Der Aufschrei eines Pfarrers: Ich habe jegliches Vertrauen in meine Landeskirche verloren.
Ein Aufschrei, so ist der Beitrag von Klaus Spyra untertitelt: DEUTSCHES PFARRERINNEN- UND PFARRERBLATT 2/2024. Der Titel zielt auf die bayrische Landeskirche, in der er Pfarrer er ist: „ICH HABE JEGLICHES VERTRAUEN IN DIE ELKB VERLOREN“
Regelmäßig werden die Ausgaben ins Archiv des Pfarrerblatts – online erreichbar – eingestellt, so auch die Ausgabe vom Februar. Nur sein Beitrag ist im Archiv des Pfarrerblatts zur Zeit nicht aufzufinden.
Zensur? Bereinigung des Archivs? Wer hat das veranlasst?
Ich will aus dem Artikel nur den Eingang zitieren, da ich den kompletten Artikel hier nicht wiedergeben darf. (Man kann ihn von mir privat per Mail anfordern. ds@dierk-schaefer.de ) . Sein Aufschrei sollte jedenfalls nicht erstickt werden:
„Ein Aufschrei
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich muss das euch hier schreiben und erzählen, was mir passiert ist. … Ich schreibe das hier, um selbst zu (über)leben, ansonsten ersticke ich an Bitterkeit und Verhärtung. Uns ist allen klar, gerade uns Betroffenen von sexualisierter Gewalt, dass die Missbrauchskrise mit der Veröffentlichung der ForuM-Studie nicht vorbei ist. Weder für uns persönlich noch für die Kirche. Ganz konkret heißt das für mich – und ich weiß für viele hier lesende Betroffene auch: Der Diakon, der mich missbraucht hat, und diejenigen, die ihm das ermöglicht haben (uns Kinder im Alter von 6 bis 10 Jahren ihm zugeführt haben), sind dafür bis heute nicht zur Verantwortung gezogen worden. Die ELKB und die ihr zugeordnete Diakonie, hat gegen meinen Täter, Ermöglicher und Vertuscher gar nicht ermittelt.“
Inzwischen melden sich weitere Pfarrer bei ihm, die auch missbraucht wurden.
Im Editorial des Pfarrerblattes schreibt Dr. Peter Haigis:
„Am Donnerstag, den 25. Januar 2024, übergab der ‚Forschungsverbund ForuM‘ Vertreter*innen der EKD und der evangelischen Landeskirchen im Rahmen einer Pressekonferenz in Hannover seine Studie zu sexuellem Missbrauch in der evangelischen Kirche. Wer an diesem Tag überrascht oder gar mit einem Aufschrei des Entsetzens die Veröffentlichung der Ergebnisse zur Kenntnis genommen hat, muss wohl in den Jahren zuvor mit verschlossenen Augen den Problemen sexueller Gewalt gegenübergestanden haben ….“
Die evangelische Kirche stehe:
„vor einem Scherbenhaufen. … Bereits 2010 waren die ersten Missbrauchsvorwürfe auch innerhalb der evangelischen Kirche und der Diakonie öffentlich geworden. Das Deutsche Pfarrerblatt … veröffentlichte dazu den Bericht eines württ. Kollegen, Dierk Schäfer, der sich der Aufarbeitung der Misshandlungen gegenüber Heimkindern („Runder Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“) gewidmet hat (5/2010, 236ff). Seine Forderungen aus den Erfahrungen mit verschleppter Bearbeitung dort hatten das Ziel, Sensibilität für vergleichbare Probleme der Gegenwart zu wecken. Die (amtskirchliche, aber auch kollegiale) Resonanz auf seinen Weckruf bezeichnet Schäfer heute rückblickend als enttäuschend.“
Ich, Dierk Schäfer, hoffe, dass die Landeskirche von Herrn Spyra den Scherbenhaufen nicht noch vergrößert. Über ihm schwebt jedenfalls ein Disziplinarverfahren.
Merkwürdiger Versuch der Stadt München mithilfe einer „unabhängigen Aufarbeitungskommission“ die Fälle von Missbrauch und Trauma zu klären. – Ein Gastkommentar von Vladimir Kadavy
„München leuchtete“, schrieb Thomas Mann in seiner Erzählung „Gladius Dei“. Gladius Dei heißt: Schwert Gottes.
Ob München immer noch leuchtet, beleuchtet Vladimir Kadavy in seinem Kommentar:
Die Stadt kommt nicht zu Potte
Wie man es auch nennen mag: Entschädigung oder Kompensationsleistungen. Die sollte es bereits ab Mitte 2021geben. Über Erst-Zahlungen ist die Stadt nicht hinausgekommen.
Nun sollen die abschließenden Zweit-Zahlungen von einer Kommission abhängen. „Sie soll die Aufarbeitung wissenschaftlich betreuen. Man ist aber noch auf der Suche nach Fachleuten.“
Währenddessen werden wir, die überlebenden Betroffenen älter und warten seit Januar 2021 darauf, dass die Stadt zu Potte kommt. Zahlungen waren immerhin schon zur Jahresmitte 2021 durch die Stadt angekündigt, aber erst im Spätherbst 2021 nahm das von städtischen Angestellten durchtränkte aufarbeitende Gremium seine „unabhängige“ Tätigkeit auf, – während Jugendamt und Stadtrat darauf warten können, dass wir abtreten. Darauf besteht angesichts des Altersdurchschnitts der Betroffenen (plus minus 75 Jahre) und der Problematik, eine wissenschaftlich aufarbeitende Institution zu finden, eine berechtigte Hoffnung. Einer meiner missbrauchten Verwandten ist bereits tot, ein anderer schwer erkrankt, zwei weitere aus dem Umkreis unserer Recherchegruppe sind in einem desolaten körperlichen und psychischen Zustand. Es findet also ein edler Wettstreit zwischen Altern und Hinauszögern statt. Dreimal darf man raten, wer aus diesem Wettkampf als Gewinner hervorgeht. Darum also auch kein Wort über transgenerationelle Lösungen, d. h. Zahlungen an Angehörige. Das scheint nicht mal angedacht worden zu sein.
Wie steht es mit den in Aussicht gestellten Kompensationsleistungen, Herr Raab?
Ignaz Raab, pensionierter Kriminalbeamter, ist Vorsitzender der Münchner städtischen Aufarbeitungskommission. Ihn befragte Bernd Kastner, Journalist bei der Süddeutschen Zeitung, am 8. Mai 23 nach den in Aussicht gestellten Kompensationsleistungen:
„Wann wird über die endgültigen Summen entschieden?“ – „Noch ist offen, ob wir dafür den Abschluss der wissenschaftlichen Aufarbeitung abwarten.“
„Die hat immer noch nicht begonnen?“ – „Eigentlich sollte sie schon im letzten Sommer starten…..“
In dieser Art geht es weiter[1].
Was ist, wenn die Leute sterben?
Kastner hätte auch fragen können: Wie haben Sie bisher im Aufarbeitungsgremium die Zeit seit 2021 verbracht? Wenn in der Zwischenzeit schon viele gestorben sind, könnte sich die Stadt die Auszahlung der Zweitsumme ja sparen?
Weit gefehlt! Dazu Ignaz Raab: „Kürzlich haben wir an einen Betroffenen Soforthilfe ausgezahlt, und jetzt kam die Nachricht, dass er gestorben ist. Daran schließt sich die Frage an: Muss die Soforthilfe zurückgezahlt werden? Das muss der Staat einheitlich klären. Ich wünsche mir, dass es ins Erbe geht.“
Dafür sind wir Betroffene und unsere Angehörigen dem Vorsitzenden der Städtischen Aufarbeitung sehr dankbar. Diese Frage, die er hier aufwirft, kann natürlich nur geklärt werden, wenn jeder Betroffene gegenüber der Stadt nachweisen kann, dass er noch unter den Lebenden weilt. Ich sehe schon der Zusendung eines Formblattes entgegen, auf dem ich bestätige, dass ich noch nicht tot bin.
