Der Staat und der Protestantismus
Der Auftakt ist überzeugend: »Religionen können in der freiheitlich-demokratischen Verfassungsordnung nur dann eine produktive öffentliche Rolle spielen, wenn sie sich die Ideen von Menschenrechten und Demokratie theologisch anverwandeln. Diese Konzeption öffentlicher Religion, die Jürgen Habermas in den vergangenen Jahren entwickelte, hat viel für sich. Die Religionen müssen sich „die normativen Grundlagen des liberalen Staates … unter eigenen Prämissen aneignen“, so Habermas. Wie mühsam sich dieser Prozess der Aneignung gestalten kann, lässt sich am Beispiel des deutschen Protestantismus zeigen. Sein Verhältnis zur Demokratie ist von Ambivalenzen geprägt. Die Kirche der Reformation hat sich theologisch und kirchenpolitisch erst nach 1945 mühsam mit dem westlichen Verfassungsstaat arrangiert.«[1]
Der mühsame Prozess der Aneignung wird in diesem Artikel gut und kenntnisreich beschrieben. Für Menschen, die in den späten 60er Jahren zum politischen Bewusstsein gekommen sind, ist es durchaus erhellend, die eigene Vergangenheit einmal von außen nüchtern seziert präsentiert zu bekommen. Dem Autor ist auch beizupflichten, wenn er schreibt: »In der Langzeitbeobachtung über die vergangenen 70 Jahre zeigt sich, dass stark politisierte und im Gestus der moralischen Dauerempörung agierende Strömungen des bundesrepublikanischen Protestantismus im politischen Prozess stets in der Minderheit blieben und dann dazu tendierten, demokratische Legitimationsleistungen anzuzweifeln und zivilen Ungehorsam zu idealisieren.« Denn zugegeben: Im Vergleich zu manchen anderen Staaten funktioniert dieser Staat grosso modo doch recht ordentlich und wir müssen uns fragen, ob dem monierten Gestus der moralischen Dauerempörung metaphysische Dignität gebührt und sich der Protestantismus die nachmetaphysischen Begründungsfiguren einer säkularen liberaldemokratischen politischen Ordnung als solche zu eigen machen sollte.
Die Anerkennung einer Ordnung, die demokratischen Verfahrensregeln entspricht, scheint aber doch eher einem Rechtspositivismus verpflichtet und lässt beiseite, dass im Staate Deutschland auch manches faul ist. Muss man daran erinnern, dass sich der Gesetzgeber vielfach beharrlich verweigert, Entscheidungen des Verfassungsgerichts eine gesetzliche Form zu geben? Oder an die Nebeneinnahmen der Abgeordneten, den Einfluss der Lobby oder den basso continuo des Parteienegoismus[2]? Nur zähneknirschend mag ich dem Autor zustimmen, wenn er schreibt: »Der demokratische Verfassungsstaat bleibt in theologischer Perspektive eine gute Gabe Gottes und wird als Teil Gottes Willens und Wirkens in der noch nicht erlösten Welt beschrieben.« Auch ohne den Schaum des Fanatikers vorm Mund bleibt festzustellen, dass Widerstand gegen manche Fehlsteuerungen der Politiker nötig und auch theologisch gut begründbar ist.« Selbstverständlich können und sollten »solche Deutungsangebote … dazu beitragen, dass die Gläubigen eine säkular begründete Verfassung akzeptieren.« Richtig ist auch, dass es »zu den Paradoxien ausdifferenzierter Gesellschaften gehört, dass Politik und Religion einander nicht loswerden und doch nicht ineinander aufgehen. Demokratie ist auch eine Weise, diese dauerhafte Grundspannung auszuhalten«. Sein Wort in Gottes Ohr.
[1] Professor Dr. Hans Michael Heinig, Der Protestantismus in der deutschen Demokratie: FAZ-Print, Montag, 24. August 2015, S. 6
[2] Hier wäre Hans Herbert von Arnim zu empfehlen: Das System – Die Machenschaften der Macht
Ein Nachtrag als Warnung vor zuviel Staatsgläubigkeit: http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-08/abweichende-meinung-rechtskultur-fischer-im-recht/komplettansicht
Das kriegen wohl nur Protestanten hin: Eine theologische Begründung des Pluralismus
Der neue Grundlagentext des Rates der EKD, „Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive“, präsentiert den Protestantismus auf der Höhe der Zeit, ohne Selbstverleugnung und ohne das oft gerügte Wischi-Waschi.
