenschaftler*innen:
„Die Verpflichtung zu einem zölibatären Leben könnte Priesteramtskandidaten mit einer unreifen und abgewehrten homosexuellen Neigung als Lösung innerpsychischer Probleme erscheinen, die zusätzlich die Aussicht auf ein enges Zusammenleben ausschließlich mit Männern […] mit sich bringt. Insoweit könnten spezifische Strukturen und Regeln der katholischen Kirche ein hohes Anziehungspotential für Personen mit einer unreifen homosexuellen Neigung haben.“
Damit weisen die Autor*innen der Studie auf einen komplexen Zusammenhang von sexueller Identität der Täter, kirchlicher Sexualmoral und katholischer Ämtertheologie hin. Statt die Auswirkungen des Zölibatszwangs und der Ächtung von Homosexualität zu diskutieren, stellt der Kardinal schwule Priester an den Pranger.
Dabei dürfte der 1953 zum Priester geweihte Brandmüller seitdem und besonders während seiner Tätigkeit als Professor zahlreichen homosexuellen Priestern und Priesteranwärtern begegnet sein. Wahrscheinlich hat er Zeit seines Lebens mit mehr Schwulen zusammengearbeitet als der Durchschnitt der deutschen Bevölkerung. Das Priesteramt war über viele Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts eine Möglichkeit für homosexuelle junge Männer aus streng katholischen Elternhäusern einen gesellschaftlich akzeptierten Lebensentwurf zu wählen.
Brandmüller unterstellt schwulen Priestern nicht nur, sie wären aufgrund ihrer Sexualität prädestiniert für Pädophilie und Ausübung sexueller Gewalt. Er geht wie selbstverständlich davon aus, dass schwule Priester den Zölibat nicht im gleichen Maße halten könnten wie ihre heterosexuellen Amtsbrüder. Weil der Zölibat partout nicht das Problem sein darf, greift er auf das billige Ressentiment zurück, Schwule lebten ihre Sexualität im Vergleich zur „normalen“ Bevölkerung unbedingt promisk aus.
4. Die Moderne ist der Feind
Als Heilmittel gegen den Missbrauch empfiehlt Brandmüller die Besinnung auf traditionelle katholische Überzeugungen:
„Zunächst wird es notwendig sein, noch vor jeder religiösen Begründung, die sich aus der Natur des Menschen als Mann und Frau ergebenden Grundsätze geschlechtlicher Sittlichkeit erneut und vertieft zu verstehen. Johannes Paul II. hat mit seiner Theologie des Leibes hierzu Wegweisendes gesagt.“
Was der Kardinal hier „noch vor jeder religiösen Begründung“ ansiedelt, ist nichts anderes als eine Naturrechtslehre, wie sie sich im Lehrgebäude der röm.-kath. Kirche erhalten hat. Dass es in Gottes guter Schöpfung Platz für mehr als zwei Geschlechter und die Liebe auch unter gleichgeschlechtlichen Partner*innen geben könnte, kommt dem Kardinal in seiner Ignoranz gegenüber der (theologischen) Wissenschaft der letzten gut 50 Jahre nicht in den Sinn.
Stattdessen weist er auf die „Theologie des Leibes“ des vor Kurzem (h)eiliggesprochenen Papstes Johannes Paul II. hin. Dabei handelt es sich um nichts mehr als eine geschickt gesetzte Behauptung, die zurzeit unter erz-konservativen Vertretern einer restriktiven Sexualmoral Mode hat. Die Überlegungen Johannes Paul II. will Brandmüller gar zum Dogma der Kirche erheben:
„In der Tat ist diese Lehre Johannes Pauls II. auch der Auswahl und der Ausbildung künftiger Priester und Religionslehrer zu Grunde zu legen. Sodann ist auf deren psycho-physische Konstitution zu achten. Dabei sollte jedoch nicht vergessen werden, dass es bei alledem nicht nur um Psychologie und Soziologie geht, sondern vielmehr um das Erkennen einer wirklichen von Gott kommenden Berufung.“
Damit ist vor allem die Ausscheidung homosexueller Priesterkandidaten gemeint. Aber Brandmüllers Bemerkungen greifen noch weiter: Aus der Kirche soll all das entfernt werden, was aus den Sozial- und Naturwissenschaften kommend inzwischen auch dort als wertvoll und zielführend geachtet wird. Brandmüller beschwört den Kulturkampf des Katholizismus gegen die Moderne, wie ihn Benedikt XVI. vorgab.