Der Oberaufklärer der Stadt räumt ein, dass solche Zahlungen grundsätzlich steuerfrei gestellt werden könnten, was aber seit Bestehen der Ausschussarbeit in zweieinhalb Jahren nicht vollständig geklärt ist: Hier brächte eine rasche Information der Überlebenden bzw. noch unter uns Weilenden rasche Hilfe.
Tja, so viel hätte gemacht werden können, was man der Öffentlichkeit besser vorenthält.
Die Stille der städtischen Aufarbeitung
„..um die städtische Aufarbeitung […] ist es ruhig geworden. Woran liegt das?“ „Wir arbeiten im Stillen, ohne mediales Aufsehen.“
Das mit der Unabhängigkeit, der Verschwiegenheitsverpflichtung und der aufarbeitenden Stille hat schon seine Vorteile. Endlich erschließt sich mir die Bedeutung der Unabhängigkeit des Ausschusses. Dazu gehört auch das Warten bis biologische Lösungen im Bündnis mit dem Verstreichen der Zeit dafür sorgen, dass die Arbeit des Ausschusses im Sande verläuft. So nicht nur meine Wahrnehmung.
Der Ruf nach dem Staat
Dass Herr Raab eine Intervention des Staates zur Aufarbeitung der Verbrechen sexuellen Missbrauchs fordert, ehrt ihn, aber was ist denn nun mit der Stadt? Was meint er denn eigentlich? Vielleicht kann man ihm nahebringen, dass auch die Stadt Staat ist. Kommunen unterliegen dem staatlichen Verwaltungsrecht. Insofern appelliert Herr Raab hier an die Aufarbeitung des Ausschusses, dem er vorsitzt. Ob er das wohl gemeint hat?
Soweit der Gastkommentar.
Wann wohl das Schwert Gottes zuschlägt?
Bei einem Spaziergang sah ich, dass es in München tatsächlich leuchtet: Der Erzengel Michael kämpft auf leuchtend goldenem Hintergrund. Er führt zwar kein Schwert, dafür aber eine Lanze. Ist es eine für Gerechtigkeit? Photo: Dierk Schäfer
[1] Hier der Link mit eingeschränktem Zugang, über den Sie im zweiten Schritt das ungekürzte Interview aus der SZ aufrufen können: https://www.sueddeutsche.de/muenchen/muenchen-missbrauch-kinderheime-aufarbeitung-ignaz-raab-1.5844370?reduced=true
Todessehnsüchtige junge Männer[1]
Sie lieben den Tod. Er soll sie groß machen und über ihre dürftige Existenz hinwegheben.
In der Erklärung der Motive von Amoktätern sind wir schon
weiter. Eine vermeintliche oder tatsächliche Kränkung ist der Ausgangspunkt
ihrer Rache, möglichst an denen, die sie für schuldig halten. Im Fall der
Amoktäter ist es meist ihre persönliche Umwelt: die Schule, in der sie versagt
haben.[3]
Die Kriminologin Britta Bannenberg nennt als Persönlichkeitsmerkmale[4]:
Täterpersönlichkeit 1
- Ängstliche stille Kinder
- Aufmerksamkeitsprobleme
- In der Grundschule bereits: Angst vor Gleichaltrigen, Lern- und Konzentrationsschwierigkeiten („Träumer“)
- Später „verstummt“, starren im Unterricht vor sich hin, Versetzungen aus Mitleid und als Belohnung für Wohlverhalten
Täterpersönlichkeit 2
- Rückzüglich, still, nicht aggressiv auffällig
- Verdacht oder Diagnose erheblicher Persönlichkeitsstörungen (narzisstische Persönlichkeitsstörung – depressive Phasen abgelöst von starken Hass- und Rachephantasien; Schwelgen in der Tatplanung)
- Die Täter wissen, dass etwas nicht mit ihnen stimmt (Hinweise, etwa Faltblatt …)
Täterpersönlichkeit 3
- Tagebücher, Aufzeichnungen, Äußerungen gegenüber Mitschülern, Gleichaltrigen …
- Einzelgänger – täuscht teilweise, da in der Schule zwingend Kontakt
- Äußerungen zu Suizid, Amok, großem Abgang … „ich werde es tun und nehme noch jemanden mit!“
Täterpersönlichkeit 4
- Unangemessene Kränkbarkeit – sie fühlen sich gemobbt, werden aber nicht gemobbt
- Hass, Ablehnung anderer, Rache – scheint nie nachvollziehbar und aufgesetzt
- Pubertäre Probleme vermischt mit grandiosen Ideen eigener Gewalt
- Zum Teil lange Tatplanung, Todeslisten, gedankliche Vorwegnahmen der Tathandlungen (die zum Teil auch ausgeführt werden) – sich steigernde Phasen
Täterpersönlichkeit 5
- Probleme im Umgang mit Mädchen und Sexualität – aus Schüchternheit und Wünschen nach Beziehungen wird Ablehnung und Hass
- Eltern wissen oder ahnen,
- dass ihr Sohn psychische Probleme hat, unternehmen aber nichts
- Lehrer bemerken Probleme nicht (unauffällige Schüler) oder sehen aus Hilflosigkeit über die schlechten Leistungen der verstummten Schüler hinweg
„Es scheint mir beim Phänomen Amok im Wesentlichen um Suizid
(Bilanz-Suizid) zu gehen, allerdings mit oft gezielt-aggressiv-tödlicher
„Mitnahme“ Anderer. Motiv oft: Vom nobody zum somebody![5]“
Die gilt nicht nur für Amoktäter,
sondern auch für
- die aktuellen Terrorangriffe [6]
- für Prominenten-Stalking mit Tötung
- für Kriegsbegeisterung
Bleiben wir bei den aktuellen Terrorangriffen mit vermeintlichen Feindbildern, vermeintlich, weil auf mehr oder weniger kollektiven Mythen aufsitzend. Die Täter sind nicht in erster Linie Antisemiten[7] oder Hasser des westlichen Lebensstils. Sie greifen nur die in ihrer Phantasiewelt gängigen Mythen und Schuldzuweisungen auf, um ihr Ungenügen und ihren Hass zu begründen.[8]
Helene Bubrowski und Constantin van Lijnden beschreiben «ein Radikalisierungsprogramm für erfolg- und orientierungslose junge Männer. … „Im Tod haben Mitglieder von Project Mayhem einen Namen“, heißt es im Film Fight Club, wo orientierungslose junge Männer sich unter Aufgabe ihrer Individualität für Zerstörungsaktionen gegen die Gesellschaft zusammenschließen, um ihrem Leben einen Sinn zu geben – wer dabei umkommt, den ehren die Verbliebenen, indem sie ihn wieder als Person anerkennen statt als bloße Nummer….
