Dierk Schaefers Blog

Es könnte ja sein, daß ein Baby aus eigenem Wunsch beschnitten werden will

Posted in Kinderrechte, Menschenrechte, Religion, Theologie, Weltanschauung by dierkschaefer on 30. August 2014

»Rabulistik dient dazu, in einer Diskussion unabhängig von der Richtigkeit der eigenen Position recht zu behalten. Erreicht wird dies durch Sophismen, verdeckte Fehlschlüsse und andere rhetorische Tricks wie das Einbringen diskussionsferner Aspekte, semantische Verschiebungen, etc. … Dabei werden rhetorische und argumentative Techniken angewendet, um Recht zu bekommen – unabhängig von oder sogar entgegen der Sachlage, z.B. mittels „Wortverdreherei“ und „Haarspalterei“, oder durch das Anhäufen immer neuer Argumente«

 

So bei Wiki[1]. Wer ein Beispiel will, der lese Reinald Eichholz, Die Beschneidung von Jungen – ein Thema mit mehr als zwei Seiten[2].

 

Die Vorgehensweise ist perfide. Die eine der im Titel genannten Seiten stellt er juristisch und nach heutigen Denken sachlich richtig dar:

 

»Das Kind ist niemandes Objekt, sondern Subjekt.

Wenn den Eltern das Recht zugestanden wird, in eine medizinisch nicht erforderliche

Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, erscheint das grundrechtlich garantierte Elternrecht wie eine Ermächtigung, in das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit einzugreifen – das Kind als Objekt der elterlichen Entscheidung.«

 

Doch nun kommt’s: Das Rechtssubjekt Kind hat Anrecht auf alle Grundrechte, also auch das Recht auf Glaubensfreiheit:

 

»Wenn vom Recht auf Glaubensfreiheit die Rede ist, geht es deshalb keineswegs nur um Erwachsenenrechte, sondern eben auch um Rechte des Kindes. Zu positiver Religionsfreiheit, also dem Recht, sich religiös zu betätigen – Art. 4 GG –, aber auch zum Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit im Sinne kultureller Identität – Art. 2 GG – können Rituale und Bräuche gehören. Kinder brauchen Rituale. Nicht zuletzt deshalb sind sie Teil jeder religiösen Kindererziehung.«

 

Eichholz sieht das Dilemma. Es gehe nun nicht an, argumentiert er, daß die Eltern nun doch wieder das Kind zum Objekt ihrer Entscheidung machen. Da müssen sie schon einen gedanklichen Spagat hinlegen, der an Persönlichkeitsspaltung grenzt.

 

Da die Verfassung davon ausgeht, »dass niemand dem Kind so nahe steht wie die eigenen Eltern[3], ihm deshalb durch sie in der Regel alles zuteil wird, was es für sein Wohl benötigt, und deshalb das Kindeswohl in aller Regel bei ihnen auch am besten aufgehoben ist. Die Verfassung erkennt daher an, dass sich die Eltern auch in religiöser oder kultureller Hinsicht von ihren Vorstellungen und Überzeugungen leiten lassen dürfen, wenngleich sie im Hinblick auf die Subjektstellung des Kindes verpflichtet sind, dabei die Perspektive des Kindes einzuhalten.«

 

Die Eltern müssen die Perspektive des Kindes übernehmen und entscheiden, was das Kind wollen würde, wenn es jetzt mündig wäre und eine in die Zukunft weisende Entscheidung zu treffen hätte. Wäre das Recht auf seine positive Religionsfreiheit verletzt, wenn es zum jetzigen Zeitpunkt als Baby in Befolgung der Riten „seiner“ Religion nicht beschnitten würde? Würde es, wenn es denn könnte, seine Schmerzen beim Eingriff geringer werten als den Status als vollwertiges Mitglied der Religionsgemeinschaft seiner Stellvertreter? Auch wenn zu diesem Zeitpunkt in wohl den meisten Religionsgemeinschaften seine religiösen Rechte eingeschränkt sind, was auch für die Mitgliedschaft in den christlichen Kirchen trotz Taufe gilt.

 

Das gegen die Meinung namhafter Fachleute im Bundestag beschleunigt durchgesetzte Gesetz ist, ohne es ausdrücklich zu benennen, auf das Judentum zugeschnitten. Im Alten Testament ist die Beschneidung als Gebot für die Eltern formuliert. Seinen Sohn beschneiden zu lassen, definiert die religiöse Stellung der Eltern, nicht die des Kindes. Sie können also gar nicht stellvertretend für das Kind entscheiden, sondern nur für sich.

