Dierk Schaefers Blog

„Nie wieder!“

Posted in Gesellschaft, heimkinder, Kinderrechte, Kriminalität, Pädagogik, Psychologie, Soziologie by dierkschaefer on 29. Juni 2013

Diesen Kommentar zum Blogbeitrag: Nun werde alles zügig geprüft[1] möchte ich als eigenständigen Beitrag des Kommentators „nach vorne“ holen. Der Kommentar wurde in keiner Weise verändert:

„Nie wieder!“

Was wird aus Kindern die verbogen, belogen, missbraucht, geprügelt werden, denen man Bildung vorenthält und die durch Zwangsarbeit oder den Zwang zur Arbeit ausgebeutet werden? Was wird aus Kindern die ohne Urteile und Prüfung eingesperrt und Drill ausgesetzt werden? Was wird aus Kindern die das ertragen mussten ohne die Möglichkeit, sich zu wehren oder Schutz zu finden? Ich kann das sicher nicht allgemein beurteilen, aber aus mir ist ein Mann von 58 Jahren geworden.
Seit mehr als 40 Jahren vermeide ich viele Alltäglichkeiten, ohne dass es jemand sehen kann. Ich übe mich in Unauffälligkeit. Ich vermeide geschlossene Räume von denen ich die Türen nicht sehen kann. Ich könnte eingesperrt werden! Ich fahre nicht einmal mit der Bahn, weil es ist ein abgeschlossener Raum, den ich nicht freiwillig verlassen kann. Das geht nur wenn der Zug hält. Ich könnte ein Konzert besuchen, kann ich aber nicht, mir jagen viele Menschen, die gemeinsam an Veranstaltungen teilnehmen, Angst und Panik ein. Ich kann nicht entkommen wenn ich möchte. Ich könnte mit Freunden gemeinsam essen gehen, das normalste von der Welt, kann ich aber nicht, es ist eine Tortur für mich, warten zu müssen bis alle Ihr Essen haben, es könnte mir gestohlen werden. Ich werde zappelig und unsicher, also vermeide ich es. Ich bin misstrauisch und argwöhnisch und beleuchte alles und Jeden der sich mir nähert. Ja, ich zerstöre unbewusst vielleicht konstruktive Synergien. Das sind ein paar wenige der  Auffälligkeiten, die mir selbst auffallen. Sicher gibt es aber noch so einige Dinge, die ich gar nicht weiß und selbst bemerke, wissenschaftlich betrachtet.
Es ist für mich zur Gewohnheit geworden so zu sein, so zu handeln und so zu leben. Aber wie viel Leben ist das eigentlich? Wenig genug und sehr, sehr anstrengend. Das weiß ich von mir. Was hat die Gesellschaft versäumt und was hätte ich ohne diese Einschränkungen, die ich selbst indessen als Behinderung empfinde, erreichen können?
Eine Million behinderte Menschen, die ähnliche oder gleiche Einschränkungen haben und wir reden über Inklusion? Wir reden über Menschenwürde und Menschenrechte und über die Bereicherung von Gesellschaften durch kritische Bürger, die Ihre Rechte auf der Straße einfordern. Wir belehren andere, Demonstrationen als Bürgerbeteiligung wahr zu nehmen und nicht als Bedrohung zu empfinden. Natürlich tun wir das, oder mindestens unsere Vertreter auf Zeit. Richtig und gut, aber sollten wir nicht zuerst dafür Sorge tragen, dass wir den heute Betroffenen von Heimerziehung – in welcher Form auch immer – die Würde zurück geben und Ihnen ein finanziell gesicherten Lebensabend trotz Behinderung oder gerade deshalb ermöglichen.  Wir haben in diesem Land einiges wieder gut zu machen, in Form angemessener Renten und Entschädigung für erlittenes Unrecht und Ausbeutung.
Sollten wir nicht endlich damit aufhören, diese Opfer zu produzieren? Sollten wir nicht endlich solche Formen des Umganges mit Kindern beenden? Sollten wir nicht endlich alles in unserer Macht stehende unternehmen, die Täter solcher „Erziehungspraktiken“ zu verurteilen? Sollten wir nicht endlich unserer Kinder mit Rechten ausstatten, die diese auch einfordern können, weil Sie diese verstehen? Sollten wir uns nicht endlich fragen, wie viel Schaden wir durch nichts tun anrichten?
Ich denke, wir müssen!
Wir müssen das einfordern. Bildermann kenn ich nicht, aber ich bilde mir ein, dass wir uns das alle fragen lassen müssen, auch und aktuell zuerst in Brandenburg. Es ist so eine Sache mit „nie wieder“ in unserem Land, ist es nicht an der Zeit damit endlich anzufangen?
Ich dachte, hoffte und glaubte letztendlich auch, dass wir etwas gelernt haben. So als Land, als  Gesellschaft , als das sogenannte Volk.
Offenbar haben wir das nicht. Oder wollen wir vielleicht nicht? Es wirkt auf mich, als wollten wir nicht. Als litten wir alle unter Amnesie und offenbar haben wir sie gern, unsere Amnesie. Sonst müssten wir uns ja täglich mit Fragen auseinandersetzen auf die es Antworten gibt.
Antworten zum Beispiel auf die Frage: Woher kommt der NSU. Wer hat das gewusst und zugelassen? Wir oder die, die dafür bezahlt werden so etwas zu bemerken, öffentlich zu machen, ja, auch die Bürger zu schützen. Die haben es gewusst und offensichtlich auch bemerkt , nur weder öffentlich gemacht noch die Ihnen anvertraute Sicherheit der Bürger im Auge behalten.
Ich habe keine Amnesie und bemerke das sich vieles wiederholt. Zum Besipiel die Art und Weise, wie ich in einem Spezialheim der DDR erzogen wurde. Diese Methoden wiederholen sich nun in einem privatisierten geschossenen Kinderheim in Deutschland. Und das, nachdem wir geschädigten Heimkinder von damals bis heute nicht entschädigt haben für diese Misshandlungen. Nun geschehen diese Misshandlungen wieder. Was haben wir also tatsächlich gelernt als Gesellschaft? Nach zwei großen Kriegen haben wir uns die Beteuerung „Nie wieder“ auf die Fahnen geschrieben. Nach der Aufdeckung des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen an der Odenwaldschule  riefen wir wieder: „Nie wieder“
Und nun? Die Fortsetzung soz. Erziehungsmethoden in einer GmbH in Brandenburg. Nein, kein bedauerlicher Einzelfall, sondern die konsequente Fortsetzung und Folge der Nicht-Bewältigung, der Nicht-Aufarbeitung , Nicht-Verhinderung, und der nicht angemessenen Entschädigung der Opfer solchen Tuns. Es reicht einfach nicht „Nie wieder“ zu sagen. Wir müssen diese Geschichten gemeinsam aufarbeiten und bewältigen. Wir können nur verhindern, was wir verstanden und beendet haben. Wie groß soll der angerichtete Schaden an den Kinderseelen noch werden?