Doch bald wird er [B.] sich dort buchstäblich einen Namen machen. Bald, wenn er erst genügend Juden ermordet hat und schließlich selbst getötet wird, werden die anderen Anons[9] wissen, wie er wirklich heißt, und werden ihm einen Platz einräumen neben den anderen „Heiligen“« [Doch er hats verkackt:] »Sein Plan zerrinnt ihm in den Händen, als er die Tür zu seinem Anschlagsziel, einer Synagoge in Halle, verschlossen findet und stattdessen zunächst wahllos eine Passantin und sodann einen Mann in einem Dönerladen erschießt. „ER VERSAUTS TOTAL, AA-AHHH Ist das unbeholfen“, schreibt ein „Anon“, der das Video live betrachtet, … „Oh man, das ist wie eine Slap-stick-Komödie“, meint ein anderer.« [10]
Bubrowski und van Lijnden erwähnen auch den sexuellen Aspekt. Auf B. warten, ähnlich wie auf die Märtyrer im islamischen Paradies, Frauen: »in seinem Manifest fabuliert er von sexuell gefügigen japanischen Animefiguren, die ihn nach seinem Tod in „Valhalla“ erwarten würden, sogenannten „Wai-fus“. Der Begriff ist eine Verballhornung des Englischen „Wife“ (Ehefrau) und bringt die ganze traurige Einsamkeit der Incels[11] auf einen Punkt: Die „Waifus“, an deren Seite sie sich imaginieren, sind in ihrer Vorstellung ein Leben lang treue, hingebungsvolle, „echte“ Frauen, von denen sie mit großen Augen angehimmelt werden, die es aber auch mit gönnerhafter Fürsorge zu behandeln gilt. So verklärt und aus der Zeit gefallen dieses Frauenbild wirkt, so verquer sind auch die Vorstellungen darüber, wie man sich die Gunst seiner „Wai-fu“ zu verdienen habe: Wie ein „echter Mann“ nämlich, im mutigen und siegreichen Kampf mit dem Feind, den Juden. Das alles mag vollkommen bizarr klingen, ist aber letztlich nur das Produkt von geringer Sozialkompetenz und niedrigem Selbstbewusstsein[12], die in digitalen Echokammern über Jahre verstärkt, mit frauen- und fremdenfeindlichen Vorstellungen angereichert und schließlich zur mörderischen Reife gebracht werden.«
Wie bei manchen School-shootings gibt es auch von diesen Hass-Tätern Manifeste, die sie hinterlassen oder schon vor der Tat ins Netz stellen. Oder sie zwingen uns neuerdings gar per Webcam beim Angriff die Tat mit ihren Augen zu sehen.
Im Hintergrund haben wir in der Regel jedoch sich selbst bedauernde
Individuen, die den großen Abgang planen. Den sollten wir ihnen nicht gönnen,
sondern in den Medien ihre Erbärmlichkeit in den Vordergrund stellen, in der
Hoffnung, dass dies mehr abschreckt als die ins Auge springende fürchterliche
„Großartigkeit“ ihrer Taten. Es sind im Grunde arme, gekränkte „Würstchen“, in
den Tod verliebt, der ihnen die Größe verleihen soll, die ihnen – wie sie
meinen – zusteht.
[1] Zweite, erweiterte Auflage
[2] Arnold Böcklin, Die Pest
[3] Amok als Form der Kommunikation
Finale Kommunikation / Schlussabrechnung
- Jugendliche – School-shoting
- Familientragödien
[4] Britta Bannenberg, Amoklauf – Kriminologische Erkenntnisse über ein spezielles Phänomen von Tötungsdelikten
[5] Ausführliche Literatur beim Verfasser
[6] Dazu sollte auch der „Todesflieger“ gezählt werden https://dierkschaefer.wordpress.com/2015/03/28/das-lachen-der-tater/ Dazu auch: https://dierkschaefer.wordpress.com/2015/03/24/manner-morden-lachelnd/
[7] Remko Leemhuis schreibt auf Twitter: Die Mutter des Terroristen von #Halle: „Er hat nichts gegen Juden in dem Sinne, er hat was gegen die Leute, die hinter der finanziellen Macht stehen. Wer hat das nicht?“
[8] Thomas-Theorem: „If men define situations as real, they are real in their consequences“
Wenn Menschen Situationen für real halten, dann sind sie in ihren Konsequenzen real. https://de.wikipedia.org/wiki/Thomas-Theorem
[9] Anons, die noch Anonymen
[10] FAZ, 12.10.2019, S. 3
[11]»„Incels“ nennen sich dort Nutzer, die keine Frauen abbekommen, von „involuntary celibacy“, ungewolltes Zölibat. Zu ihren Merkmalen zählen weinerliches Selbstmitleid bei gleichzeitigem Selbsthass und ein unerfülltes Anspruchsdenken gegenüber Frauen, das schnell in Vergewaltigungs- oder Gewaltfantasien umschlägt.« FAZ, 12.10.2019, S. 3
[12] Dirk Lorenz schreibt auf Twitter: »Die Frage nach psychologischen Motiven stellt sich tatsächlich niemand, soweit ich das sehe. Dabei wurden im Haus des Täters mehrere Zettel mit der Aufschrift „Niete“ gefunden. Er selbst nannte sich in der Videoübertragung „Verlierer“. Think about it.«
17 Jahre Knast gab es für Dieter Schulz. Nun ist er gestorben. Wie sollen wir ihm gerecht werden?
Die Leser meines Blogs kennen Dieter Schulz. In vielen Folgen erschien hier seine Autobiographie[1].
Man sagt gern umschreibend, jemand habe das Zeitliche gesegnet. Doch das Zeitliche segnen konnte er wohl kaum. Denn die Zeiten waren nicht gut zu ihm, und er hat entsprechend reagiert.
Hier mein Nachruf:
Nachruf auf Dieter Schulz [2]
Sein Leben begann am 27. Januar 1940 und endete am 12. Juni 2019.
Was er erlebte, was er machte, reicht locker für drei Leben aus, wie ich schrieb, und keines wäre langweilig.
Was jedoch – oberflächlich gesehen – spannend ist, entpuppt sich als terrible, als erschreckend.
»War es den Aufwand wert, dieses beschissene Leben vor den Bomben zu retten?!« fragt Dieter selber in seiner Autobiographie und fasst damit seine schrecklichen, uns erschreckenden Kindheitserlebnisse zusammen.
Wie kann Leben unter diesen Startbedingungen gelingen?
Dass es „funktionieren“ kann, ist bei ihm nachzulesen.
Aber wie hat es funktioniert?
Nachrufe, also Rückbesinnungen auf kriminelle Karrieren sind kein Problem, wenn es sich um bedeutende Kriminelle handelt, also um Staatmänner, Feldherren, Patriarchen, auch Firmengründer. Entweder man lässt die kriminellen Passagen weg oder man schönt sie – und wenn der Nachrufer vom selben Kaliber ist, verherrlicht er sie sogar.
Doch was ist mit den „kleinen Leuten“?
»unsereins hinterlässt nur flüchtige spuren, keine
zwingburgen, paläste, denkmäler und tempel
wie heilige, herrscher, heerführer, auch keine
leuchttürme von wissen und weisheit.irgendwo in archiven überdauern daten
unseres dagewesenseins, – kann sein, eines tags
kommt ein forscher und ergänzt mit belanglosigkeiten
das bild unserer zeit, und wir sind dabei.«
Als „klein, aber oho“ habe ich Dieter Schulz charakterisiert. Ich denke, das trifft ihn ganz gut und er hat auch nicht widersprochen – gelesen hat er‘s. Man kann es nachlesen, demnächst in den Tübinger Schriften und Materialien zur Kriminologie. In meinem Dank für alle Beteiligten an dieser Veröffentlichung schreibe ich (und muss nun die Todesnachricht hinzufügen):
»Zuallererst danke ich Dieter Schulz für seine Autobiographie. Er hat sie als Mahnung an künftige Generationen verstanden und darin auch einen Sinn für seinen reichlich „schrägen“ Lebenslauf gesehen. Ich verwendete dafür im Mailwechsel das Sprichwort: Gott schreibt auch auf krummen Linien gerade. Aus seiner Idee einer eigenständigen Publikation entwickelte sich – nolens volens – eine kriminologische Fachpublikation, und Dieter Schulz musste ertragen, dass seine locker hingeschriebene und stark stilisierte Geschichte auch kritischen Augen standhalten musste mit nicht immer schmeichelhaften Schlussfolgerungen. Er hat dieses ertragen, so wie er auch – wieder nolens volens – die longue durée des Entstehungsprozesses erdulden musste, obwohl sie sich auf seine Seelenlage auswirkte: Zwischen Hoffnung und Depression. Herzlichen Dank, lieber Dieter Schulz! – Ich habe ihm diesen Dank vorweggeschickt, obwohl noch nicht alles „in trockenen Tüchern“ ist, denn sein Gesundheitszustand ist prekär.«
Nun hat ihn wenigstens dieser Dank noch lebend erreicht.
Was bleibt von diesem Leben?
Uns bleibt seine Autobiographie als „mahnend Zeichen“, ein zum Teil schrecklicher, erschreckender aber faszinierender Rückblick.