 

Ich möchte nicht mißverstanden werden. Zu den elterlichen Rechten gehört es auch meiner Meinung nach, ihre Kinder in ihrem Sinne religiös zu erziehen – oder auch nicht. Die Kinder wachsen in die Lebensgemeinschaft der Eltern hinein, wohin denn sonst? Die Argumentation, Eltern sollten die Perspektive des Kindes einnehmen, was dem Wohl für sein Leben am besten entspreche, ist genau so illusorisch, wie die immer wieder zu hörende Meinung, man könne die religiöse Frage für das Kind offen lassen, damit es sich später frei entscheiden könne. Kann es ja, indem es, religionsmündig geworden, die Entscheidung der Eltern bestätigt oder korrigiert. Wenn ich stellvertretend entscheiden sollte, welche Religion oder Nichtreligion mein Kind später einmal für sein Wohl (oder Heil) wichtig und richtig finden könnte, müßte ich bei dieser Entscheidung das ganze Spektrum der Religionen Revue passieren lassen und bewerten.

Ein fiktiver Fall: sollte ich meinen, daß der Islam sich durchsetzt, wäre es wohl richtig, das Kind als Moslem mit allen rituellen Verpflichtungen zu erziehen. Das wäre im Rahmen der Logik von Eichhorn. Wenn ich, andere Konstellation, lese, für wie wichtig und identitätsstiftend genitalverstümmelte Frauen die „Beschneidung“ ihrer Töchter halten, dann gibt es stellvertretend für ihre Töchter nur eine Entscheidung, die Eichhorn wohl akzeptieren würde/müßte.

Am Beispiel der Genitalverstümmelung wird deutlich, daß der Staat der elterlichen Gewalt Schranken setzen muß, definiert durch die körperliche Unversehrtheit, und die gilt auch für Jungen.

Was Eichhorn treibt, ist Rabulistik.

 

Ansonsten mäkelt er an Details des Gesetzes herum. Doch Positivist[4], der er ist, sind das wohl nur Schönheitsfehler.

Man lese und erschrecke.

[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Rabulistik

[2] http://www.theo-web.de/zeitschrift/ausgabe-2014-01a/07.pdf Hieraus auch alle folgenden Zitate.

[3]»Nachdem alle Erfahrungen mit ‚staatlicher Erziehung‘ ins Unglück geführt haben, liegt der gebotenen Zurückhaltung des Staates die Erwartung zugrunde, dass das Kindeswohl grundsätzlich von den Eltern gewährleistet wird. Maßgebend sind deshalb die elterlichen Erziehungsvorstellungen, nicht staatliche, d.h. behördliche Ansichten über die wohlverstandenen Interessen des Kindes.«

[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Positivismus#Rechtspositivismus

3 Antworten

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  1. ekronschnabel said, on 31. August 2014 at 01:22

    Der besagte Dr. Eichholz ist kein unbeschriebenes Blatt. Man google ihn und man staunt, es lohnt sich.

    Unsere Gesetzesmacher lassen sich von Typen („Experten“) wie Eichholz steuern. Jetzt ist verständlich,
    wie das mit den Beschneidungsrechten lief.

    • dierkschaefer said, on 31. August 2014 at 04:56

      Gegoogelt hatte ich ihn noch nicht. Nach http://www.spiegel.de/spiegel/spiegelspecial/d-8839705.html sehe ich nun, daß mein Kinderrechtspreis dagegen völlig verblaßt. Doch ich habe seine Mailadresse gefunden und werde ihm meinen Blogbeitrag schicken.
      Ach ja: Eichholz: „Das staatliche Wächteramt dient unmittelbar der Verhütung von Verletzungen des Kindeswohls“. Manchmal reicht die Verhütung von Verletzungen des Kindes schon aus, bei der Beschneidung zum Beispiel. Trotzdem bin ich ihm dankbar für seine Herausarbeitung der Subjektstellung des Kindes. Damit hat er mich erst auf den Gedanken gebracht, daß in der einschlägigen Religionsgemeinschaft das Kind frühestens mit der Bar Mizwa rituellen Pflichten unterworfen ist. „Grundlage ist die rechtliche Regelung gemäß dem jüdischen Recht über den Zeitpunkt, ab dem ein Junge für die Beachtung und Einhaltung der jüdischen Gebote … verantwortlich ist. Dieser Übergangsritus geht mit der physiologischen Pubertät einher. Der Bar Mitzwa … darf bzw. muss von da an alle religiösen Aufgaben erfüllen, etwa in der Synagoge aus der Tora vorlesen.“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Bar_Mitzwa ) Erst dann verstößt also die Nichtbeschneidung gegen die Gebote. Eltern, die ihr männliches Baby beschneiden lassen, handeln also für sich und nicht für ihr Kind. Im Alter für den Bar Mitzwa (13 Jahre) kann ein Junge schon kindgerecht aufgeklärt werden, was die Beschneidung bedeutet, mit allen damit verbundenen Rechten, Risiken und sozialen Folgen – und dann kann er entscheiden.

      • ekronschnabel said, on 31. August 2014 at 10:02

        Die Mailadresse fand ich auch sofort, aber dieses „auch -schon-mal-Richter-gewesen“ – Kerlchen ist die
        aufzuwendende Zeit nicht wert. Ich konnte bisher nicht feststellen, ob auch er Bar Mizwa feiern durfte/musste.


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