Reformen kann sich Brandmüller nur als Rückkehr zur Kirche seiner Kindheit vorstellen, deshalb beschwört er wider besseren Wissens seine Kirche, sich ein Beispiel an „sogenannte[n] traditionalistische[n] Gemeinschaften“ wie der Piusbruderschaft zu nehmen. Dabei ist der Mangel an Priesterkandidaten in der röm.-kath. Kirche im Westen nicht auf ihre Modernität, sondern auf ihre Wirklichkeitsferne dem Leben der Jugend gegenüber zurückzuführen, wie die zaghafte Jugend- und Berufungssynode in Rom erst kürzlich gezeigt hat.
Auf die Frage, wohin die Kirche steuert, gibt der Kardinal auch Papst Franziskus noch einen mit und antwortet:
„Steuert sie überhaupt? Sind wir nicht vielmehr von widersprüchlichen Strömungen hin- und her geworfen? Kann man da überhaupt einen Kurs erkennen?“
Klar erkennbar ist demgegenüber Brandmüllers Kurs: Es geht ihm in keiner Silbe um die Opfer des Missbrauchs, sondern allein um seine Vorstellung von der Zukunft der Kirche, mit der er sich in Widerspruch zu ihr begibt. Der Kardinal missbraucht tatsächlich den Missbrauch für seine Interessen.
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[1] https://dierkschaefer.wordpress.com/2019/01/06/heuchelei-wirft-der-kardinal-der-gesellschaft-vor/
Befragung katholischer Seelsorger: Spiritualität als Dreh- und Angelpunkte der Persönlichkeit; diese Leute sind engagierter, gesünder und zufriedener.
»Die Spiritualität ist für unsere Gruppe einer der Dreh- und Angelpunkte ihrer eigenen Persönlichkeit, ihrer eigenen Existenz und ihrer Tätigkeit. Es ist eigentlich kein überraschendes Ergebnis, aber überraschend für uns ist, wie deutlich der Effekt ist, dass Personen, die eine Gotteserfahrung auch täglich machen, wo Gott in ihrem Leben eine Erfahrungsgröße ist, dass diejenigen, die dort stark sind, dass die engagierter sind, dass die auch gesünder sind, dass die zufriedener sind.«[1]
Ist doch schön, wenn’s auch den Arbeitgeber interessiert.
[1] http://www.deutschlandradiokultur.de/psychologie-sorge-um-die-seele-der-seelsorger.1278.de.html?dram:article_id=317514
Das Thema Pflichtzölibat könnte einen kalt lassen, wenn er nicht …
… wenn er nicht auch kriminogen wäre.
Ich hatte hier im Blog auf einen Film hingewiesen[1].
Dazu bekam ich Kommentare, doch ein Aspekt wurde nicht beachtet. Er sei hier angesprochen.
Im genannten Film[2] wird deutlich auch die seelische Not derer beschrieben, denen ein intimer Partner verwehrt ist, und dabei geht es nicht ausschließlich um Sex, vielleicht nicht einmal in der Hauptsache.
Es geht mir nicht darum, Mitleid mit den Tätern zu wecken; von Opfern kann man das am wenigsten erwarten. Aber wenn wir die Psychodynamik der Täter nicht verstehen, was nicht auf Verständnis hinauslaufen soll, dann bleiben wir hilflos dem Aufkommen neuer Täter ausgesetzt.
Zölibat – das Thema könnte einen kalt lassen, aber nur wenn uns die Opfer egal sind. Allerdings sind auch die Täter Opfer, sie sind Opfer eines Systems geworden sind, aus dem sie sich kaum lösen können.
Die katholische Kirche betont immer wieder beharrlich, der Zölibat spiele bei Missbrauch keine Rolle. Schließlich gebe es auch Missbrauch durch nicht-zölibatär lebende Menschen. Die Feststellung stimmt, doch sie ist unzureichend. Es gibt, und im Film wird das von einem Fachmann[3] eindrücklich dargelegt, auch den zölibatsbedingten Missbrauch.[4] Ich frage mich, warum die katholische Kirche dermaßen ängstlich an der Zwangsehe von Zölibat und Priesteramt festhält. Schließlich ist der Zölibat in der Entwicklung der Kirchen zwar recht früh, aber erst nach und nach verpflichtend geworden.[5] Petrus hatte eine Schwiegermutter.