Und seine Angehörigen soweit sie noch leben? Seine diversen Frauen? seine Kinder?
Die Frauen werden wohl kaum von seinem Tod erfahren und wohl auch nicht alle seiner Kinder. Doch wer ihn „dicht bei“ erlebt hat, kommt nicht drumherum, für sich selbst das disparate, das erschreckend/schreckliche Bild von Dieter Schulz zu würdigen, – ja, zu würdigen! Er war ja nicht nur „der Täter“, von was auch immer. Er hat in seiner Lebensbeschreibung auch sein Inneres offengelegt. Er konnte weinen, nachts im Bett als Heimkind, und musste am nächsten Tag wieder auf der Matte stehen, Gefühle waren tabu. Bei allen Eitelkeiten verfügte er über ein hohes Maß an Selbstreflexion, auch darin konnte er rücksichtslos sein.
Ich möchte diesen Nachruf mit zwei seiner Idealfiguren abschließen, die ihn bestimmt haben.
Da ist zunächst seine über alles geliebte Mutter. Sie warf sich schützend über ihre Kinder, wenn Tiefflieger Jagd auf die Flüchtenden machten – da wuchs in aller Bedrohung das, was wir Urvertrauen nennen. Sie „hielt uns am Kacken“ schreibt er in seiner unnachahmlichen Drastik; im Psychologenjargon steht beides für die basic needs, für die Grundbedürfnisse. Sie versteckte ihn vor VoPo und Jugendamt, aber sie griff in ihrer Erziehungsnot auch zum Ausklopfer oder gar Schürhaken und gerbte ihm das Fell. Eine Frau, hart gemacht durch das Leben.
Auf der anderen Seite die unerreichbare Monika, sein Schwarm aus Dönschten, einem seiner vielen Kinderheime. Er sah sie nur am Fenster und verehrte sie, wie ein Minnesänger seine unerreichbare Dame. Sie zählt zu den Adressaten, die er in seiner Lebensbeschreibung nennt. Sie soll nicht alle seiner Verirrungen lesen, um kein schlechtes Bild von ihm zu bekommen.
Wir
aber haben alles gelesen und müssen sehen, wie wir auf diesen krummen Linien
gerade schreiben, um ihm gerecht zu werden. Er hat es verdient.
[1] https://dierkschaefer.wordpress.com/wp-content/uploads/2017/07/inhaltsverzeichnis.pdf
[2] Die Todesanzeige wurde mir von seinem Sohn Sascha übersandt.
BGH-Urteil: Ärzte haften nicht für künstlich verlängertes Leiden am Lebensende
Gegen den furor medicinalis hilft auch keine Patientenerklärung. Der Arzt darf weiter liquidieren und kann nicht belangt werden.
Textquelle für den Titel: https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2019-04/bgh-urteil-schmerzensgeld-lebensverlaengerung-arzthaftung
„Aufrecht“ sterben – Fragen an den Gesundheitsminister –Zweite Runde, Präzisierungen
Die erste Runde war mein offener Brief an Gesundheitsminister Spahn[1] und die Antwort von Dr. Riehl „im Auftrag. [2]
Nun geht es in die zweite Runde, weil noch Fragen offengeblieben waren oder einfach übergangen wurden.
Also der nächste Offene Brief[3] – und die Antwort soll wieder hier im Blog erscheinen.
Sehr geehrter Herr Minister Spahn, sehr geehrter Herr Dr. Riehl,
es ist nicht vorwerfbar, wenn ein Ministerium rechtspositivistisch argumentiert. Allerdings wird hier ein höchstrichterliches Urteil ignoriert. Ich zitiere aus dem in meinem Offenen Brief[4] genannten Artikel: »Das Bundesverwaltungsgericht hatte im März 2017 letztinstanzlich entschieden, dass Schwerkranke in einer unerträglichen Leidenssituation vom BfArM ausnahmsweise eine Erlaubnis zum Erwerb tödlich wirkender Betäubungsmittel erhalten können. Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) weigert sich jedoch, das Urteil umzusetzen, da es den Staat zur Suizidassistenz verpflichte.«[5]
Der Verweis auf den Gesetzgeber ist ebenso unzureichend wie der auf das Di Fabio-Gutachten. Das Parlament mag Gesetze erlassen, doch die unterliegen der Rechtsprechung, besonders wenn sie höchstinstantlich von einem Bundesgericht kommt – und: Gutachten kann man viele einholen – bis sie genehm sind. Es geht also offenbar um ein politisches, oder besser um ein ideologisches Anliegen.
Es war jedoch nicht die persönliche Meinung von Herrn Spahn, die ich „ethisch verwerflich“ genannt habe, sondern dass „Sterbende mit ihren existentiellen Anliegen auf die lange Bank des Hinhaltens oder der Nichtbefassung“ geschoben werden „und dies mit allen Mitteln, die der bürokratische Abschiebebahnhof bietet, noch dazu, wenn sie rechtlich zumindest problematisch sind.“[6]
Meine grundlegende Frage ist jedoch nicht aufgegriffen oder nicht verstanden worden.
Darum will ich sortieren:
Die Sterbehilfedebatte hat – wie auch der Minister – den Patienten in seiner schon länger andauernden Sterbephase im Blick, der „nicht wieder wird“, wie man zu sagen pflegt. Er liegt schon nicht mehr auf der Intensivstation, sondern wird so gut es geht sediert, damit die Schmerzen erträglich gehalten werden können.[7] Da hilft die Palliativmedizin. Und wenn das den Vorstellungen, den geäußerten Wünschen des Patienten entspricht, ist das auch gut so. Irgendwann taucht dann im Gespräch mit ihm selbst oder seinen Angehörigen die Frage auf: Es ist aussichtslos. Wie lange soll er noch leiden? Nun kann man stärker sedieren und weiß, dass dies – ohne Absicht – zum Tod führen könnte, die Schmerzbehandlung hat Vorrang. Doch nach all meinen Erfahrungen will – wenn sterben denn unser unabwendbares Schicksal ist – kaum jemand ein solches Ende, sondern es ist – Paul Gerhard verkürzt – der Wunsch vorherrschend: Mach End, o Herr, mach Ende mit aller unsrer Not…[8] Gleiches gilt für den oft geäußerten Wunsch, nicht aussichtslos von Apparaten am Leben gehalten zu werden, auch nicht als lebende Organbank. Auch das Bundesverwaltungsgericht dachte nur an diese beiden Gruppen von Sterbenden. Es hatte darum „letztinstanzlich entschieden, dass Schwerkranke in einer unerträglichen Leidenssituation vom BfArM ausnahmsweise eine Erlaubnis zum Erwerb tödlich wirkender Betäubungsmittel erhalten können.“[9]
Nicht im Blick hat man die andere Gruppe: Menschen, die angesichts einer mehrfach professionell abgesicherten Letaldiagnose den Zeitpunkt ihres Todes frei bestimmen und mit einer realistischen Bilanzsuizid „das Zeitliche segnen“ wollen.
Dies aber war der Ausgangspunkt meines Offenen Briefes. Da gibt es jemanden – und nicht nur einen – der, wie ich es nannte „aufrecht“ sterben will. Er will nicht die oben beschriebene Endphase erleiden, selbst wenn sie schmerzfrei gestaltet werden könnte, sondern er hält einen solchen Zustand mit seiner Menschenwürde nicht vereinbar. Wenn wir wegen einer akuten Erkrankung im Krankenhaus auf die Bettpfanne gesetzt werden, ist das etwas anderes, als bis zum Tod gewickelt zu werden wie ein Säugling.[10]
Es wäre zynisch zu sagen, das muss man mögen. Aber muss man’s erdulden, wenn man’s vermeiden kann? Muss man dafür – so war meine Frage – einen anderen Rechtsraum aufsuchen? Hier hilft natürlich die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts nicht weiter, weil die „unerträgliche Leidenssituation“ noch nicht eingetreten ist.