6 Antworten

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  1. Helmut Jacob said, on 30. Juni 2013 at 14:03

    Stimmt! Die Schilderung von Spätfolgen dieser Heim-„Erziehung“ sollte den Rechtsnachfolgern immer wieder um die Ohren gehauen werden. Anders verstehen sie nicht, welches verbrecherische System sich unter ihrer Aufsicht etabliert und welche Spuren der Verwüstung es hinterlassen hat.
    Darum bitte ich den Verfasser des Leserbriefes um Zustimmung zur ungekürzten Veröffentlichung auf anderen Plattformen, die von mir bedient werden. E mail: helmutj50@web.de

  2. Heidi Dettinger said, on 30. Juni 2013 at 16:09

    Ich schließe mich der Bitte von Helmut Jacob an!
    h.dettinger@veh-ev.eu

  3. Lutz said, on 30. Juni 2013 at 18:36

    Selbstverständlich darf das was ich zum Thema geschrieben habe
    veröffentlicht / verlinkt und breit gestreut in das Bewusstsein der pol. Verantwortlichen werden. Ich bitte sogar darum.

    Lutz

  4. m.dahlenburg said, on 1. Juli 2013 at 02:29

    danke, Lutz

  5. Stefan lauter said, on 2. Juli 2013 at 23:34

    vor einigen Jahren durfte ich bei Ihnen lieber Dierk Schäfer in der Akademie Bad Boll zum Thema „DDR Heimerziehung“ referieren. Einige Vertreter der „schwarzen Pädagogik“ haben da ganz schnell gekniffen, allen voran Lothar Kannenberg, aber auch Vertreter aus den USA mit ihren Bootcamps. Ich danke Ihnen an dieser Stelle noch einmal ganz herzlich für Ihr immer währendes Engagement für Kinderrechte, egal wo diese aufwachsen, ob zu Hause bei ihren Eltern oder als Schutzbefohlene in Heimen oder bei Pflegefamilien, bleiben Sie sich bitte treu und Ihnen persönlich alles Gute. Ich bleibe es ja auch, also mir treu in unserem gemeinsamen Anliegen 🙂

    ganz liebe Grüße aus Berlin

    ihr Stefan Lauter

    • dierkschaefer said, on 3. Juli 2013 at 06:57

      Herzlichen Dank, lieber Herr Lauter!
      Ich erinnere mich noch sehr gut an Ihren Beitrag über die brutalen Umerziehungsmethoden im Jugendwerkhof Torgau und an die Folgen für die Opfer. Sie sagten, alle, die dort waren und die sie kennen, seien Halb- oder Vollinvalide.
      Das Verrückte an der Sache ist, daß auch der Unrechtsstaat DDR nicht nur von seelenlosen Funktionären getragen wurde, sondern auch von glühenden Idealisten des Kommunismus, die als überzeugte Politruks meinten, daß jedes Mittel geheiligt sei, das zum Ziel zu führen versprach.
      Leider finden wir die Parallele, bzw. den Vorläufer dazu in vielen christlichen Erziehungsanstalten, die auch noch in der BRD, die sich für einen Rechtsstaat hält, mit politischer Unterstützung und öffentlichem Desinteresse ihr menschenverachtendes Werk tun konnten.
      Heute finden wir solche Methoden im pseudo-psychologischem Gewand von Bootcamps und ähnlichen Einrichtungen , die von Politikern hofiert und von Jugendämtern beliefert werden. Aufsicht findet nur über die dort inhaftierten Jugendlichen statt, nicht aber über die Einrichtungen. Das gilt auch für viele Auslandsprogramme.
      Und daß heute noch Sozialeinrichtungen äußerst gewinnbringend betrieben werden können, habe ich am Beispiel des „Priorats für Kultur und Soziales gemn. e.V.“ aufgezeigt.

      Ich wünsche Ihnen, lieber Herr Lauter, weiterhin viel Erfolg in Ihrem Einsatz im Rahmen der „Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau“ und denke, daß Sie damit einen Weg gefunden haben, mit Ihrer persönlichen Geschichte konstruktiv umzugehen.

      Herzliche Grüße, derzeit aus Wien

      Ihr dierk schäfer


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