Es handelt sich um einen Text, der in geradezu staatsmännischer Weisheit dem Miteinander unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen den Weg weist – unter Betonung der eigenen Werte und Glaubensüberzeugungen. Da werden sich andere bemühen müssen, wenn sie in diesem Horizont bestehen wollen. Angefangen mit den „eigenen“ Evangelikalen, dann die Kollegen im Vatikan mit ihrem dogmatischen Absolutheitsanspruch, auch die gesamte Orthodoxie und von den islami(sti)schen Fundamentalisten, sei es Schia, sei es Sunna, ganz zu schweigen. Besonders wichtig scheint mir dieser Text auf dem Hintergrund der Vertreter des ideologischen Humanismus, die der Religion generell die Daseinsberechtigung absprechen und sie im öffentlichen Leben zurückdrängen wollen. Werden sie in der Lage sein, die Anerkennung, die aus diesem Text spricht, zu erwidern?
Was dem Grundlagentext fehlt, ist ein Abgrenzungsbemühen, das über die Selbstbehauptung hinausgeht und Menschenrecht einfordert, wo es mit religiöser Begründung verletzt wird. Es heißt dort: »Deshalb ist es unverzichtbar, dass die religiösen Rechte des Judentums geachtet werden, auch dort, wo sie — wie etwa bei der im Alten Testament bezeugten Beschneidung von Jungen oder dem Schächten — Ausdrucksformen suchen, die sich das Christentum nicht aneignet, sondern die es ausdrücklich verabschiedet hat.« Eingriffe in den Körper von Kindern, die medizinisch nicht geboten sind, sind Menschenrechts-, sind Kinderrechtsverletzungen. Wenn hier der Staat versagt, die Kinder zu schützen, ist der vor Gott verantwortungsbewusste Protestantismus aufgerufen, hier zu protestieren – auch wenn uns die fürchterliche Geschichte der Judenverfolgungen im „christlichen“ Abendland gegenüber dem Judentum kleinlaut werden lassen könnte.
Mit dieser nicht unbedeutenden Einschränkung ist den Verfassern des Grundlagentextes nur zuzustimmen, wenn sie schreiben: »Deutlich ist aber, dass die Bedeutung der Religionen in einer pluralistischen Gesellschaft entscheidend davon abhängt, ob sie eine öffentlich verantwortete Theologie entwickeln, die Verständigungsversuche und Übersetzungen zwischen den Konfessionen, Religionen und unterschiedlichen Weltanschauungen ermöglicht. Eingeladen zu diesem Dialog sind auch Bürgerinnen und Bürger, die selbst zu keiner Religionsgemeinschaft gehören, denen Glaubenserfahrungen fremd geblieben sind, die aber mit den Kirchen eine gemeinsame Verantwortung für den Frieden zwischen den Religionen und für die Zukunft des Gemeinwesens übernehmen wollen.«
Entzauberung der Welt
»Der Soziologe Max Weber hat gesagt, dass der Protestantismus wie keine andere Religion an seiner eigenen Auflösung arbeite, weil er die Entzauberung der Welt vorantreibe. Einverstanden?
Einverstanden bin ich vor allem mit der Aussage, dass der Protestantismus die Welt entzaubere. Zum Glück tut er das stets von neuem, schliesslich tauchen ständig neue Zauberlehrlinge auf. Ich denke an Sekten, aber auch an die Versprechen der Ökonomen oder der Biotechnologie. Entzauberung ist ein Grundauftrag. Protestanten sind Meister im Entzaubern.«
»Die reformierte Kirche wird kleiner, älter und ärmer – verliert sie irgendwann ihren Rang als Landeskirche, kommt es zur Trennung von Kirche und Staat?
Nicht zwangsläufig. Der Staat, das sind wir alle. Solange wir die Kirche wertvoll finden – also ihre Werte, ihren Beitrag ans gemeinschaftliche Leben –, sollten wir sie schützen und fördern. Zudem hat die stärkere Präsenz des Islam dazu geführt, dass ich bei unseren Eidgenossen ganz neue Seiten kennen gelernt habe. Sie entdecken plötzlich wieder ihre Kirche. Dabei käme es den meisten zwar nie in den Sinn, sonntags in eine zu gehen. Aber sie halten sie für eine Institution, die unsere Werte schützt. Je selbstbewusster andere Religionen auftreten, umso mehr wächst die Sensibilität für unsere Werte – und dafür, dass nicht alle Religionen dieselbe Vorstellung haben vom Geschlechterverhältnis, von Minderheitenschutz oder Religionsfreiheit.[1]«
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