Nun meine Fragen:
1. Wie steht es mit der freiwilligen Mitwirkung eines Arztes? Darf er einem Sterbewilligen Pentobarbital oder ein ähnlich wirksames Medikament verschreiben, wenn dieser bei vollem Bewusstsein und Darlegung seiner nachvollziehbar aussichtslosen Situation ihn darum bittet? Macht er dann – als Profi – dieses „berufsmäßig“?[11]
2. Falls er darf – wie komme ich an seine Adresse, besser eine Liste von erfahrenen Ärzten, die bereit sind, einem Sterbewilligen in dieser Stunde seiner Entscheidung hilfreich und professionell beizustehen?
Haben wir hier eine Analogie zum Werbeverbot für Ärzte, zu deren Leistungsangebot die Abtreibung[12] gehört? Ein Fötus wird – in der Regel – gegen seine wohlverstandenen Interessen getötet. Warum gilt das nicht für den Sterbewilligen, der diesen Willen glaubhaft bekundet? Wo kann er in Deutschland professionelle Hife bekommen?
Die beiden Zeichnungen stammen von Christof Breuer entnommen aus: Dierk Schäfer und Werner Knubben, … in meinen Armen sterben? Vom Umgang der Polizei mit Trauer und Tod, Hilden, 19962
Sie waren dem Vorab-Mail nicht beigefügt.
Fußnoten
[1] „Aufrecht“ sterben – Fragen an Gesundheitsminister Spahn – Ein offener Brief in einer Angelegenheit von öffentlichem Interesse https://dierkschaefer.wordpress.com/2019/02/20/aufrecht-sterben-fragen-an-gesundheitsminister-spahn-ein-offener-brief-in-einer-angelegenheit-von-oeffentlichem-interesse/
[2] https://dierkschaefer.wordpress.com/2019/04/01/aufrecht-sterben-meine-fragen-an-den-gesundheitsminister/
[3] gestern vorab per Mail übermittelt an Gesundheitminister Spahn und Dr. Riehl
[4] , https://dierkschaefer.wordpress.com/2019/02/20/aufrecht-sterben-fragen-an-gesundheitsminister-spahn-ein-offener-brief-in-einer-angelegenheit-von-oeffentlichem-interesse/
[5] https://www.tagesspiegel.de/politik/gesundheitsminister-ignoriert-urteil-jens-spahn-verhindert-sterbehilfe/24010180.html
[6] siehe Fußnote 3
[7] Beim „Leichenschmaus“ hört man dann: „Die letzten Monate hätten nicht sein müssen“.
[8] Ich will hier keine theologische Diskussion eröffnen, kann das auf Wunsch aber gern tun.
[10] Auf die Malessen des Alters und ihre Begleiterscheinungen durch die gar nicht mal böswillige Behandlung in Alters- oder gar Pflegeheimen will ich hier nicht eingehen und verweise nur auf die Erkennisse der Altenpflegerin Heinisch https://dierkschaefer.wordpress.com/2011/07/24/nur-ein-fall-von-meinungsfreiheit/
[11] Überhaupt ist die Vorstellung, Sterbehilfe dürfe nicht berufsmäßig ausgeführt werden, mehr als merkwürdig. Überall wollen wir professionelle Hilfe, gerade im gesundheitlichen Bereich. Und jetzt sollen wir uns Dilettanten anvertrauen – in so einer wichtigen Operation? Oder sollen wir – ebenso unerfahren – selber Hand an uns legen? Wer klar denkt, kann das nicht wollen.
[12] Ich verwende hier den klinisch sauberen Ausdruck für das, was eigentlich Fötucid genannt werden sollte.
„Aufrecht“ sterben – meine Fragen an den Gesundheitsminister
Er hat geantwortet, nicht er selbst, sondern „Im Auftrag Dr. Markus Riehl“. Das ist ok. Ich hatte eine Antwort erbeten, die vom Minister verantwortet wird und sie nun bekommen.
Hier ist zunächst die unveränderte Antwort aus dem Ministerium.
Morgen erscheint in diesem Blog meine Antwort. Ich will den Minister und sein Ministerium als erste per Mail informieren, bevor ich meine Antwort veröffentliche.
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AW die Haltung des BMG
Sehr geehrter Herr Schäfer,
vielen Dank für Ihre E-Mail vom 19. Februar 2019 an Herrn Minister. Er hat mich gebeten, Ihnen zu antworten.
In Ihrer E-Mail äußern Sie Ihr Unverständnis über die Bitte des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), Anträge auf Erteilung von betäubungsmittelrechtlichen Erwerbserlaubnissen für eine tödlich wirkende Dosis eines Betäubungsmittels zum Zweck der Selbsttötung zu versagen.
Die Selbsttötung und die nicht geschäftsmäßige Beihilfe hierzu sind straffrei, was dem verfassungsmäßig verbürgten Selbstbestimmungsrecht entspricht. Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten und der Patientin kann im Zusammenhang mit einer medizinischen Behandlung auch durch eine Patientenverfügung, eine Vorsorgevollmacht oder eine gesundheitliche Vorausplanung ausgeübt werden. Niemand darf gegen seinen Willen durch medizinische Maßnahmen am Leben erhalten werden.
Etwas anderes ist es aber, von einer staatlichen Stelle eine aktive Mithandlung für die Verschaffung des Selbsttötungsmittels zu verlangen.
Gerne möchte ich Ihnen die Haltung des BMG erläutern, nach der es nicht Aufgabe des Staates und der in seinen Behörden Beschäftigten sein kann, Selbsttötungshandlungen durch eine behördliche, verwaltungsaktmäßige Erteilung von Erlaubnissen zum Erwerb des konkreten Suizidmittels aktiv zu unterstützen. Der Staat darf sich nach Ansicht des BMG nicht an der Bewertung von menschlichem Leben beteiligen. Darauf liefe die Befassung des BfArM hinaus, bei der Staatsbedienstete bewerten und entscheiden müssten, ob menschliches Leiden unerträglich ist.
Die Erteilung einer Erwerbserlaubnis für Betäubungsmittel nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 Betäubungsmittelgesetz (BtMG) zur Selbsttötung ist nicht mit dem Zweck des BtMG vereinbar, die notwendige medizinische Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen.
Würde man die Regelung des § 5 Absatz 1 Nummer 6 BtMG dahingehend auslegen, dass der Erwerb eines Betäubungsmittels für eine Selbsttötung mit dem Zweck des Gesetzes, die notwendige medizinische Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen, ausnahmsweise vereinbar sei, wenn sich der suizidwillige Erwerber wegen einer schweren und unheilbaren Erkrankung in einer extremen Notlage befinde, so würde dies bedeuten, dass die Beendigung des Lebens als therapeutischen Zwecken dienend angesehen würde. Eine Selbsttötung kann jedoch keine Therapie sein.
Eine solche Entscheidung wäre nicht zu vereinbaren mit den Grundwerten unserer Gesellschaft wie auch nicht mit den Grundwertungen des Deutschen Bundestages, auf denen die Neureglung des § 217 Strafgesetzbuch in der Fassung des Gesetzes zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung vom 3. Dezember 2015 beruht. Der parlamentarische Gesetzgeber hat sich ausdrücklich dagegen ausgesprochen, die Legitimität der Suizidassistenz an die Erfüllung materieller Kriterien – wie schweres und unerträgliches Leiden – zu knüpfen. Dies hat das BMG zu respektieren.
Auch wäre eine Erteilung von betäubungsmittelrechtlichen Erwerbserlaubnissen für eine letale Dosis eines Betäubungsmittels zum Zweck der Selbsttötung mit schwerwiegenden (verfassungs-) rechtlichen Fragestellungen verbunden, auf die der Verfassungsrechtler und ehemalige Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Dr. Di Fabio in einem im Auftrag des BfArM erstellten Rechtsgutachten hinweist.
Um die Versorgung von Menschen am Lebensende zu verbessern und Schmerzen zu lindern, hat der Gesetzgeber im Übrigen nach intensiven Diskussionen im Jahr 2015 zu Fragen der palliativen und hospizlichen Versorgung gesetzliche Regelungen beschlossen, mit denen diese Hilfen ausgebaut werden.