Oder ist der Neid der alten Männer der tiefere Grund für das starre Festhalten am Pflichtzölibat für die jungen Priesterkandidaten?[6]
Der Zölibat ist auch vor harmlosen Anzüglichkeiten nicht geschützt. In meiner Schulzeit war ich für ein Marktforschungsinstitut tätig. Ich hatte für die Befragung die Adresse einer Frau in einem Dorf in der Hildesheimer Gegend bekommen. Das Dorf war unübersichtlich und ich fragte in der Kneipe nach. „Ach, die Frau Pfarrer!“ hieß es, man schmunzelte und beschrieb mir den Weg. Es war seine Haushälterin.
In einer schwäbischen Kleinstadt, so erzählte man mir, legte die kirchliche Jugendgruppe in der Nacht zum 1. Mai eine Sägemehlspur vom Haus des Vikars zu dem seiner Freundin.
Die Idee, einen zölibatsfreien Nachmittag pro Woche einzuführen, wäre nicht zielführend, könnte die alten Männer der Kirche aber vielleicht doch an die Wirklichkeit heranführen. Sie sind allerdings so alt, dass sie selber nichts mehr davon hätten.
Ich erinnere mich, dass ich in der ersten Stunde in den neuen Klassen der Polizeischüler auch regelmäßig gefragt wurde, was ich, als evangelischer Pfarrer, zum Zölibat sage. Die meisten waren gut ländlich-katholisch und im vollen Saft ihrer jungen Jahre. Sie konnten nicht verstehen, dass es Leute gibt, die freiwillig im Zölibat leben und dabei glücklich sind.[7]
Es geht, wie gesagt, nur um den Pflichtzölibat, aus dem niemand menschenwürdig aussteigen kann. Von den Zölibatspartnerinnen war hier noch gar keine Rede.
Was das menschliche Leid einiger Zölibatäre betrifft, auch das Leid von eventuellen Partnerinnen, so könnte einen der Pflichtzölibat kalt lassen, das sind erwachsene Menschen. Doch schon bei den „Priesterkindern“[8] hört mein Verständnis auf. Erst recht allerdings bei den kriminogenen Auswirkungen auf einige der Zölibatäre. Angesichts der Opferschicksale gehört der Pflichtzölibat gesetzlich verboten.
Ich weiß: Gut gebrüllt, aber ohne Erfolg. Unsere Bundeskanzlerin hat mit keiner Silbe öffentlich das Leid von jüdischen und muslimischen Jungen bei der Beschneidung bedacht. Sie wird sich mit den alten Männern der katholischen Kirche noch weniger anlegen wollen als mit den Vertretern des Judentums.
[1] https://dierkschaefer.wordpress.com/2015/03/17/schwarze-padagogik-demutigung-gewalt-und-missbrauch/
[2] http://www.daserste.de/information/reportage-dokumentation/dokus/sendung/ndr/Missbrauch-Kirche-das-Schweigen-der-Maenner-100.html Dazu auch: https://www.ndr.de/der_ndr/presse/mitteilungen/Mehr-paedophile-Kleriker-in-katholischer-Kirche-als-bisher-angenommen,pressemeldungndr15556.html
[3] Dr. Christoph J. Ahlers, Klinischer Sexualpsychologe, im Film u.a. ab 27:30, er wird auch vorgestellt in http://swrmediathek.de/player.htm?show=e06fa620-13d6-11e4-9668-0026b975f2e6
[4] Missbrauch hat auch andere Psychodynamiken im Hintergrund, beispielsweise das Machtmotiv. Doch hier geht es um zölibatsbedingten Missbrauch.
[5] Im Jahre 1022 ordnete Papst Benedikt VIII. auf der Synode von Pavia gemeinsam mit Kaiser Heinrich II. an, dass Geistliche künftig nicht mehr heiraten durften. Verstöße gegen den Zölibat wurden mit Kirchenstrafen belegt, und bereits verheirateten Geistlichen sollten Amt und Besitz entzogen werden. Als Begründung spielte vor allem die kultische Reinheit eine Rolle, da es für Priester üblich wurde, die Heilige Messe täglich zu zelebrieren. https://de.wikipedia.org/wiki/Z%C3%B6libat
[6] Doch hier spielen noch ganz andere Psychodynamiken eine Rolle, die eines ganzen Kollektivs, wie das in Tendenzvereinen leicht vorkommt.
[7] Ich kenne nicht nur einen evangelischen Kollegen, der mit seinem zölibatären Leben rundum zufrieden ist.
[8] http://de.wikipedia.org/wiki/Priesterkind#R.C3.B6misch-katholische_Kirche
Der Vatikan rudert zurück
»Zölibat und Missbrauch: Vatikan dementiert angebliche Papstzitate«.