Der Lebensschutz wird in Bezug auf schwerkranke oder leidende Menschen unter anderem realisiert durch alle Maßnahmen, die im Rahmen der Gesundheitsversorgung und Pflege, der Hospiz- und Palliativversorgung sowie der Suizidprävention erfolgen. Das BMG wird sich nach Kräften dafür einsetzen, die Hilfen für Pflegebedürftige, Schwerstkranke und Menschen mit Sterbewunsch weiter auszubauen und zu verbessern.
Mit freundlichen Grüßen
Im Auftrag
Dr. Markus Riehl
Leiter des Referates 122– Betäubungsmittelrecht,
Betäubungsmittelverkehr,
Internationale Suchtstofffragen
Bundesministerium für Gesundheit
Rochusstraße 1, 53123 Bonn
Postanschrift: 53107 Bonn
Tel.: +49 (0)228 99441-0
Fax: +49 (0)228 99441-1742
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Photo: Dierk Schäfer, https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/4117346923/
Am Aschermittwoch ist alles vorbei
Karneval – Fasching – Fasnet[1]
Die Landkarte der schwäbisch-alemannischen Fasnet, auch die des rheinischen Karnevals, ist stark konfessionell strukturiert. In den meisten evangelischen Gebieten ist die Fasnet nicht heimisch, auch wenn es seit den letzten Jahrzehnten dort die eine oder andere Veranstaltung geben mag, vielleicht sogar einen Umzug. Noch in den 80er Jahren konnte man auf dem Weg von Tübingen nach Rottenburg schon vom Auto aus die Konfessionalität des Ortes erkennen, bis Kilchberg ist alles evangelisch, ab Bühl ist man im katholischen Bereich, denn ab dort waren bunte Wimpel über die Straße gezogen und die Kinder in irgendeiner Weise verkleidet. Mir ist noch der heftige Streit in Erinnerung[2], als Eltern im von Grund auf evangelischen Gomaringen forderten, im Kindergarten solle Fasching gefeiert werden dürfen – alle Kindergärten des Ortes waren in evangelischer Trägerschaft. Der Streit kehrte jedes Jahr wieder. Der damalige Ortspfarrer wollte in kirchlichen Kindergärten, wie er sagte keinen heidnischen Brauch, teuflisch sei der ganze Mummenschanz.[3] Wenn inzwischen auch die ganz harten Fronten abgebaut sind, so bleibt doch auf evangelischer Seite bis heute weitgehendes Unverständnis für das Phänomen der Fastnacht, denn der Fasching ist weithin nicht verstanden worden, weder von denen, die ihn feiern, noch von denen, die ihn verachten oder gar bekämpfen. Ich halte mich hier im wesentlichen an die Forschungsergebnisse der neueren Brauchtumsforschung, insbesondere an Prof. Werner Mezger aus Rottweil, der den Volkskundelehrstuhl in Freiburg innehat.[4]
Schon der sprachliche Unterschied zwischen Karneval und Fastnacht ist kein inhaltlicher. Viele Menschen, so schreibt Mezger, leiten die Ursprünge des Karnevals direkt von den römischen Festen der Bacchanalien oder Saturnalien her, die Wurzeln der Fastnacht, alemannisch: Fasnet, lägen dagegen in »grauer Vorzeit«, nämlich in den Winteraustreibungs- oder gar den Totenkulten der Germanen. Die gesamte neuere Forschung ist sich jedoch darüber einig, dass beide Brauchtumsformen, Fastnacht und Karneval, keineswegs aus vorchristlicher Zeit stammen, sondern dass sie ihren gemeinsamen Ausgangspunkt voll und ganz im christlichen Jahreslauf haben, wo sie von Anfang an das Schwellenfest vor dem Anbruch der vierzigtägigen Fastenzeit vor Ostern bildeten, die mit dem Aschermittwoch beginnt.
Die deutsche Bezeichnung erklärt sich ohnehin von selbst: Ebenso wie der Abend vor dem Geburtsfest Christi »Weihnacht« heißt, meint »Fastnacht« nichts anderes als den Vorabend der Fastenzeit … aber auch der romanische Begriff »Karneval« stellt einen inhaltlich nicht minder klaren Sinnbezug zum Fasten her. Das Kirchenlatein nannte den Eintritt in die Abstinenzperiode nämlich »carnislevamen«, »camisprivium« oder »cametollendas«, zu übersetzen etwa mit »Fleischwegnahme«.
Untersagt war nämlich, übrigens unter Androhung empfindlicher Strafen, in den sechs Wochen zwischen Aschermittwoch und Ostern nicht nur der Konsum des Fleisches von warmblütigen Tieren, sondern auch der Genuß aller weiteren aus Großvieh- und Geflügelhaltung gewonnenen Nahrungsmittel wie Schmalz, Fett, Milch, Butter, Käse und Eier. Dies hatte für die Gestaltung der letzten Tage vor der Periode der Enthaltsamkeit zur Folge, dass eigens noch mal geschlachtet und in großen Mengen Fleisch verzehrt wurde, was spätestens seit dem 13. Jahrhundert im Rahmen großer öffentlicher Gelage geschah. Zudem suchte man nach Wegen, die verderblichen Vorräte sämtlicher übrigen unters Fastengebot fallenden Speisen vollends aufzubrauchen. Aus der Notwendigkeit solcher Resteverwertung entstanden unter anderem die traditionell schmalzgebackenen, reichlich eierhaltigen Fastnachtsküchlein oder –krapfen, meist Berliner genannt.
Vertreter der weltlichen und der geistlichen Obrigkeit begegneten dem ausgelassenen Treiben am Vorabend der Fastenzeit in der Regel mit Toleranz, legten aber seine Grenzen durch penible Fastnachtsordnungen genauestens fest. Punktuelle Kritik an allzu großer Zügellosigkeit in den Tagen vor Aschermittwoch hatte es vonseiten der Geistlichkeit schon immer gegeben, aber dahinter stand zunächst noch kein geschlossenes ideengeschichtliches Konzept.
Doch etwa ab 1400 setzte eine Entwicklung ein, die man schlagwortartig als Diabolisierungsprozeß bezeichnen könnte. Während nämlich der Festtermin Fastnacht an sich von den Theologen anfangs noch weitgehend wertneutral gesehen und von einzelnen Klerikern je nach persönlicher Gestaltung sogar mit mystiknahen Bildern in Verbindung gebracht wurde, trat an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit eine regelrechte »Verteufelung« ein. So konnte etwa um 1360 ein Dominikanermönch in Rottweil noch völlig unbefangen eine Predigt »von vasnaht krapfen« formulieren, in der er Christus selbst als »geistlichen »vasnaht buoln« der gottgefälligen Seele schilderte[5], während knapp anderthalb Jahrhunderte später Sebastian Brant in seinem Erfolgsbuch »Das Narrenschiff«[6] die Fastnacht mit der wenig freundlichen Feststellung charakterisierte: »Der tüfel hat das spil erdacht.« Damit war alles gesagt, was die führenden Gelehrten seiner Generation von der Fastnacht hielten.
Besonders interessant aber ist, woher die dafür nötigen Schreckmasken und Kostüme häufig stammten. Sie wurden nämlich offenbar bevorzugt aus den kirchlichen Requisitenkammern für geistliche Schauspiele und Prozessionen entliehen, wo zur Darstellung des Bösen in der Regel ein reicher Bestand an Dämonenverkleidungen lagerte. In Überlingen etwa sind solche Ausleihvorgänge von Teufelsgewändern aus dem Kostümfundus der Pfarrkirche Sankt Nikolaus zur fastnächtlichen Nutzung gut dokumentiert. Dort heißt es in einer Fastnachtsordnung, wer vor Aschermittwoch das »tewfel häs« [= Teufelskleid] vom Kirchenpfleger entlehnt habe, der solle dies anschließend wieder vereinbarungsgemäß zurückgeben; und wer umgekehrt sich extra für die Fastnacht auf eigene Kosten ein solches Teufelshäs machen lasse, der möge dies das Jahr über der Pfarrkirche für den »Crutzganng«, also für die Prozession, vermutlich an Fronleichnam, zur Verfügung stellen.[7] Soviel zur Figur des Teufels in der schwäbisch-alemannischen Fastnacht – und der Familienname Teufel stammt, soviel ich weiß, aus diesem Brauchtum. So auch der im Schwäbischen nicht seltene Familienname Narr.
Die Figur des Narren ist theologisch noch interessanter, als die des Teufels in der Fastnacht. Die ältesten bildlichen Darstellungen von Narren finden sich nämlich nicht etwa in einem lustig-profanen, sondern stets in einem ernst-religiösen Kontext, und zwar in Psalterhandschriften jeweils am Anfang des Psalms 52 wo es heißt: »Dixit insipiens in corde suo: non est Deus – der Narr sprach in seinem Herzen: Es gibt keinen Gott.«[8]
Narrheit war also ihrem eigentlichen Sinne nach gleichzusetzen mit Geistesblindheit, Ignoranz und Gottesleugnertum, ja sie stand sogar für die Erbsünde überhaupt. Aus der Entwicklung der Psalterillustration von 1200 bis 1500, genauer gesagt, aus der Art und Weise, wie am Textbeginn des Psalms 53 der Narr jeweils abgebildet wurde, läßt sich dessen schrittweise äußerliche Standardisierung ablesen, die bis ins kleinste Detail zeichenhafte Bedeutung hatte. So wurde der »Insipiens« zunächst mit einer Keule und einem Brot in der Hand wiedergegeben, dann mit Eselsohren und bestimmten Gewandfarben, meist grellgelb und knallrot, gekennzeichnet, schließlich mit einem Narrenzepter, der sogenannten Marotte ausgestattet,[9] und endlich mit Schellen und einem Hahnenkamm oder gar einem ganzen Hahnenkopf auf der als »Gugel« geschnittenen Kappe versehen, bis zuletzt am Vorabend der Neuzeit ein fest umrissener, optisch unverwechselbarer Typus geschaffen war.
Da nun die Fastnacht nach Ansicht der Theologen ebenfalls nichts anderes war als die zeitlich befristete Demonstration einer heillosen, gottfernen Welt, drängte sich als deren entscheidende Integrationsfigur und wichtigste Spielrolle die Gestalt des Narren geradezu auf. In der Tat nahmen Standardnarren mit Schellen und Eselsohren im Mummenschanz der tollen Tage vom Ende des 15. Jahrhunderts an immer mehr zu, bis das Kompositum »Fastnachtsnarr« schließlich sogar zur Generalbezeichnung für sämtliche fastnächtlichen Masken- und Kostümträger gleich welcher Art wurde.
Mit der zentralen Botschaft der Gottferne verband sich im Bedeutungsgehalt der Narrenfigur freilich noch eine weitere Dimension, die heute so gut wie vergessen ist.
Da ist einerseits die Beteiligung des Narren am Leidensweg Christi. Künstler zeigen den Narren an der Geißelung Christi beteiligt und er macht seine Späße auch unter dem Kreuz.
Andererseits haben wir die Nähe des Narren zur Vergänglichkeit. Durch die faktische Gleichsetzung von Narrheit und Erbsünde hatten beide zwangsläufig auch dieselbe Konsequenz. Mit anderen Worten: Wenn nach biblischer Auffassung durch den Sündenfall Evas der Tod in die Welt gekommen war, so mußte die Narretei wie die Erbsünde ebenfalls in eine enge Beziehung zum Tod rücken. In der Tat legen davon seit dem späten 15. Jahrhundert zahlreiche Darstellungen der Sakral- und Profankunst beredtes Zeugnis ab. Ein Beispiel: Für eine Seitenkapelle des Südschiffs der Rottweiler Pfarrkirche Heiligkreuz hat um 1495/96 ein unbekannter Steinmetz eine Gewölbekonsole in Gestalt eines Narren gemeißelt. An genau der entsprechenden Stelle, die in der einen Seitenkapelle dem Narren zugewiesen ist, befindet sich nämlich in der nächsten Kapelle ein grinsender Totenschädel mit der eigens hinzugefügten Aufschrift »Memento mori«, bedenke, dass du sterben mußt.[10]
Diese makabre Bedeutungsnähe der Narrenidee zur Vergänglichkeitsvorstellung, macht es hochgradig sinnreich und in sich stimmig, wenn die Kirche ihren Gläubigen traditionell nur wenige Stunden nach den Narreteien der Fastnacht das Aschenkreuz auflegt und ihnen damit eindringlicher als an jedem anderen Termin des liturgischen Jahres das »Memento mori« vor Augen führt. Die weitgehend säkularisierte Welt von heute nimmt dieses großartige Zusammenwirken von profanem Brauch und sakralem Ritus als Instrument der Katechese, der Belehrung, überhaupt nicht mehr wahr. Den spätmittelalterlichen Menschen aber war sie wohl bewußt, oder sie haben zumindest etwas davon geahnt: Ohne die Einsicht des Narren am Aschermittwoch verliert die Narrheit des Christen in der Fastnacht ihren Sinn.
Fußnoten
[1] Wir haben heute zwar erst den Schmotzigen, doch kommenden Mittwoch ist schon wieder alles vorbei. Mit dem Schmotzigen Donnerstag beginnt in der schwäbisch-alemannischen Fastnacht die eigentliche Fastnachtszeit. https://de.wikipedia.org/wiki/Schmotziger_Donnerstag
[2] Prinz Karneval und Frau Fasten sind … Spottbilder der Konfessionen: Protestanten hatten die Fastenzeit abgeschafft, da nach ihrer Ansicht weder Buße, Enthaltsamkeit noch gute Werke den Menschen vor Gott rechtfertigen, sondern allein der Glaube. https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Kampf_zwischen_Karneval_und_Fasten
[3] Der Kollege hat mit seiner Unkenntnis letztlich dafür gesorgt. dass sich die kommunale Gemeinde genötigt sah, kommunale Kindergärten mit Narrenfreiheit einzurichten
[4] Werner Mezger, Das große Buch der schwäbischalemannischen Fasnet, Stuttgart 200l2, S. 8-17, die Zitate hieraus sind nicht einzeln kenntlich gemacht.
[5] Narrenmesse in Rottenburg, Pfarrer bei der Predigt: https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/12913073883/ , Narrenkapelle https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/12912938805/
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Narrenschiff_(Brant) https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/2508734787/in/album-72157605161879068/
[7] In der Überlinger Kirche wird allerdings auch deutlich vor Augen geführt, was auf die Sünder wartet: https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/36848781115/
[8] https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/39249138865/in/dateposted-public/
[9] https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/33144614495/in/album-72157605021022505/
[10] https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/40093380142/in/dateposted-public/
Ein Nachruf wäre angemessen gewesen, doch die Größe zur Demut hatten sie nicht.
Schade. Auch wenn Helmut Jacob zu Lebzeiten ein unermüdlicher Kämpfer für die geschundenen Kinder der Volmarsteiner Anstalt und damit unbequem war, so galt es doch seine Lebensleistung zu würdigen, ohne „Betroffenheitsgestammel“, wie er es nannte, aber in ehrlichen Worten der Anerkennung und einer Verneigung vor dem Verstorbenen. Leitungspersonen der Anstalt waren zwar bei der Trauerfeier in der Kirche zugegen, doch das war’s, um mit den Worten von Helmut Jacob zu sprechen
An Würdigung hat es ansonsten nicht gefehlt. Für Helmut Jacob gab es in der fast voll besetzen Anstaltskirche eine kirchliche Trauerfeier. Vor dem Altar waren die Urne und ein großes Photo von ihm aufgestellt. Sein Chor, er war dort Mitglied, sang sehr schön. Pastor Jochen Twer, Taufpate und Weggenosse von Helmut Jacob, hielt eine sehr einfühlsame Predigt. twer-jakob
In meinem Nachruf verlas ich den Text aus meinem Blog und die Reaktionen (Kommentare) anderer ehemaliger Heimkinder. (beides unter: https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/10/18/helmut-jacob-ist-tot-ein-nachruf/ ).