Der zölibatsfreie Nachmittag
»Der künftige Staatssekretär und damit zweite Mann im Vatikan unter Papst Franziskus, Erzbischof Pietro Parolin, hat überraschend die Debatte über den Pflichtzölibat wiederaufgenommen, die in der Kurie unter Benedikt XVI. als erledigt galt. Der bisherige Nuntius in Caracas sagte der venezolanischen Tageszeitung „El Universal“, der Zölibat sei „weder ein Dogma noch ein Gesetz göttlichen Ursprungs und so offen für Diskussion“«.[1]
Unbestätigten Gerüchten zufolge wird derzeit ein zölibatsfreier Nachmittag pro Woche erwogen.
Pädophile Priester – ganz normal?
„Insofern korrespondiert das natürlich mit dem Zölibat, dass man in einem Ort eine Respektsperson ist, aber zu der eigentlich andere nur selten eine engere Beziehung aufbauen. Emotionale Bedürfnisse bleiben bei manchen dann doch auf der Strecke. Und dann werden Personen gesucht, zu denen man eine größere Nähe herstellen kann.“[1]
Eine m.E. berechtigte Schlußfolgerung, die ganz gewiß nicht denen entgegenkommt, die den Zwangszölibat verteidigen wollen.
Die Jagd auf den Papst, und was ehemalige Heimkinder mehr interessieren sollte
Die Jagd auf den Papst, und was ehemalige Heimkinder mehr interessieren sollte
Die Jagd auf den Papst hat begonnen. Das sieht der Vatikan ganz richtig, so wie er auch Recht hat mit der Meinung, Mißbrauch komme auch in anderen Einrichtungen, besonders in den (heiligen?) Familien vor. In der Tat ist der Papst vom Rang her das edelste internationale „Wild“ in Wald&Flur. Der Grund dafür liegt nicht nur in der jahrhundertealten Tradition der Institution „Kirche“. – Allerdings gehört das trotzige „Ewig steht fest der Kirche Haus …“ zum protestantischen Liedgut (Grundtvig/Riethmüller), hat es aber nicht in die neueren Gesangbücher geschafft.
In der Diskussion wird zur Zeit gern Bezug auf Frau Käßmann genommen, die durch ihren schnellen Rücktritt ihre eigene Integrität und die ihres Amtes erhalten hat. Diese Wahl hat der Papst nicht. Ausschlaggebend für die besondere Qualität des Papst-Amtes ist die antimodernistische Festlegung auf das Dogma der Unfehlbarkeit. Hinter diesen absolutistischen Anspruch kann kein Papst zurück. Doch selbst wenn er zurückträte: seine persönliche Integrität und die seines Amtes haben bereits Schaden genommen und es wird lange dauern, bis die „Unschuld“ des Amtes nachgewachsen ist. Seine Verteidigung des Zölibats, der wohl tatsächlich nur mitursächlich für den Mißbrauchs-Tsunami ist, und tapfere Mitstreiter wie Bischof Mixa haben den Flurschaden nur verschlimmert.
Doch was geht das die ehemaligen Heimkinder an? Viel wichtiger erscheint mir der Sachverhalt, den die FAS gestern unter dem Titel Spiel auf Zeit veröffentlichte. Überlebende der Gettos streiten seit Jahren mit deutschen Rentenversicherern über Rentenansprüche lautet der Untertitel, und der besagt schon alles.
Wenn die ehemaligen Heimkinder die Durststrecke des Runden Tisches auch erfolgreich überstehen mögen, wenn auch einzelne Heimkinder in Individualklagen Recht und Abfindung (!) erhalten werden, so landen alle (anderen) vor dem Verhandlungstisch der Griffelspitzer und Erbsenzähler. Ich habe bereits vor längerer Zeit vor einer solchen Entwicklung gewarnt: https://dierkschaefer.wordpress.com/2009/08/12/stigma/
Zwar gehört es zur Sorgfaltspflicht der Gelder bewilligenden Instanzen, Trittbrettfahrer nicht einfach durchzuwinken. Eine Sachprüfung ist erforderlich. Doch die „Bewilliger/Versager“ haben in der Regel keine Ahnung von Traumata und der Gefahr der Retraumatisierung.
Hier gilt es Gedankenmodelle zu entwickeln, wie man über eine nüchterne Problembeschreibung zu Lösungsmöglichkeiten kommt.
Ein „abgeschossener“ Papst mag für manche eine Genugtuung sein, wird die ehemaligen Heimkinder jedoch um kein Deut weiterbringen.
PS: 25.März 2010
Papst in Defensive
mehr unter: http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,druck-685558,00.html
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