Helmut Jacob war mit guten Gründen aus der Kirche ausgetreten und hatte dies auch kundgetan: http://helmutjacob.over-blog.de/article-die-kirche-die-sie-reprasentieren-hat-hilflose-geschopfe-gottes-zu-opfern-gemacht-austrittsbe-123811981.html . Ich hielt es für angemessen und erforderlich, seine Gründe zu verlesen und schloss mit einer Bibelstelle, die mir gleich durch den Kopf gegangen war, als ich von seinem Tod hörte:
Ich habe einen guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe Glauben gehalten; hinfort ist mir beigelegt die Krone der Gerechtigkeit. (2.Timotheus 4, 7f). Ja, er hat den Glauben gehalten, anders als seine Kirche. In unserer Erinnerung trägt er die Krone der Gerechtigkeit.
Es war bewegend zu sehen, wie die Trauergemeinde, viele davon im Rollstuhl, im Regenwetter auf dem Friedhof von ihm Abschied nahmen.
Danach kamen wir im katholischen Gemeindehaus zusammen und ich lernte Helmut Jacob ganz anders kennen als bisher. Eine Photo-Präsentation machte mir sein Leben lebendig, auch ein sehr launiger Vortrag. Es durfte gelacht werden und es wurde gelacht. Ja, so war er. Ich bin sicher, dass es ihm gefallen hätte. Photos von ihm zum Mitnehmen klebten an der Wand. Später stieß ich im Netz auf den Nachruf seiner Assistentinnen. Einen so reizenden Nachruf bekommt nicht jeder, dafür muss man schon eine besondere und liebenswerte Persönlichkeit gewesen sein: http://jacobsmeinung.over-blog.com/2017/10/abschied-von-helmut.html
Die Traueranzeige schloss mit den Worten:
Wer in Helmuts Sinne tätig sein möchte, kann an die Evangelische Stiftung Volmarstein – Marianne Behrs Haus – spenden. IBAN: DE40 3506 0190 2101 5990 54 – Kennwort: Beerdigung Helmut Jacob -.
Marianne Behrs lebte in Volmarstein auf der untersten Stufe der Hackordnung. Ihr Gedenken ist verbunden mit dem an Helmut Jacob. Ich werde in einigen Tagen hier im Blog auf Marianne Behrs zurückkommen.
Helmut Jacob ist tot – Ein Nachruf
Er war ein unerschütterlicher Kämpfer für die Sache der ehemaligen Heimkinder – und er war selber eins. Doch trotz eigener Betroffenheit war er abgewogen in seinem Urteil und auch in den Verurteilungen. Das habe ich an ihm geschätzt und ich bin traurig, dass er so früh, mit 67 Jahren, an seinem Geburtstag, gestorben ist. Noch sechs Tage vor seinem Tod schrieb er einen Nachruf auf Lisa P., und beschrieb damit auch seinen Einsatz für sie.[1]
Gesehen habe ich ihn nie, ein- oder zweimal mit ihm telefoniert. Aber unser Mailkontakt war sehr rege. Hauptthema natürlich die ehemaligen Heimkinder, wie man damals mit ihnen umgegangen ist und wie sie von den Vertretern aus Staat, Kirchen und ihren Sozialeinrichtungen mit der willigen Hilfe von Frau Dr. Antje Vollmer, Pfarrerin, über den Runden Tisch gezogen wurden.
Die Stimme der geschlagenen Kinder, nannt ihn die Westfalenpost. Sein Leserbrief an die kirchliche Wochenzeitung „Unsere Kirche“ im Frühjahr 2006 hatte die Lawine los getreten. „Die Hölle von Volmarstein“ lag plötzlich nicht mehr im Verborgenen. »Helmut Jacob aus Wengern erinnerte an die wehrlosen Kinder, die in der damaligen Krüppelanstalt an Leib und Seele misshandelt worden waren. Übertriebene Fantasien eines Opfers, späte Rache oder einfach nur Nestbeschmutzung? Ein paar Jahre später bescheinigten zwei Historiker, dass es in der Hölle von Volmarstein noch schlimmer zugegangen war als von Helmut Jacob geschildert. Das Buch liegt vor, dutzende von Leidensberichten auch. Und doch geht der Kampf weiter, den die Freie Arbeitsgruppe Johanna-Helenen-Heim 2006 vor ziemlich genau zehn Jahren aufgenommen hat. … Helmut Jacob war selbst einer von denen, die in dem Heim von Diakonissen klein gemacht wurden. „Der Umfang der Gewalttätigkeiten reichte vom morgendlichen Blauschlagen kleiner Finger mit dem Krückstock bis dahin, dass die Kinder ihr eigenes Erbrechen essen mussten.“ Neben fünf äußerst gewalttätigen Schwestern „war der allerschlimmste Satan eine schwerstbehinderte Lehrerin, die mit ihrem orthopädischen Hilfsmittel, dem Krückstock, die Kinder manchmal bis zur Besinnungslosigkeit schlug.“«[2]
Erst spät konnte Helmut Jacob sich dazu durchringen, das Almosen zu akzeptieren, das von den Medien immer fälschlich „Entschädigung“ genannt wird. In unserem Urteil über die mafiöse Kumpanei von Staat und Kirchen waren wir uns einig. Doch aus der Kirche trat er erst aus, als auch sein Gemeindepfarrer sich als große Enttäuschung erwies. Trotz all dieser Erfahrungen verstand er sich als Christ[3] und hätte gern eine Kirche gehabt, die über „Betroffenheitsgestammel“ hinaus (seine Wortschöpfung) sich durch Taten wieder ehrlich macht. Doch niemand raffte sich auf, den ehemaligen Heimkindern die Angst zu nehmen, wieder in ein Heim, nun Alten- oder Pflegeheim zu kommen, sondern durch Assistenzleistungen in vertrauter und nicht fremdbestimmter Umgebung bleiben zu können.
Durch seinen frühen Tod blieb er davor bewahrt.
Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung. Als die erste Homepage der Volmarsteiner Heimkinder[4] „voll“ war, wies ein Eintrag auf die zweite hin[5] (inzwischen sind es drei[6]): »Diese „alte” Homepage bleibt im Netz. Sie ist ein Dokument der Zeit. Sie dient der Forschung und Mahnung. Freie Arbeitsgruppe JHH 2006« Die Daten der ersten Homepage wurden der Veröffentlichung über Volmarstein[7] als CD beigelegt. Helmut Jacob wollte nicht, dass die Erinnerung an die Demütigungen, Misshandlungen und den sexuellen Missbrauch verschwinden, auch nicht die Verweigerung von Bildung. Seine Texte im Internet sind das würdige Denkmal für diesen unerschrockenen, einsatzbereiten Menschen, für Helmut Jacob.
Fußnoten
[1] http://jacobsmeinung.over-blog.com/2017/10/lisa-p.ist-tot-mein-personlicher-nachruf.html
[2] https://www.wp.de/staedte/herdecke-wetter/stimme-der-geschlagenen-kinder-aus-volmarstein-id11882715.html
[3] So bat er mich regelmäßig um einen Weihnachtsgruß an seine Volmarsteiner Gruppe. Hier der von 2016: https://dierkschaefer.wordpress.com/2016/12/08/weihnachten-eine-illusion-ein-weihnachtsgruss-fuer-kirchengeschaedigte/
[4] http://www.gewalt-im-jhh.de/
[5] http://www.gewalt-im-jhh.de/hp2/index.html
[6] http://www.gewalt-im-jhh.de/hp3/index.html
[7] Rezension: https://dierkschaefer.wordpress.com/2010/03/21/im-herzen-der-finsternis/
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